Ida Gräfin Hahn-Hahn
Maria Regina. Zweiter Band
Ida Gräfin Hahn-Hahn

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Der letzte Windecker.

Im Koliseum am Fuß des Kreuzes saß Uriel. Der glühende Sonnenuntergang tauchte den rötlichen Travertinstein der Riesenruine in flammendes Rot. Sie sah aus wie in Blut gebadet. Die stillen, dunkeln, unbeweglichen Cypressen – diese Bäume der Trauer und der Gräber – schauten von Monte Cölio, durch die gebrochenen Arcaden des Koliseums melancholisch in die Arena hinein und auf den stillen Kämpfer, der dort in den Tiefen seines Herzens eine Geisterschlacht bestand. Auf dieser Stätte verhauchte der heil. Ignatius Bischof von Antiochien, unter den Zähnen der Löwen seine Seele; der heilige Greis, der diejenigen, die ihn retten wollten, anflehte: »Laßt mich ein Nachfolger der Leiden meines Gottes sein!« Zu dieser Stätte und mit diesen Worten hatte Levin Uriel gesendet, und Uriel betrachtete sie als ein Vermächtnis des seligen Greises, der ihn so sehr geliebt und so gut gekannt hatte. Sollte er es nun im vollen Umfang annehmen? das war sein Kampf. Der Zug der Seele, die innere Stimme, das Verlangen des Geistes trieben ihn dazu an; aber die Natur wehrte sich. Der himmlische Mensch sehnte sich nach der unbegrenzten Hingebung an das vollkommenste Opferleben unter den evangelischen Räten; der irdische Mensch entsetzte sich vor einem solchen Opfer. Die furchtbaren Erschütterungen der letzten Zeit, verbunden mit diesem inneren Kampf, prägten sich durch den Ausdruck tiefen Leidens in seinen Zügen aus. Mit geschlossenen Augen, die bleiche Stirn in die Hand gestützt, saß er am Fuß des Kreuzes – dieses wunderbaren, armseligen, hölzernen Kreuzes, welches als eine Reliquie von Golgatha, in seiner Unscheinbarkeit das ganze Koliseum überragt. Wie in inneren Gesichten zogen Bilder auf Bilder durch Uriels Seele. Er sah die geheimnisvollen Gnadenströme, welche vom Kreuz ausgehen; er sah die Gottestaten, welche in den Menschenschicksalen still sich erfüllen: er sah aber auch den Widerstand des Menschen gegen Gnade und Heil und wie gerade in seiner Familie die Gegensätze so schroff auseinander gingen. Über ein halbes Jahrhundert war der gottselige Priester, Onkel Levin, der geistige Mittelpunkt der Familie, der Ruhepfeiler des Hauses gewesen, aus dessen Fülle sie alle schöpfen, von dessen Reichtum sie alle zehren, an dessen Kraft sie alle sich lehnen konnten. Er war so recht der Priester, den Gott der Welt gibt als seinen »Helfer und Mitarbeiter«, wie der Apostel Paulus sagt, und der kein anderes Streben kennt, als die Welt geheiligt an Gott zurückzugeben. Die einen entsprachen seinem Streben; die andern nicht. Zu glänzender Blüte entfaltet sich in Regina Gnade und geheiligter Wille, Gottestat und eigene Mitwirkung. Ihr Einfluß zog die ganze Familie, jeden in seiner Art, zum Gnadenleben, zur Liebe der himmlischen Dinge hin: sie brachte Hyazinth zum Entschluß – vielleicht zum Bewußtsein über seinen Beruf. Sie sänftigte ihren Vater aus dem starren Widerspruch der Selbstsucht in das Opfer seines Lieblingswunsches hinein. Sie warf in Corona's junge Seele ein strahlendes Beispiel, wie man die Welt überwindet. Sie übte auf Uriel selbst einen so überwältigenden Einfluß, daß er auf dem Punkt stand, die Wege der vollkommenen Entsagung einzuschlagen und von allen Gütern des Daseins nichts zu wählen, als das Leiden aus Liebe, als den Dienst Gottes im unbedingten Opfer. Und zu dieser himmlischen Macht hatte sie sich erschwungen unter einer Flut von Mißbilligung und Widerspruch. Die Familie und die Welt hatten nur Tadel für ihre Neigung und ihren Schritt. Kein Lob, keine Ermunterung wurde ihr zu Teil. Niemand erleichterte ihr Opfer; Jeder erschwerte es; aber allen wurde es zur Gnade. Nicht umsonst war ihr Wahlspruch: »Solo Dios basta.« – – Und dieser Tochter Gottes gegenüber stand Orest unter der Signatur des natürlichen Lebens, verloren an das Irdische, geknechtet von Leidenschaft unerweckbar aus dem Opiumrausch und dem schweren Schlaf der Sünde, bis zu jener furchtbaren Katastrophe, die seine zügellose innere Verwilderung herbeiführte. Taub gegen die Stimme der Vernunft, der Pflicht, der sittlichen Würde, der Religion, überließ ihn Gott den Gelüsten seines Herzens – und als er sich ihnen mit voller Entschiedenheit und bis zur Verachtung der heiligsten Schranke hingab: da stürzte er in den Abgrund und riß all' die Seinen in ein Meer von Schmerz hinein. Gegen den Willen Gottes hatte er sich empört: da verfiel er, auf Zulassung Gottes, dem Verhängnis, das mit eigener und fremder Leidenschaft ihn umspann. Die Welt, die für eine Regina nur bittern Tadel oder ein verächtliches Achselzucken kannte, hatte für Orest kaum einen Anflug von Mißbilligung, und hätte sie Reginas Ende gekannt und mit Orests verglichen, so würde sie ohne Zweifel seinen Tod, als ein höchst tragisches Opfer der Leidenschaft, unendlich viel interessanter gefunden haben, als ihren Opfertod der heiligen Liebe. Und dennoch bot der Gott, den Orest verachtete, ihm in seinen letzten Stunden die Versöhnung an – und das vor Selbstsucht erstarrte Herz, das höherer Einsprache unzugänglich war, mußte erst im Herzblut des Bruders schmelzen und zermalmt werden, bevor es sich in das Blut Gottes mit all seinem Elend und seiner späten Neue untertauchte.

O, das Opfer! das Opfer! sprach Uriel zu sich selbst – es ist allmächtig bei Gott. Es nimmt Teil am Kreuz, es nimmt Teil an der Rettung der Seelen, welche die Folge der Kreuzigung ist. O Herr! o gekreuzigter Heiland, laß mich Dir dienen! laß mich das Opfer meiner geliebten verklärten Seelen fortsetzen, zu Deiner Verherrlichung und laß mich zu meinem Heil Buße tun für meine Sünden und für den Armen, der hienieden nicht Buße tun konnte! O daß ich würdig Ware, ein Nachfolger der Leiden meines Gottes zu sein! –

Eine gute wohlbekannte Stimme weckte ihn aus seinem tiefen Sinnen. Pater Bonaventura hatte ihn schon einige Zeit mit ernster Teilnahme von fern beobachtet. Jetzt sagte er:

»Graf Uriel! Sie dürfen nicht in dieser Jahreszeit und zu dieser Stunde im Freien sitzen. Das ist sehr schädlich! der Abendtau fällt.«

»Und Sie, mein Pater, gehen barhaupt und barfuß durch Tau und Regen, durch Sonnenglut und Wintersturm,« entgegnete Uriel.

»Ah, ich! das ist etwas anderes!« sagte Pater Bonaventura, indem er sich zu Uriel setzte, während sein Gefährte die Stationen betete.

»Nun Sie! sind Sie nicht ein Mensch wie ich? und überdies .... schon recht bejahrt?«

»Mein heiliger Ordenshabit bringt das so mit sich. In meiner Kindheit bin ich ohnehin barhaupt und barfuß gelaufen! da ist es nicht schwer, diese Gewohnheit wieder anzunehmen. Und wäre es schwer, so hätte das auch nichts zu sagen! der Weg von Gethsemane nach Golgatha war dem göttlichen Heiland auch schwer.«

»Mein Pater, weshalb wurden Sie Kapuziner?«

»Um ein wenig Buße zu tun, Herr Graf.«

»Für fremde Sünden – nicht wahr?«

»Die Welt nennt nur Mord und Totschlag, Brandstiftung, Räuberei und was in diese Kategorie fällt – Sünde, und daß ein Mensch, ohne solche Verbrechen begangen zu haben, von der Erkenntnis seiner tiefen Sündhaftigkeit durchdrungen und von Schmerz ergriffen werde, die unendliche Liebe Gottes täglich und stündlich beleidigt zu haben – das faßt sie nicht. Sie denkt, daß hinter dem Bußgeist entweder große Missetaten, oder der Drang stecken müsse, für andere genug zu tun. Hat mich nun zwar Gottes Gnade davor bewahrt, ein Räuber oder Mörder, ein Spieler oder Trunkenbold zu sein: so versichere ich Sie, daß ich dennoch schwer genug an meinem Päckchen Sünden trage. Als der heilige Vater aus Gaeta zurückkehrte, verließ ich meine Heimat und meine Familie und ging nach Rom – für das der Maler und der Katholik stets eine Vorliebe hat. Die Erlebnisse der Revolutionsjahre waren derart, daß ich sie nicht vergessen konnte. Was war der letzte Grund dieser Revolutionen? Jeder suchte seinen Willen durchzusetzen; keiner dachte daran, den Willen Gottes zu tun. Jeder betrachtete die Welt als sein ihm gebührendes Opfer; keiner wollte Opfer bringen. Diese Erkenntnis führte mich in mich selbst zurück und ich suchte in mir nach Opfern, die ich Gott zulieb gebracht haben könnte. Ganz ängstlich suchte ich .... und es schien mir auch wohl, als hätte ich dies und das und jenes zum Opfer gebracht und in die durchwundeten Hände meines Heilandes gelegt; nur war das alles so entsetzlich gering! Woran ich aus ganzer Seele hing und was ich liebte wie mein Leben – das hatte ich ganz still für mich behalten. Das war nicht Geld und nicht Gut, das war nicht Ruhm und nicht Sinnenlust: das war meine Unabhängigkeit, wie ich es nannte; meine Wanderlust, meine Freiheit, meine Ungebundenheit: zu kommen, zu gehen, nirgends gefesselt zu sein, durch die Welt zu ziehen, wie es mir gefiel. Ich durfte es tun! ich verletzte keine Pflicht dadurch! Aber es war nun einmal dies Licht von wegen des Opfers mir aufgesteckt .... und wo ich ging und stand, und was ich tat und trieb – eine Stimme sagte mir: Das ists, was du Gott zulieb opfern könntest! willst du nicht? willst du nicht? Da ging ich in mich und sprach zu mir selbst: Die Stimme kommt von Gott! so spricht nicht der Teufel, nicht die Welt, nicht Fleisch und Blut. Ich höre sie, ich verstehe sie, ich muß ihr folgen. Da ging ich zu den Kapuzinern am Platz Barberini und vor dem Bilde in ihrer Kirche, das der Erzmaler Raphael vom Erzengel Michael gemalt hat, flehte ich St. Michael an, der Führer meiner Seele zum Himmel zu sein – ging an die Klosterpforte und bat um Aufnahme als Laienbruder, denn an den heiligen Priesterstand dachte ich armer Priester nicht im Traum. Die Väter wollten mich aber auch gar nicht als Laienbruder aufnehmen, meinten, ich käme ein Vierteljahrhundert wenigstens! zu spät – und dies und das. Ich war jedoch Zeit meines Lebens eigensinnig und bat und betete so lange, bis man mich versuchsweise annahm. Nun hatte ich, was ich wollte – nämlich nichts mehr. Nun war ich froh und merkwürdigerweise! nun fühlte ich mich wundersam frei. Wie das Fischlein in seinem Element, schwamm ich im süßen, im angebeteten, im heiligsten Willen Gottes, indem ich meinen Oberen gehorchte und die heilige Ordensregel beobachtete. Nur einmal kam ein Choc – ein gewaltiger. Nicht des Ordens Laienbruder – sondern Priester sollt ich werden – ich Armseliger! Das grämte mich furchtbar. Ich dachte, ich würde dem Orden Schmach und Schande bereiten. Ich sträubte und wehrte mich – aber diesmal waren die Oberen noch eigensinniger als ich und ich mußte gehorchen. Nun, ich war ja Kapuziner geworden, um zu gehorchen und um im Opfer meines Willens – das ja immer eine Buße für die sündige Natur ist – die selige Freiheit von der Last meines Ichs zu finden; also ich gehorchte in Gottes Namen. Und so, Graf Uriel, treffen wir uns hier in Rom, bei mannigfachen Leiden in Ihrer Familie, die mir unvergeßlich geblieben ist – und am Fuß des Kreuzes.«

»Wir werden uns hoffentlich auch noch anderswo treffen, mein Pater,« sagte Uriel, »denn auch ich gedenke Kapuziner zu werden.«

»Unsinn!« rief Pater Bonaventura, »Sie – und Kapuziner! Sie – Graf, reich, hoch- und feingebildet, dazu der letzte Ihres Hauses ...« – »Gerade das ists!« rief Uriel, »der letzte des Hauses nimmt die ganze Erbschaft an. Aus Onkel Levins und Hyazinths Hand fällt der heilige Kelch mir zu, den der Priester mit dem Blute Gottes füllt, und aus Reginas Hand – die drei Nägel, wie sie sie nannte, die drei Rubinen der heiligen Ordensgelübde. Das ist ein himmlisches Erbe.«

»Aber Sie vergessen das irdische.«

»Gott Dank, dem hab' ich längst entsagt.«

»Vergessen, daß Ihre Familie mit Ihnen ausstirbt.«

»Mein Pater! was der Welt not tut, sind nicht große und hochklingende Namen, sondern es ist die Bekehrung jedes einzelnen zu Gott, besiegelt durch sein Opfer.«

»Aber diese Opfer sind verschieden, Graf Uriel. Sie können sie auch auf Windeck bringen.«

»Jeder bringe sie nach seinem Maß und seiner Erkenntnis, mein Pater. Als Sie vorhin sagten, Ihre geliebte Unabhängigkeit hätten Sie ganz still für sich behalten, da sprach mein Gewissen: Das tue ich auch und in viel höherem Grade, denn ich verschleudere in Untätigkeit meine Tage, die Gott mir gegeben hat, um ihm zu dienen.«

»Dienen Sie ihm in der Welt, Graf Uriel.«

»Die Welt, mein Pater, ist so vermorscht und verwest, daß man bei jedem Schritt in ihrem Moder von Lüge und Sinnlichkeit versinkt und ihr nur dadurch helfen kann, daß man sich außerhalb ihrer Strömung hält, um die Schiffbrüchigen und die gefährlich Schwimmenden zu retten. Wenn sich der Masse, der abgefallenen Geister gegenüber nicht andere erheben, welche sich der Gnade in die Arme werfen und genau den entgegengesetzten Weg gehen, den die Welt geht – mit einem Worte: die es so machen wie Sie, mein Pater! was soll dann aus dem Christentum werden.«

»Ich bin nicht der letzte Windecker, Graf Uriel! soll der im Kapuzinerhabit verschwinden?«

»Mein Pater, die Scipionen, die Flavier, die Ämilier – das waren ganz andere Namen! und sie verschwinden mit dem Christentum in dem Schatten des Kreuzes.«

»Werden Sie lieber Jesuit! Sie sind so fein gebildet.«

»Der Weltgeist haßt den Jesuiten. Im Haß liegt ein Etwas, das meiner Eigenliebe schmeicheln könnte. Der Weltgeist verachtet den Kapuziner: Verachtung kann ich nur durch Gottes Gnade ertragen – und da ich leben und weben will nach der Ordnung der Gnade, so werde ich Kapuziner.«

»Oho! Graf Uriel, Sie scheinen ja schon alles recht gründlich überlegt zu haben.«

»Und kam doch nicht zum Entschluß .... als hier auf der Stätte der Martyrer, deren Blut auch für mich geflossen ist und mich zur Nachfolge einladet.«

»Amen,« sagte Pater Bonaventura.


Es sind jetzt vier Jahre seit diesen Begebenheiten vergangen. Judith ist in die Kongregation von Unserer Lieben Frau zu Sion eingetreten. Sie heißt Schwester Thais. Sie verzehrt sich im Dienst der Seelen, ganz Hingebung, Demut, Opferfreude. Aber nie hat man sie lächeln sehen und die Blässe des Todes weicht nie von ihrem Antlitz: sie wandelt zwischen zwei Leichen.

Uriel hat sein Noviziat und seine theologischen Studien in Rom gemacht, und ist dann zur Mission der Kapuziner nach Amerika gegangen.

Für Florentin, der sein jammervolles Leben fortführt, heißt es noch immer: Gottes Mühlen mahlen langsam, langsam, aber trefflich fein. Er ist der sinkenden Welt so ganz hingegeben, wie jene der aufsteigenden.

Zu Windeck lebt Corona bei ihrem Vater. Auf die Stätte, die ihrem kindlichen Auge als die schönste der Erde erschien, hat der Ratschluß Gottes sie zurückgeführt. Ihr milder Einfluß und die herben Prüfungen der Vergangenheit haben Graf Damians Herz der Welt abgerungen. Das schönste Verhältnis besteht zwischen ihm und seiner Tochter, und breitet sich segensreich über all seine Umgebungen aus. Auf der Terrasse des Schlosses spielt ein fröhliches, weißgekleidetes Kind von sieben Jahren, der Trost seiner Augen und die Freude seines Herzens – Felicitas, die Erbin des ganzen Vermögens der Windecker. Corona erzieht sie so, daß sie ihrer Namenspatronin Ehre mache und in deren Sinn. Als man die heilige Felicitas zum Kampf mit den wilden Tieren ln die Arena führte, fragte man sie, höhnisch auf ihren Namen anspielend: Wo ist nun dein Glück? Sie aber antwortete:

»Nicht hienieden.«


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