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2. An meine Mutter
Konstantinopel, September 7, 1843
Da bin ich! Herzensmama, da bin ich! Heute morgen um elf Uhr fiel unser Anker im goldenen Horn. Die volle Schönheit des Bosporus umgibt mich, und mir scheint als gebühre ihr der goldne Apfel. Jetzt in den stillen Mondabend hinaus zu schauen, das ist wie ein Traum, den eine freundliche Fee mir geschenkt haben könnte. Im bläulichen Duft schwimmen die weichen Kuppeln der Moscheen, die zarten Minarette, die stillen Zypressenhaine – alles was sich über die Täler erhebt und von den Hügeln abzeichnet; denn hier gibt es in der Stadt selbst Berg und Tal. Nacht schwebt über der Tiefe; aber sie wird erheitert durch die zahllose Menge von Lichtern, die aus all den winzig kleinen Häusern auftauchen, welche meinem europäischen Auge zwerghaft wie Kartenhäuser vorkommen. Aus dem Hafen tönt noch dumpfes Geräusch bis zu mir herauf, und ab und an bellt ein Hund. Letzteres gehört eigentlich nicht in den Zaubertraum, aber es gehört zu Konstantinopel. Nun bin ich da; das ist die Hauptsache. Hergekommen bin ich elend. Das ganze Schiff voll Türken, Juden und Wanzen! Eine charmante Reisegesellschaft, nicht wahr? und doch, die dritte Sorte der Passagiere abgerechnet, eine ganz unterhaltende; denn jetzt, liebe Mutter, sind nicht bloß die Kleider und Physiognomien neu, sondern die Sitten und Gebräuche sind's, und folglich sind es auch die Ideen – denn aus diesen entspringen jene. Das Verdeck unseres äußerst unsauberen und schlecht gehaltenen Dampfschiffes »Ferdinand«, das sich am vierten zu Mittag in Bewegung setzte, war fast ganz von jenen Reisenden eingenommen; indessen schied sie doch eine Schranke von dem geringen Raum des ersten Platzes. Diese Leute kamen mit Sack und Pack, suchten sich ihr Plätzchen, breiteten eine Matte aus; darüber einen Teppich oder eine Matratze, eine Decke dazu, zogen die Schuhe aus und kauerten sich nieder. Wassermelonen, ein Wassergefäß, Brot und Käse und die geliebte Tabakspfeife, kurz ihre ganze Haushaltung umgab sie, und da ein türkischer Kaffeewirt permanent in einer Kabine des »Ferdinand« residiert, so fehlte ihnen nichts zu ihrer Behaglichkeit, denn der Bewegung bedürfen sie nicht. Ihre Regungslosigkeit kam ihnen sehr zu statten, denn aufstehen konnten sie freilich, aber zu Promenaden gab es keinen Raum. Mir, ich gestehe es, ist diese Regungslosigkeit ganz unsäglich zuwider, sobald sie nicht aus einer Herrschaft der Intelligenz über den Körper entspringt. In Momenten tiefster geistiger Arbeit ist der Leib zuweilen wie paralysiert; das begreift sich. Aber Leute, denen die Welt der Ideen hermetisch verschlossen ist, erscheinen mir stupid und mitnichten würdevoll – wie man das so oft hört – Wenn sie wie Porzellanpuppen auf unseren Kaminen dasitzen und dampfen. Rauchen wäre doch eine selbsttätige Bewegung! wer eine Zigarre geschickt raucht, sieht gar nicht übel aus; er nimmt sie, er wirft sie fort, er ist nicht ihr Sklav, er raucht sie eben zu seinem Vergnügen; aber die hat man hier nicht, nur Pfeifen – Pfeifen so lang wie der Mann, mit ganz kleinen roten Tonköpfen und einem dicken Mundstück von Bernstein, das ihnen so plump wie eine Blase vor den Lippen liegt – Pfeifen, deren Köpfe auf kleinen Tellern vor dem Mann auf der Erde ruhen, so daß er hinter sie gebannt ist; denn wo soll er hin mit der ganzen Veranstaltung? – Kurz, Pfeifen die ihn zu einer Dampfmaschine machen. Ich bin überzeugt, daß das ewige Qualmen den türkischen Charakter deterioriert hat. Zum Stabilen mag er sich immer geneigt haben; der Tabak hat ihn stagnierend gemacht. Als er in den ernsten Jahren des siebzehnten Jahrhunderts in Konstantinopel eingeführt wurde, verboten ihn die Sultane unter Androhung der härtesten Strafen. Umsonst! Der Gebrauch wucherte ins Unglaubliche. Nun ist der Türke ein Sklav seiner Pfeife, und dampfen ist das Geschäft, der Genuß, der Zweck seines Lebens. Da saß einer mit einem grünen Shawl um den Turban; nicht die Wimper verzog er, stundenlang! Die grüne Farbe durften sonst nur die tragen, welche zur Familie des Propheten gehörten, jetzt aber alle, welche die Pilgerfahrt nach Mekka gemacht haben.
Das Gebet habe ich nur von einem Türken verrichten sehen, von dem Kaffeewirt. Er überschritt plötzlich die Schranken zum ersten Platz, weil da etwas freier Raum war, ließ die Pantoffeln stehen, stellte sich mit dem Gesicht nach Südost, Mekka zugewendet, und vollzog sein Gebet, bei dem ich die unglaubliche Geschmeidigkeit seiner Glieder sehr bewunderte. Denn es handelt sich hier nicht um einmaliges Niederknien; sondern nach vorschriftsmäßigen Pausen, die er durch stummes Gebet füllt, muß er auf beide Knie und beide Hände sinken und den Boden mit der Stirn berühren, und sich dann leicht und leise wieder erheben. Wie schwierig ist es diese Bewegung schnell und geschickt zu machen! Er machte es außerordentlich. Am Schluß des Gebets muß der Mohammedaner mit der Hand über das Antlitz fahren, damit aus demselben jeder Zug von Scheinheiligkeit verbannt werde; ist das nicht hübsch? und endlich eine Verbeugung gegen die beiden Engel machen, welche neben dem Betenden stehen. Mein Kaffeewirt tat es pünktlich. Aber die beiden Engel neben jedem Betenden sind doch ein liebliches Symbol, nicht wahr? – Auch das Morgengebet der Hebräer beobachtete ich, hauptsächlich bei einem Alten, der trotz seines schneeweißen Bartes entsetzlich unehrwürdig aussah. Eine schwarze Kapsel, die zehn Gebote enthaltend, befestigte er mit einem ledernen Riemen um sein greises Haupt, schlang das Ende desselben um die Finger der linken Hand, warf eine schwarz und weiß gestreifte wollene Decke über den Kopf, setzte eine Brille auf, und begann eifrig in einem Buch zu lesen, wobei er die Lippen schweigend aber heftig bewegte. Nach vollendetem Gebet, verwahrte er diese Dinge sorgfältig, nachdem er jedes andächtig geküßt. – Wenn man das so in der Nähe sieht, fragt man sich wie es möglich ist, sich um dieser Formen willen zu hassen oder zu verachten, da ja alle dem Grundgedanken entsprungen sind die Seele reiner und höher zu stimmen. Aber allerdings fragt man sich auch, ob denn eine Form besser sei als die andere. Kniet nicht der Katholik wie der Mohammedaner? Liest nicht der Protestant wie der Hebräer? Ist nicht die Kniebeugung wie Gebet- oder Gesangsbuch Ausdruck der nämlichen Andacht, dem nämlichen Gott zugewendet? Wir können wohl finden, daß eine Form mehr als die andre grade unserer eigentümlichen Innerlichkeit entspricht, und daher für uns die wahre ist, allein ob sie vor Gott die einzigwahre, ist doch wohl mehr wie zweifelhaft. Ich glaube, daß Reisen und Aufenthalt zwischen fremden Völkern der Orthodoxie nicht sehr förderlich sein mögen, und es ist dabei nur das unendlich traurig, daß immerfort die Orthodoxie, die Rechtgläubigkeit nach menschlichen Gesetzen, mit dem Glauben verwechselt wird, der eine Fähigkeit ist welche nicht vom Gesetz abhängt, sondern von Schwung und Richtung der Seele.
Ein Türke war mit seiner Frau und zwei Kindern an Bord. Wenig Europäer würden solche Aufmerksamkeit für ihre Familie haben wie dieser Mann. Jeden Augenblick erhob er sich trotz seiner Pfeife, und sorgte für sie. Die Frau war in einen dunklen Mantel und einen weißen Schleier vermummt, denn es wäre ja entsetzlich unanständig vor fremden Männern das Gesicht zu zeigen! Da man aber keine Strümpfe trägt, und da die weiten Pantalons nur bis zur Hälfte des Beins höchstens herabreichen: so präsentiert sich dieses mit einer Unbefangenheit, die wiederum bei uns entsetzlich unanständig wäre. Wenn sie gehen, tragen die Türkinnen gelbe Pantoffeln; so wie sie sich setzen, ziehen sie sie aus. Gehen sie auf der Straße, so ziehen sie erst gelbe Männerstiefel und darüber die Pantoffeln an: beides von Saffian. Man kann sich aber vorstellen, was für plumpe Füße und welch ein ungeschickter Gang daraus entspringen.
Mit dieser bunten Gesellschaft fuhren wir am vierten mittags endlich ab. Eine Stunde vor Gallacz macht die Einmündung des Sereth in die Donau die Grenze zwischen der Wallachei und der Moldau; eine Stunde nach Gallacz der Pruth die zwischen der Moldau und Bessarabien, so daß das linke Ufer sehr bald russisch war. Die Dörfer und die Militärposten sahen jetzt doch menschlich aus, aber die Ufer blieben morastig und schilfig, und hauptsächlich von Pelikanen und Fischreihern bewohnt. Um fünf Uhr hatte die Freude des Vorwärtskommens schon wieder ein Ende, bei Tultscha wurde geankert, damit die Einfahrt ins schwarze Meer bei Tage geschehen möge – der zahlreichen Sandbänke wegen.
Jetzt überhüpfe ich zwei Tage. Wir hatten 24 Stunden Sturm, und Wellen und Regen überstürzten das Verdeck und die armen Türken so heftig, daß das Wasser in die unteren Räume hineintropfte. Es war gräßlich! Aber in der letzten Nacht hatten wir Ruhe, man wurde wieder gesund und munter, und heute früh um neun Uhr hatten wir das ungastliche schwarze Meer hinter uns, und liefen erwartungsvoll in den Bosporus ein. Der Bosporus! Das ist auch eine von den Lieblingsstätten der Weltgeschichte, wo sie in vergängliches Material unvergängliche Erinnerungen grabt. Hier zog Jason mit seinen Argonauten um das goldene Vlies in Colchis zu erobern, hier Gottfried von Bouillon mit seinen Kreuzfahrern um das heilige Grab zu befreien; hier Mohammed der Eroberer mit seinen kriegsbegierigen Scharen um den griechischen Kaiserthron durch den Halbmond zu vernichten. Eine Zauberin geleitete Jason, der alle Künste und alle Machte zu Gebot standen und doch nicht das eine Entscheidende: Medea wurde nicht geliebt. Ein Engel geleitete Gottfried, der ihm das Herz beschirmte und die Seele in Demut hielt, so daß er sich begnügte das Seine zu tun, das heilige Grab zu erobern, und nichts dafür zu wollen, als die Wonne des Bewußtseins. Ein finsterer Genius geleitete Mohammed, einer von denen wie sie an den Marksteinen der Epochen stehen: über die untergehende eine harte Geißel schwingend und der beginnenden ein ernstes Beispiel gebend – eine Lehre, welche übrigens die osmanische Epoche in Byzanz nicht verstanden hat. Und so walten und weben geheimnisvolle Mächte um alle ungewöhnlichen Erscheinungen in der Geschichte der Menschheit, und Heil der, von welcher der Engel nie wich. – Das waren bestimmte Gestalten und Zeiten, die mir von diesen Bergen, aus diesen Wassern entgegen traten. Außerdem – welch ein Gewühl! Heere, Flotten, Völker! Griechen und Perser, Genueser und Osmanen, alle im Kampf miteinander, alle ringend um die Güter des Lebens, um die Herrschaft der Welt, die Güter mit Blut befleckend und die Herrschaft mit Tyrannei, lange danach strebend, flüchtig sie genießend, – und dann hinabgezogen in den großen unwiderstehlichen Strudel der Vergänglichkeit, aus der hie und da nichts auftaucht als die Ruine eines Namens oder einer Tat. Aber diese Ruinen sind hier großartiger als die zu Palmyra oder Karnak sein können! Die ganze altgriechische Götterwelt ist hier gestürzt, grade hier wo sie ihre herrlichsten Tempel hatte, und von ihnen allen lebt nur noch Prometheus – doch in anderer Gestalt.
Wo einst jene Tempel, Haine und Altäre prangten, ist jetzt Bergesöde: der Eintritt in den Bosporus ist sehr ernst. Fortifikationen, Leuchttürme, Ruinen alter Schlösser bezeichnen ihn. Orient und Okzident stehen sich beim ersten Schritt nicht friedlich und freundlich gegenüber. Sie scheinen sich zu messen, wer der Herr und Herrscher sein solle. Der Orient spricht: »Du wärest tot ohne mich! Das Prinzip alles Lebens: das Licht – der Keim jeder Gesittung: die Religionen gehen von mir aus, wie der Sonnenstrahl.« – Und der Okzident spricht: »Ich aber habe das Prinzip verarbeitet, den Keim zur Blüte gebracht. Du bist tot wie die Blume, welche dahinwelkt nachdem sie ihren Samen gestreut hat. Ich lebe, denn in mir ist Bewegung.« Allmählich gleicht die begütigende Natur die Feindseligkeit aus. Sie spricht: »O ihr Toren! Fiel nicht im Orient Ilion? Fiel nicht im Okzident Byzanz? Solchen Zeugen gegenüber streitet ihr euch um vergängliche Herrschaft! O ihr Toren, Gott allein ist der Herr und mir hat er seine allwaltende Macht eingehaucht.« – Und nun beginnt sie diese Macht in wundervoller Lieblichkeit zu entfalten, und eine Pracht der Bebaumung zu zeigen, die an einer südlichen Küste etwas ganz Einziges, und ohne Gleichen in Spanien, Sizilien, Italien ist. Bei Bujúkderé beginnt hauptsächlich diese grüne Herrlichkeit. In schweren, vollen Massen steigen Platanen, immergrüne Eichen, Pinien, Zypressen, auch Nuß- und Kastanienbäume von den Abhängen der Berge bis zu der blauen Flut hinab; – stehen in Gruppen auf einzelnen überragenden Höhen; – mischen sich in den Gärten mit Feigen- und Lorbeer-, mit Granaten- und Zitronenbäumen; – füllen die aufsteigenden Schluchten wie mit grünen Wellen; – und bringen eine Frische, einen Schatten, eine Ruhe in die Landschaft, die ein köstliches Gegengewicht bilden zu der bewegten Flut, welche im heißen Sonnenstrahl Flammen zu reverberieren scheint, und zu der zahllosen Menge von Dörfern, Ortschaften, Landhäusern, die sich ununterbrochen, immer größer, immer gedrängter bis Konstantinopel fortziehen. Dort hat der Glanz in der Spitze des Serais seinen Kulminationspunkt: eine Isola bella im großen Stil – im Stil des Orients.