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Judith hatte an Lelio sagen lassen, sie wünsche am Nachmittag die Katakomben von St. Sebastian in seiner Begleitung zu besuchen und sie werde ihn abholen. Um zwei Uhr empfahlen sich die Leute, dir bei ihr waren, und ihr Wagen fuhr in die Einfahrt an die Treppe. Als sie mit Madame Miranes hinabgehen wollte, stürzte Orest ihr aus Florentins Zimmer leichenblaß und aufgeregt entgegen und rief:
»Wohin, Judith? .... wohin?«
»Nach den Katakomben. Wollen Sie uns nicht begleiten?« erwiderte Judith.
»Nein, ich danke Ihnen! ich kann nicht! aber wann kommen Sie wieder?«
»Gegen sechs Uhr, zur Eßstunde.«
»Gut!« sagte er und trat in Florentins Zimmer zurück.
»Was fehlt dem Grafen Orestes? er sieht zum Erschrecken aus,« sagte Madame Miranes.
»O! er ist sehr zu beklagen! seufzte Judith.
Da Madame Miranes die unterirdischen Expeditionen, wie sie sie nannte, und den Qualm der Pechfackeln verabscheute, so ließ sie sich von ihrer Tochter zu einer Bekannten bringen, so daß Judith zu ihrer größten Freude mit Lelio allein war und ihm ungestört alle? mitteilen konnte, was seit gestern ihr begegnet war und was sie unwiderstehlich zum Entschluß drängte.
»Hab' ichs Ihnen nicht prophezeit!« rief er frohlockend; »durch das Auge der Welt erkennen Sie die göttliche Wahrheit.«
»Ja,« sagte Judith mit einem Anflug von Traurigkeit, der noch der gefallenen Natur angehörte; »ja, die Erkenntnis des Göttlichen erheischt Bekenntnis. Kein edles Herz verleugnet seine heiligsten Überzeugungen ... denn kein edles Herz lügt. Aber Lelio, es kostet mich mein Erdenglück. Ich spreche das nicht gegen Graf Orestes aus, denn er würde darauf fußen, um mich zu bestürmen – und das ist vergeblich, also vermeid' ich es. Aber ich gestehe es, ich hab' mich so daran gewöhnt, in ihm ein treues, zärtliches Herz zu besitzen und in der Verbindung mit ihm die Befriedigung meiner Ansprüche an das Leben zu erhoffen, daß mir vor dem Schutthaufen graut, in den die Erkenntnis der göttlichen Offenbarung mein Schicksal verwandelt. Mir ist zu Sinn, als habe ein Wetterstrahl einen hohen festen Turm zu Boden geschmettert.«
»Den stolzen Turm irdisch-selbstischen Glückes; ja, Signora, das ist ganz richtig und das zeigt uns an, daß wir ein anderes Glücksgebäude aufführen sollen, als ein solches, welches zusammenbricht, wenn die Wahrheit in unseren schwülen Horizont hinein wetterleuchtet. Den irdischen Schmerz werden Sie mit Ihrem kräftigen, unter dem Kreuz sich heiligenden Herzen tapfer durchkämpfen und in diesem Kampf zu der beseligenden Gewißheit gelangen, daß Befriedigung des Herzens ohne Sünde, und Befriedigung der Vernunft ohne Irrtum hienieden nirgends als in der christlichen Kirche gefunden werden kann. In dem Kampf stehen Sie nicht allein! er ist keine Ausnahme; er ist allgemein gültiges Gesetz. Millionen vor Ihnen, neben Ihnen, nach Ihnen bestehen ihn. Darum heißt die Kirche auf Erden: die streitende. Sie streitet nicht bloß im allgemeinen gegen den Geist des Irrtums, der Sünde und Verkehrtheit auf jedem Gebiet der menschlichen Vergesellschaftung, sondern jedes ihrer Kinder hat diesen Streit für seine Person, oft bis aufs Blut, immer bis aufs Mark, fortzusetzen .... sobald es nicht dem Siegespreis entsagt. Dieser Streit entwickelt heroische Tugenden, bildet heroische Seelen, christliche Seelen, die mit Christus die Welt überwinden, weil Christus in ihnen lebt, mit seinem Fleisch, mit seinem Blut, und ihnen seine göttliche Natur mitgeteilt hat, indem er die menschliche Natur annahm. Teure Judith, es ist nicht der Mühe wert, das Leben zu durchkämpfen, wenn es auch nur wäre, um die Wonne zu kennen, daß wir uns nicht auf uns selbst, sondern auf unseren göttlichen Kampfgenossen zu verlassen haben? O Judith! die Menschen wollen immer so hoch hinaus und wollen immer die ganze Welt zu ihren Füßen sehen; und auch Sie wollten es. O, wenn doch die Menschen die wahre Erkenntnis ihrer Hoheit und das Bewußtsein ihres göttlichen Geschlechtes hätten, dann würden sie in Wahrheit die Welt zu ihren Füßen – nämlich als etwas so geringes sehen, daß ihre Freuden nicht eines Lächelns – ihre Schmerzen nicht eine Träne wert sind. So haben es auch die Märtyrer verstanden, die in den Katakomben ruhen. Sie waren meistens im Heidentum aufgewachsen, oft in den glücklichsten, glänzendsten Verhältnissen. Da rührte die Gnade ihr Herz an, sie erkannten die Wahrheit, sie legten ihr Zeugnis für sie ab; und wo? auf der Folterbank, auf dem Scheiterhaufen, vor den wilden Tieren. So stark waren sie in dem Gott, an den sie glaubten, auf den sie hofften, den sie liebten.«
»Ach Lelio!« rief Judith, »mir kommt die Welt zuweilen wie eine Arena voll wilder Tiere vor und gewiß hat die christliche Seele in ihr manches Martyrium zu bestehen, das der Siegespalme würdig ist.«
»Gott Dank dafür!« sagte Lelio. »Es wäre ja sehr traurig, wenn uns die Märtyrer nichts übrig gelassen hätten.«
Dann teilte er ihr mit, was Hyazinth und Corona hinsichtlich der Tauffeierlichkeit abgemacht hatten, und setzte hinzu, er werde sie in der Frühe nm vier Uhr abholen.
»Aber heimlich! aber in aller Stille!« sprach Judith. »Ich weiß nicht warum – allein ich schwebe in zitternder Angst, daß Graf Orest auf den Einfall kommen könnte, meine Taufe zu hindern – mich gewaltsam fortzuschleppen.«
»Solche Ängste hat man immer, wenn man der Erfüllung eines großen Glückes, eines heißersehnten Wunsches nahe ist,« erwiderte Lelio beruhigend. »Das Menschenherz weiß instinktmäßig, daß das Glück auf Erden äußerst flüchtig ist; da fürchtet es denn leer auszugehen.«
»Nein,« entgegnete Judith, »Meine Angst entspringt aus Angst um Orest. Er sieht das Sündhafte unseres Verhältnisses nicht ein; er fühlt sich tätlich verletzt und bei seiner unbezähmbaren Leidenschaftlichkeit liegt es nahe, Rache nehmen zu wollen. Möge sie mich treffen .... aber als Christin.«
»Ah! Sie möchten auch Martyrin werden und wegen Ihres freudigen Glaubensbekenntnisses Verfolgung und Tod zu leiden haben!« rief Lelio heiter. »Seien Sie getrost, Judith: das Leid wird Ihnen nicht fehlen! dies prophezeie ich abermals und mit großer Sicherheit. Machen wir ernst mit Gott: so macht er ernst mit uns. In dem Maß, wie wir ihn lieben, legt er uns Kreuze auf.«
»Und meine Natur hat einen solchen Abscheu gegen das Leid!« rief sie.
»Art der Natur überhaupt,« entgegnete Lelio gelassen, »und bleibt auch ihre Art. Der heilige Johannes Chrysostomus bezeugt es, indem er schreibt: Die Gnade ändert nicht unsere Natur, wohl aber unseren bösen Willen; er will Ihnen damit sagen: Die Gnade gibt dir die Kraft, Gott zu lieben und durch diese Liebe den Willen, das Kreuz – diesen Ausdruck für die Quintessenz jedes edlen Leidens – demütig anzunehmen.«
»Ich werde pünktlich um vier Uhr bereit sein,« sagte Judith; »aber Sie dürfen nicht vorfahren, sondern lassen den Wagen in einiger Entfernung auf dem Corso halten und kommen dann zu Fuß an die kleine Pforte, wo ich auf Sie warte.«
»Diese Heimlichkeit hat ja in der Tat etwas Ähnlichkeit mit jener Zeit, wo die heidnische Verfolgung wütete und wo die Christen sich zur Feier des heiligsten Meßopfers und zum Empfang der Sakramente bei nächtlicher Weile in den Katakomben versammelten, ja sogar zeitweise in ihnen lebten. Die Verfolger kannten weder die Ein- und Ausgänge dieses unterirdischen Labyrinthes, noch die Wege und Stege innerhalb desselben; und so wurden die Grabkammern der Toten zugleich die Wohnstätte der Lebenden. Mancher, der in den Katakomben das Bad der Wiedergeburt im Blut Jesu empfangen hatte, verließ sie nur, um in der Arena sein Blut für das Bekenntnis eines Glaubens zu verspritzen, dessen höchste Gnade, Vergebung der Sünden und Teilnahme am eucharistischen Opfer, ihm soeben geworden war.«
Sie durchwandelten die Katakomben, die sich unterhalb der Kirche von St. Sebastian befinden – diese dunkeln, kellerhaften, unregelmäßigen Gänge, die zuweilen eng und niedrig, zuweilen breit und hoch fortlaufen, und in deren Wände sich die zugemauerten Grabnischen der Christen befinden, welche diese unzugängliche Stätte zu ihrem Dom und zu ihrem Gottesacker machen mußten, weil die heidnische Welt sie nicht auf der Erde dulden wollte.
»Wie ist es möglich, an der göttlichen Stiftung der Kirche zu zweifeln, wenn man die Geschicke der ersten Jahrhunderte erwägt!« rief Judith, nachdem Lelio ihr Einzelheiten über die Grausamkeit der Verfolgung und die Standhaftigkeit der Martyrer mitgeteilt hatte. Was nur irgend zerstörend und auflösend wirkt: die Macht des Thrones, der Haß des Unglaubens, der Druck der Masse, die Verachtung der sogenannten Gebildeten – alles wälzt sich auf sie und zwar mit den gewalttätigsten und giftigsten Mitteln. Aber sie wich keiner Gewalt und jedes Gift schied sie aus – und mit demselben Glauben, mit dem sie in die Katakomben hineingegangen war, ging sie nach drei Jahrhunderten aus ihnen hervor. So etwas ist ohne die Leitung des heiligen Geistes und ohne die Gründung auf eine übernatürliche Basis ganz unmöglich. Mir däucht, es müßte sich jeder, der guten Willens ist und diese Geschicke bedenkt, zu ihr bekehren; denn nur in ihr ist er auch objektiv sicher, die Lehre zu besitzen, welche die ersten Christen geglaubt haben, weil ein Lehrgebäude, das aus übernatürlichem Felsen ruht und vom heiligen Geist in Unantastbarkeit erhalten wird, notwendig ein unfehlbares sein muß – und das Unfehlbare ist ewig unveränderlich; während es doch ganz unmöglich ist, von einem menschlichen Lehrsystem so etwas zu glauben oder zu behaupten. Ich finde diese Unveränderlichkeit der Lehre in einer veränderlichen Welt, deren Strömungen ja auch auf die menschlich-schwachen Glieder der sichtbaren Kirche nicht ohne Einfluß sind – etwas so Göttliches, ein solches Wunder über alle Wunder, eine solche Beglaubigung als himmlische Stiftung, daß ich eher Florentins rohe Negation aller göttlichen Offenbarung begreife, als Orests Vorschlag, eine Offenbarung außerhalb der katholischen Kirche anzunehmen. Jener sagt: es gibt keine objektive ewige Wahrheit, denn meine Sinne empfinden sie nicht, und mein Verstand verwirft sie. Gut! das ist der Ausdruck der gefallenen Natur in höchster Potenz, auf der äußersten Stufe der Brutalität. Aber Orest! welche Verwirrung des Verstandes und Verirrung der Vernunft, um die ewige Wahrheit irgendwo anders zu suchen oder zu glauben, als dort, wo der Weltheiland sie niedergelegt hat. Ach, Lelio! was wird aus Orest werden!«
»Gram um unsere irrenden Brüder – das ist katholisch, teure Judith,« entgegnete Lelio. »Den werden Sie nicht los bis zu Ihrem letzten Atemzug und umso weniger, je mehr Sie die Kirche als Wunder aller Wunder Gottes erkennen und in dem eucharistischen Christus, den sie liebend und anbetend im süßen hochheiligen Opfer auf ihren Altären hegt, die Besiegelung dieses Wunders umfassen. Die Kirche, die den eucharistischen Christus besitzt – ist die ewig lebende Stiftung der göttlichen Liebe, denn ihr Mittelpunkt ist sein ewig lebendiges, wahrhaft und wesenhaft gegenwärtiges Herz. Und weil sie das ist und das hat, so ist sie – und nur sie! für alle Zeiten der Welt ihrer Fortdauer gewiß und ihr – nur ihr! gehört die Zukunft an. Das wußten die alten todesfreudigen Martyrer. Der eucharistische Christus war der Nerv ihres Lebens, ihres Todes. Sie starben mit ihm für uns. Sie glaubten nicht im Stande zu sein, die namenlosen Schrecknisse der vervielfältigten Folterqualen aushalten zu können, wenn sie nicht zuvor mit ihm durch die heilige Kommunion sich vereinigt hatten. Daher wendeten die Anverwandten und die Priester alle Mittel an, die größten Geldsummen auf, um in den Kerkern, wo die Verurteilten schmachteten, das heilige Meßopfer zu feiern und ihnen den Leib des Herrn zu spenden. Und wir, Judith, wir ihre Nachfolger in der grausigen Arena der Welt, wie Sie sagen, wir sollen ja auch Martyrer am Herzen werden, indem wir ihm durch die Flammen der heiligen Liebe alles Ungöttliche und Irdische langsam, langsam, lebenslang ausbrennen lassen. Wir sind ja auch Gefangene im Kerker des Leibes, Verurteilte zum Tode, Verurteilte, die zuvor Meere von Trübsal und Drangsal durchschwimmen müssen und immer Kopf und Herz höher behalten müssen, als ihre Wellen und Fluten. Was gibt uns dazu den Nerv und den langen Atemzug? der eucharistische Christus! Er bevölkerte die alte Welt mit Martyrern und die späteren Tage mit Martyrern – immer mit der Art, die am meisten die Verherrlichung Gottes förderte. Und so wird es bleiben bis zum Ende der Zeiten; denn die heilige Liebe, Judith, ist ein Martertum und muß es sein, weil sie am Kreuz geboren ist und vom Herzen Jesu sich nährt.«
»Wie göttlich wird das Leben im Licht des Glaubens!« rief Judith entzückt. Ihr zusammengekrümmtes, staubumwölktes Herz erhob sich gerade und frisch vor der Gnadenluft, die vom göttlichen Opfer auf dem Altar sie anwehte. Jeder edle Instinkt ihrer Seele und jeder hohe Ausflug ihres Geistes fand Maß, Schwung, Ziel. »Ich habe,« fuhr sie fort, »nicht die leiseste Ahnung, wie sich mein ferneres Leben gestalten und auf welchem Punkt unseres Erdballs ich mein Zelt aufschlagen werde; ich muß brechen mit meinen Freunden und Freuden, mit meinen Beschäftigungen, ja, mit meinem Talent, damit ich tot für Orest sei; aber ich weiß eines: der gräßliche Druck ist von meinem Herzen genommen, unter dem ich erlag, der sich unter allen Formen und Gestalten auf mich wälzte, den Stempel des Todes auf alle Erscheinungen prägte und der in dem Gedanken liegt: ich finde nichts, was der Mühe des Lebens wert ist! Ich glaube, Lelio! und nun kann ich leben!«
Er fragte sie, ob sie gesonnen sei, den Vorschlag der Oberin anzunehmen und in Irinità dei Monti zu bleiben. Sie antwortete:
»O hätte ich jemand, der sich außerhalb all meiner tumultuarischen Verhältnisse befände und gleichsam von Oben herab in sie hineinblickte und zu mir spräche, wie von Oben herab: dem wollte ich folgen! Ich bin bis jetzt immer sehr schnell zu irgend einem Entschluß gekommen. Ich ging nur mit mir selbst zu Rat, und je nachdem eine Sache mir zusagte oder nicht, entschied ich mich für oder gegen sie. Allein wenn ich bedenke, wohin ich auf diese Weise geraten bin und daß unser höchstes Opfer darin besteht, unseren egoistischen Eigenwillen zu opfern: so sehne ich mich nach erleuchteten Ratschlägen, die mich über das Richtige und das Beste aufklären und denen ich vertrauend folgen dürfte.«
»So heiligt man sich!« erwiderte Lelio. »Ja, das Leben im Licht des Glaubens ist göttlich, Judith! doch nicht, weil es unserem Geist göttliche Geheimnisse zu betrachten gibt, nicht, weil es unser Herz durch göttliche Gefühle beflügelte; das alles ist Genuß, Heiligung nicht! sondern weil es uns gottähnlich machen und in all die Tugenden einführen soll, die der Gottmensch von Bethlehem bis Kalvaria geübt hat und die sich in dem einen Wort zusammendrängen: demütiger Gehorsam .... Gehorsam aus Liebe! Dies himmlische Wort will die Welt nicht verstehen. Das ist ihre Krankheit, ist die tiefe Wunde, an der sie ihre besten Kräfte verliert: sie will nicht gehorchen, keiner Autorität, keinem Gesetz. Der Grund, weshalb die heilige Kirche so viel Feinde und Gegner hat, ist freilich zuerst die Heiligkeit ihrer Lehre und ihre Bestimmung, die Seelen zur Heiligkeit zu führen: allein der nächste Grund ist: Abneigung gegen den Gehorsam, die in Folge einer verkehrten, auf materialistischen Grundsätzen beruhenden Erziehung, unsere Welt von oben bis unten zerwühlt und verstört. Die Kirche aber lehrt unermüdlich Ehrfurcht vor rechtmäßiger Autorität – und muß es tun, weil Christus es getan hat, als er sprach: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott was Gottes ist. Heutzutage hat weder Kaiser noch König den Mut, zu den Völkern zu sagen: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist. Die revolutionären Bewegungen, die seit einigen Generationen Europa erschüttern, und fort und fort vom Partei- und Faktionsgeist aufgestachelt und angespornt werden, haben eine solche Hefe von Unbotmäßigkeit in der Gesellschaft zurückgelassen, daß Kaiser und König nur mit vielen Umschweifen und unter mancherlei Schmeicheleien zu verstehen geben: die rechtmäßige Herrschaft sei zu respektieren – Schmeichelei, für welche sich der eine und andere durch Gewalttat, Heuchelei und Tyrannei zu entschädigen weiß. Immer müssen sie darauf gefaßt sein, daß die Revolution, trotz aller Vorsicht, ihnen antworte. Nun kommt die Kirche und sagt zu diesem unbotmäßigen Geschlecht, das Kaiser und König einschüchtert, höchst bestimmt und ohne alle Verbrämung: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, nämlich Gehorsam; das ist euere Schuldigkeit; und sagt weiter, zu Fürsten und Völkern, als eine Erläuterung dieses Gebotes: Und gebt Gott, was Gottes ist! Sie fürchtet sich nicht vor Hohnlachen und Achselzucken, nicht vor Steinwürfen, Dolchstichen, Höllenmaschinen, Revolutionen. Sie hat ihre Vorschule hier in den Katakomben gemacht. Sie spricht, nach dem Ausdruck der heiligen Schrift, »wie jemand, der Gewalt hat;« und ich weiß es ja leider! aus Erfahrung: die ruhige Würde, welche dies Bewußtsein gibt und welche charakteristisch für das Wesen der Kirche ist, flößt dem Revolutionär einen namenlosen Ingrimm ein, denn mit denjenigen irdischen Majestäten, die sich seinem Wunsch gefügt und Szepter und Krone, ihm zu Lieb', nicht mehr von Gottes Gnaden haben, hofft er recht bald fertig zu werden. Aber ob mit dieser geistigen Majestät, die von Gottes Gnaden den heiligen Hirtenstab führt – das ist ihm im Grunde seines Herzens höchst zweifelhaft; und wenn er ihren Untergang so laut ausposaunt, wie wir das erleben: so tut er das hauptsächlich, um sich selbst in seinen Hoffnungen zu bestärken. Der Gehorsam ist ein ewiges Gesetz für jede gute Erziehung. Civilisation ist die gute Erziehung der menschlichen Gesellschaft; folglich bedarf auch sie jenes ewigen Gesetzes und der Ausübung desselben. Da nun die Kirche, und sie allein! es aufrecht hält, so ist sie die Bannerträgerin, welcher die Civilisation folgt – wie sie das genügend bewiesen hat, seitdem sie die Katakomben verließ – und ihren Feinden bleibt nichts übrig, als sich in Taten und Worten des Hasses zu erschöpfen. Ihre Feinde sind alle, welche jenem ewigen Gesetz nicht gehorchen wollen, nicht das Leben in der Zeit als eine Erziehung für das ewige Leben betrachten wollen. Auf dem Punkt steht der arme Graf Orestes. Daß Sie, Judith, aus allen Elementen der Rebellion und der Gegnerschaft, in Ihnen und um Sie, heraustreten – und daß Sie das süße Joch des Gehorsams aus Liebe frei annehmen, beweist einmal wieder, wie keine Seele ihr zu fern, zu fremd, zu empörerisch, zu unbändig ist, um nicht ein Reis des himmlischen Ölbaumes, Christus, auf diesen Wildling zu verpflanzen.«
»So wird man ein Christusträger; nun verstehe ich es,« sagte Judith.
»Wir nennen es Kreuzträger,« entgegnete Lelio lächelnd. »In der Kreuztragung erscheint Christus uns am leidenvollsten und am demütigsten. Es ist billig, daß die dankbare Liebe sich ihm in dieser Gestalt verähnliche.«
»Wie schön ist das Kreuz!« rief Judith; »es setzt einen Dämpfer auf das Instrument unserer Seele, damit alle Töne in Milde zusammen- und dahinfließen.«
»Ja, ja! das Kreuz ist ein vortreffliches Werkzeug der Abtötung!« rief Lelio. »Kann auch nicht anders sein, da Gott selbst es dazu erfunden hat.« – –
Judith ahnte, daß das christliche Leben neue Horizonte vor ihr entrollen werde. Sie freute sich, gerade am Vorabende der hehren Feier, welche sie dem mystischen Leib Christi einverleiben sollte, in den Katakomben gewesen zu sein.
»Möchte ich hier die Liebe der Martyrer eingeatmet haben,« sagte sie, als sie die erhabene Stätte verließen.
Am Abend waren sehr viele Menschen bei ihr. Das war ihr lieb! nun brauchte sie nicht viel zu sprechen. Doch nahm sie sich zusammen, um sich nicht allzu sehr ihren Gedanken hinzugeben, denn Orest beobachtete sie scharf. Er sah finster wie die Nacht aus und fieberhafte Unruhe gab sich in seinem Äußern kund. Als man um Mitternacht auseinanderging, wollte Judith auch Orest entlassen, aber er sagte:
»Ich bitte um einen Augenblick Gehör, Judith, und um Beantwortung einiger Fragen.«
Sie neigte zustimmend ihr schönes Haupt.
»Werden Sie heute wieder eine nächtliche Exkursion machen?« fragte er.
»Da Sie, wie es scheint, Florentin als Spion brauchen,« sagte sie kalt, eingedenk ihrer Begegnung, »so hätte er Ihnen mitteilen müssen, daß ich um sieben Uhr ausgegangen und um acht Uhr heimgekehrt bin.«
Orest freute sich, trotz Florentins hämischen Warnungen, über diese Auskunft. Er konnte es nicht lassen, an Judiths Aufrichtigkeit zu glauben. Er fragte weiter:
»Werden Sie meinen Bitten Gehör geben und sich nach einem akatholischen Ritus taufen lassen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil Christus, der Erlöser, in der katholischen Kirche ist und ich ihn nicht verleugnen kann.«
»Und wir sollten getrennt werden?«
»Gott will es.«
»Der Priester will es!« fuhr Orest mit einem schneidenden Lachen auf.
»Hat je ein Mensch meinen Willen bestimmt?« fragte sie kalt.
»Welche Pläne für die Zukunft haben Sie?«
»Gar keine.«
»Und das soll man glauben?«
Judith schwieg. Orest wiederholte nach einer Pause:
»Und das soll ich glauben?«
»Das hängt von Ihnen ab. Ich sage die Wahrheit.«
»Werden Sie mir zu entfliehen suchen?«
»Ich bin nicht Ihre Gefangene, daß ich wüßte! Aber es wird gut sein, daß sich ein Stückchen Land oder Meer zwischen uns lege.«
»Denken Sie nur nicht an heimliche Flucht!« drohte er.
»O,« seufzte sie aus tiefster Brust, »ich denke an nichts, als das Gewand der heiligmachenden Gnade in der Taufe für meine Seele zu erwerben!«
»Also Sie denken nicht daran, sich heute oder morgen auf die Flucht zu begeben?«
Judith besann sich und sagte: »Nein.« Es schien ihr am geratensten, vorderhand in Trinità dei Monti zu bleiben.
»Also noch ein paar Tage der Hoffnung!« rief Orest. »Schweige!« setzte er hinzu, als sie eine verneinende Bewegung machte; »o schweige! so lange ich Dich sehe, hoffe ich.« – –
Er ging zu Florentin, teilte ihm das lakonische Gespräch mit und sagte zuletzt:
»Sie hat also noch keinen Plan für die Zukunft; das tröstet mich. Vielleicht kann ich sie dennoch gewinnen.«
»Du bist einzig mit Deinem hyperkindlichen Vertrauen!« rief Florentin, der außer sich vor Erbitterung bei dem Gedanken war, daß seine zwiefachen Hoffnungen als Demokrat und freier Denker an Judiths Übertritt zur katholischen Kirche scheitern sollten. »Kennst Du denn nicht die Art der Frauen? sie lügen nicht und sagen Dir doch nicht die Wahrheit, die Du wissen willst.«
»Deine Erfahrungen mögen Dich zu dieser Behauptung drängen,« entgegnete Orest verächtlich. »Judith ist anders.«
»Judith ist ebenso!« sagte Florentin mit kaltem Cynismus. Er war sittlich so tief gesunken, daß er jeden Glauben an edle Gesinnung und reine Absicht verloren hatte. »Judith hat keinen Plan für ihre Zukunft gemacht – versichert sie Dir. Gut! es mag sein. Aber sei fest überzeugt: der Priester – natürlich ist es ein Jesuit! hat längst seinen Plan gemacht und darauf muß sie eingehen, die Unglückliche! Dazu wird sie durch die Tortur der Beicht gezwungen.«
»Mit dem Unsinn bleib' mir vom Halse!« rief Orest. »Ich gehe nicht zur Beicht, weil ich nicht will. Aber Tortur und Zwang in sie hineinzulügen ist über allemaßen dumm und lächerlich. Mit solchen Behauptungen kannst Du nur im Feuilleton schlechter Zeitungen Glück machen.«
»Hat Judith nicht gesagt, es sei der Wille Gottes, daß Ihr euch trenntet? – oder ähnliche Floskeln?« fragte Florentin äußerst gleichgültig gegen Orests Vorwurf, da er zu gemein geworden war, um noch Schamgefühl zu besitzen.
»Das hat sie.«
»Da nun Gott unmöglich in höchsteigener Person ihr diesen Willen ausgesprochen haben kann, so muß es ja der verruchte Jesuit gewesen sein; denn sonst redet ja niemand in diesem Sinn zu ihr. Und da sie entschlossen ist zu dieser Trennung, so mußt Du doch einsehen, daß der Jesuit mehr Macht über sie hat, als Du, trotz Deiner langen, glühenden, treuen Liebe. Es ist entsetzlich, dies Reich der Unterwelt in das schöne frische Leben eindringen zu sehen!«
»Es ist entsetzlich!« rief Orest, in seine Verzweiflung zurückfallend; »schauderhaft und entsetzlich!«
»Ist es noch möglich, die herrliche Judith für Dich zu retten, so reiße sie um jeden Preis von jenem Jesuiten los. Schieß Dich mit ihm, schlage Dich mit ihm auf Tod und Leben ....« –
»Ah! mit Wonne!« rief Orest feurig. »Aber tut das ein Jesuit?«
»Versteht sich – wenn man ihm gründlich zu Leibe geht.«
»Ah! ich schöpfe Atem, ich lebe auf! ein Pistolenduell! der bloße Gedanke schon erfrischt mein Herz. Ja, Florentin, so soll es sein: ich rette Judith! Das war ein guter Rat, alter Freund!«
Mit traulichem Händedruck schieden sie. Orest ging ins Hotel Meloni. Florentin rief Gaetano herbei, der sich als eine Art von allgemeinem Diener aller Bewohner des Palastes in irgend einer Bodenkammer angesiedelt hatte, mit Florentin aber schon seit den Revolutionsjahren her bekannt war. Florentin legte ein Goldstück auf den Tisch und sagte:
»Gaetano! zu welcher Stunde es auch sei, daß die Signora den Palast verlassen sollte, Du gehst ihr nach und bringst mir dann schleunigst Nachricht. Benimmst Du Dich klug, so erhältst Du dieses Goldstück.« Gaetano antwortete nur mit einem verschlagenen Blick und ging auf seinen Posten. –
Judith sagte zu ihrer Kammerfrau, als sie dieselbe entließ:
»Ich muß in aller Frühe ausgehen, Fanny! Holen Sie mir den Schlüssel zur kleinen Pforte vom Portier und sagen Sie ihm zur Beruhigung, ich würde den Schlüssel nicht aus meinen Händen geben. Ich werde Sie nicht wecken, sondern mich allein ankleiden.«
Fanny erfüllte ihren Auftrag, zog sich zurück und Judith war allein. Obzwar sie auch die vorige Nacht durchwacht hatte, so war sie in einer viel zu lebhaften geistigen Spannung, um körperliche Ermüdung zu empfinden. Auf der Schwelle der Wiedergeburt ihrer Seele trat sie so nahe an das übernatürliche Leben heran, daß dessen Kräfte ihr leibliches Leben überwogen. Wie eine Selige fühlt sie nicht dessen Druck. Sie versank in eine unaussprechliche Dankesfülle für die wunderbare Gnade, welche sie, die Jüdin, die Theatersängerin, das Weltkind, den zweifelnden Geist – ergriffen, und über eine Welt von Hemmnissen hinweg, gleichsam auf einen anderen Stern versetzt habe, auf welchem die Gesetze der heiligen Liebe herrschten. Sie ruhte so innig in der Gnade, daß sie auf Orest's Bekehrung und ein still glückliches Familienleben für diese holde Corona hoffte. Als die Stunde näher kam, kleidete sie sich bräutlich und festlich in weiße Seide, und einen Schleier von schwarzen Spitzen warf sie verhüllend um Haar und Schultern. Regina's Rosenkranz schlang sie als Armband um und küßte zärtlich das kleine Kruzifix, dies Zeichen der Gnade, des Heiles, der Versöhnung, unter das sie sich flüchtete, um es dann in ihr Herz aufzunehmen. Was Hyazinth von den ersten Christen gesagt hatte: »Begraben mit Christus!« das klang durch ihre Seele. Es kann nicht anders sein, sprach sie zu sich selbst; wer das Geheimnis der Erlösung erfaßt hat – nicht in seiner Tiefe und Größe, denn das vermag kein geschaffener Geist! aber nach dem Maß seiner Erkenntnis; für den muß es heißen: Liebe um Liebe, Opfer um Opfer, Kreuz um Kreuz. Gegenüber einer Gottesliebe! die der menschlichen Natur eine himmlische Würde und Bestimmung gibt, um durch solche Gaben ihr Herz in den Himmel zu ziehen: da kann der Mensch, dem das Licht des Glaubens in der Seele sagt, nicht in seiner Selbstsucht und in seinen Leidenschaften bleiben. Er muß sie zu überwinden suchen, sie müssen absterben – am Kreuz. So wird er mit Christus gekreuzigt und begraben, um in übernatürlicher Weise mit Christus zu leben.–-
Durch die Totenstille der ersten Frühe hörte Judith einen Wagen kommen. Sie sah nach der Uhr: es war gleich vier. Der Triumphzug meines Lebens beginnt, mit dir, für dich, zu dir, mein Erlöser! mein Herr und mein Gott! frohlockte ihr Herz. Sie hüllte sich in einen dunkeln Mantel, zündete einen kleinen Handleuchter an, nahm den Schlüssel und verließ ihr Zimmer. Als sie durch das ihrer Kammerfrau ging, sagte sie zu Fanny, die schlaftrunken auffuhr:
»Schlafen Sie ruhig fort: in einigen Stunden bin ich wieder da.«
Dann ging sie die Treppe hinab der kleinen Tür zu, hörte außerhalb ein leises Husten, schloß auf, fand Lelio und ging mit ihm durch das Seitengäßchen dem Wagen zu, der in einiger Entfernung vom Palast auf dem Korso hielt. Sie stiegen ein und fuhren gen Trinita dei Monri. Mit ihnen, auf dem Lakaiensitz – fuhr Gaetano.
Er hatte gut aufgepaßt! Als er das ferne Wagenrollen hörte, spitzte er die Ohren, und als er in Judith's Zimmern Türen sich öffnen und schließen hörte, verließ er seinen Wachposten auf der kleinen Treppe, um sich hinter einen Pfeiler des inneren Hofes zu stellen, indem er das Licht in seiner Blendlaterne verdunkelte. Kaum sah er Judith die Treppe hinabgehen und den Weg zur kleinen Tür einschlagen, so sprang er mit katzenhafter Behendigkeit und schnell die Umstände im Zusammenhang auffassend, in die Portierloge, ergriff den Schlüssel zum großen Eingang, schloß mit gewandter Behutsamkeit auf und wieder zu, und erreichte früher als Judith den Platz, wo der Wagen hielt Da drängte er sich in den Schatten einer vorspringenden Säule, und erst als der Wagen dahinrollte, sprang Gaetano ihn nach und schwang sich hinten auf. – –
Als es vier Uhr schlug, trat Hyazinth in der Kirche Santa Maria dell' anime zum Altar, um das heilige Meßopfer darzubringen. Er war so erschüttert und bewegt durch die verschiedenen Ereignisse, die in seiner Familie zusammentrafen, und die doch so scharfe Gegensätze bildeten, daß auch er wenig Schlaf gefunden hatte. Onkel Levin's und Regina's Tod gingen ihm schneidend durch's Herz. Ihnen hatte er auf Erden am nächsten gestanden; mit Regina's und an Levin's Seele hatte sich seine Seele entwickelt; Regina's Entschluß hatte den seinen gereift und über jede Schwankung und jedes Bedenken hinweg gehoben; Levin's Vorbild zog ihn tief und immer tiefer in das geistliche Leben hinein. Mit ihr betrat er die Tempelschwelle und mit ihm wandelte er zum innersten Heiligtum. Und jetzt waren Beide auf einmal von der Erde verschwunden! das geistige Band, das ihn mit Beiden verknüpfte, war so innig, daß ihm zu Sinn war, als müsse er ihr seliges Leben auf Erden führen – aber selig, wie der Mensch selig sein kann: nicht in den Wonnen und Freuden der überströmenden Liebe, sondern in ihren heißesten Opfern. Mehr denn je fühlte er sich entflammt zur unbedingten Hingebung seines Herzens, seiner Seele, seines Wesens an die leisesten Bewegungen der Gnade, und er flehte zu Gott, daß dieser himmlische Gnadenhauch ihn ebenso zu Orest wie zu Judith leiten möge. Daß Orest's Leidenschaft durch Judith's Verlust weder gebrochen noch besiegt sei, war für Hyazinth ganz klar. War es nicht schon ein Gnadenwunder, daß Judith zur Erkenntnis kam! es konnte sich um so weniger sogleich für Orest wiederholen, als Beide einen ganz verschiedenen Standpunkt einnahmen. Sie war unwissend über die Dinge des Heiles; er verschmähte sie – und dieselbe Offenbarung, welche Judith bis in's Herz hinein erschütterte, verleugnete Orest. Ach, und welcher Trotz, welche unsinnige Erbitterung gegen die Kirche ließ sich von Orest's zügelloser Aufregung gerade jetzt erwarten, da die Leidenschaft ihm immer vorspiegeln werde, die katholische Kirche habe ihm Judith geraubt. Sie war gerettet – aber er! aber er! seufzte Hyazinth; wie ist sein Herz zu schmelzen, wie ist sein Wille geschmeidig zu machen? was wird ihn zur Reue bringen? was mit Gott versöhnen? ach, er schwebt in solcher Gefahr einer immer wachsenden Verfinsterung durch Leidenschaft zu verfallen, daß sein nächster Schritt ihn in den Abgrund stürzen kann. O, daß er gerettet werde! daß die Finsternis von ihm weiche! daß er nicht in seinen Sünden dahin taumele, eine Beute des Bösen. O, daß ich mein Leben für ihn hingeben, mein Blut für ihn vergießen dürfte – welch' seliges Opfer wäre das! Er beschloß sogleich nach Judith's Taufe mit Orest zu sprechen, und damit der heilige Geist ihm das rechte Wort auf die Lippen legen, und keine sündige Unvollkommenheit von seiner Seite die Gnadenwirkung hemmen möge, empfing er mit größter Andacht das heilige Sakrament der Buße. Jeden Fehltritt, jede Schwachheit, jede irdische Regung, die seine zarte Gewissenhaftigkeit ihm als Versündigung gegen die göttliche Liebe vorführte – jede Unvollkommenheit in der Ausübung seines Amtes und jede Aufwallung von Ermüdung in seinem Beruf, wodurch er fürchtete, den heiligen Geist betrübt zu haben: Alles faßte er in demütiger, reuevoller Anklage zusammen und badete seine Seele fleckenrein in der reinigenden Kraft des Blutes Jesu, welche das Sakrament der Buße vermittelt. Und so erneuert im Geist und »angetan mit weißem Kleide, gewaschen im Blut des Lammes,« – trat er zum Altar, um die heiligsten Geheimnisse zu feiern, um die Gnaden des ewigen Opfers den beiden Seelen zuzuwenden, die ihm so nahe standen, und um sich selbst durch die heilige Kommunion zu einem nicht ganz unwürdigen Werkzeug der Vermittlung dieser Gnaden zu machen. Es war niemand in der Kirche außer Hyazinth's Beichtvater. Als dieser ihn vom Altar herabsteigen und zur Danksagung nach der Messe niederknieen sah, konnte er sich des Gedankens aus der Offenbarung nicht erwehren: Das ist einer von denen, die mit göttlichem Namen bezeichnet sind, die das Lied der Auserwählten singen und dem Lamm folgen werden, wohin immer es geht. Verabgründet in die selige Vereinigung mit seinem Gott, mit dem Liebhaber und Erlöser der Seelen, verharrte Hyazinth im Gebet, bis Lelio's Wagen vorfuhr und ihn abholte.
Während hier die Engel wachten, schlief auch der böse Feind nicht.
Ein taktmäßiges Klopfen an seine Tür weckte Florentin, der sogleich rief:
»Gaetano herein!«
Dieser kam atemlos zurück, erzählte die Begebenheit und sagte schließlich:
»Vor Trinità dei Monti hielten wir. Da stieg die Signora aus und der Herr, der ihr dabei behülflich war, sprach: Um fünf Uhr bringe ich den Herrn Abbate her. Sie ging in die Pforte, die sich schon geöffnet hatte; er fuhr weiter und ich sprang die spanische Treppe hinab – und da bin ich!«
»Begleite mich in's Hotel Meloni,« sagte Florentin, der sich inzwischen angekleidet hatte.
Sie eilten fort. Nach einer Weile fragte Florentin:
»Gaetano, hat der Begleiter der Signora wirklich gesagt: Ich bringe den Abbate?«
»Sollte er etwas anderes gesagt haben, Signor?«
»Hat er nicht vielleicht gesagt: den Jesuiten?«
»Kann sein, Signor! ist nicht unmöglich. Abbate – Padre – das verwechselt man .... im Finstern.« –
Kraft dieser Verwechselung .... im Finstern, trat Florentin in Orest's Zimmer und rief:
»Auf, auf! Judith ist so eben einer Zusammenkunft mit ihrem Jesuiten entgegen gefahren. Willst Du sie verhindern, so komm'! komm'! komm'!«
»Ha, die Schlange! und ich glaubte ihr!« rief knirschend vor Wut und Verzweiflung Orest.
»Lehre Du mich die Weiber kennen!« höhnte Florentin.
»Wo ist sie?«
»In einem Nonnenkloster – wie sich das von selbst für dergleichen Zusammenkünfte paßt.«
»In einem Kloster!« rief Orest stutzend.
»Nun ja freilich! das Institut vom Sacré-Coeur ist ja eine Jesuitenerfindung, um die Frauen aus der großen und vornehmen – und aus der reichen und vornehmseinwollenden Welt in ihre Schlingen zu bekommen. Dies ist vermutlich der Beichtvater von Trinità dei Monti. Dem muß man schon etwas zu Gefallen tun! .... eine Hand wäscht die andere.«
In diesem giftigen Ton, falsche und willkürliche Annahmen als unbestreitbare, anerkannte Wahrheiten hinstellend und ihnen Folgerung und Schluß gebend, welche der Gemeinheit und Bosheit der Erfindung entsprachen – redete Florentin fort und stachelte damit Orest's Leidenschaft zur wildesten Eifersucht auf. Als dieser nach seinem Pistolenkästchen griff, sagte Florentin mit einschneidender Parodie:
»Vorwärts, vorwärts, Don Orestes – Deine Ehre ist verloren! Vorwärts, vorwärts, stolzer Cid.«
»Noch nicht verloren! wo find' ich ihn! er soll mir Rede stehen!« sagte Orest mit bebender Stimme.
»Um fünf Uhr wird er zu Trinità dei Monti erwartet. Da müssen wir Schildwach stehen, und wenn er kommt« ... – –
»Ihn zwingen, in seinem eigenen Wagen mit mir in die Campagna hinaus zu fahren, und mir mit dem Pistol Rechenschaft zu geben!« rief Orest.
Sie stürmten den Monte Pincio hinauf, durch die tiefe Dunkelheit, die durch spärliche Reverbere mehr hervorgehoben, als eigentlich beleuchtet wurde. Überdas war ein feuchter Nebel in der Luft, der alle Gegenstände umhüllte und die Umrisse verwischte.
»Wenn wir nur nicht zu spät ankommen,« sagte Orest, als sie am Ziele waren. Seine Aufregung war so heftig, daß er vom Scheitel bis zur Sohle zitterte, und sich an die Mauer lehnte, um Atem zu schöpfen.
»Ruhig, ruhig!« sagte Florentin; »es fehlt noch ein Viertel an fünf Uhr. Er entgeht Deiner Rache nicht.« –
Draußen das Toben der Hölle, drinnen der Vorschmack des Himmels! Die Oberin und Corona empfingen Judith mit der Freude, welche auch die Seligen empfinden: Freude über eine gerettete Seele, die dereinst vor dem Throne Gottes in alle Ewigkeil seine Barmherzigkeit preisen und die Kraft des Blutes Jesu verherrlichen wird. Strahlend von dieser Freude, hatte Corona ihre ganze Schönheit und Jugend wiedergefunden. Sie war prächtig gekleidet, in glänzendweiße Seide, umwallt von Spitzen, überrieselt mit funkelnden Diamanten – wie man eben gekleidet zu sein pflegt, wenn man die heilige Ehre hat, ein Taufgelübde auszusprechen, dessen Erfüllung einer unsterblichen Seele zum ewigen Leben verhilft. Hier sprach freilich Judith selbst es aus; aber gerade dieser Umstand machte die Feier noch rührender.
»Die himmlischen Heerscharen schauen frohlockend auf Sie herab – und unsere Regina und Onkel Levin,« sagte Corona, indem sie Judith freudig umarmte; »heute ist ein großer Festtag da droben.«
Neben der ernsten Judith mit ihrer tragischen Schönheit, stand Corona in ihrer zarten Lieblichkeit, wie der Schutzengel, der ein edles Menschenbild umschwebt. Und so sprachen sie auch zusammen: Judith voll tiefer Sehnsucht nach dem Frieden der Erlösung; Corona aus dem stillen Frieden heraus, den die demütige Kreuztragung verleiht.
Da fuhr ein Wagen heran. Beide riefen:
»Er kommt!«
»Ha, da kommt er!« rief auch Orest. »Ich zwing' ihn gleich, mit mir fortzufahren!«.
Er riß die Pistolen aus dem Kasten und stürzte zur Klosterpforte. Der Wagen hielt, Hyazinth sprang heraus und Orest ihm entgegen, indem er rief:
»Nicht herein! fort mit mir! auf der Stelle fort.«
Als Hyazinth die Stimme seines Bruders erkannte, glaubte er, daß dieser Judiths Taufe verhindern wolle, und ahnungslos über dessen eigentliche Absicht, stieß er ihn mit eisernem Arm zurück und wollte der Pforte zuspringen, welche eben von inwendig aufgeschlossen wurde. Als Orest das hörte und nun fürchtete, sein Todfeind werde ihm feig entfliehen, warf er sich ihm in den Weg, und mit dem wütenden Aufschrei:
»So stirb. Du Elender!« drückte er die Pistole auf ihn ab.
Hyazinth sank zu Boden und seufzte: »Jesus Maria!«
In demselben Augenblick rief Lelio:
»Graf Orest, es ist Ihr Bruder!«
Und da die erschreckte Pförtnerin nicht öffnete, setzte er hinzu laut rufend:
»Licht! um Gottes Barmherzigkeit! Licht!«
Sie öffnete. Wer volle Strahl ihres Lichtes fiel auf Hyazinth, der lang ausgestreckt am Boden lag. »Hyazinth! Hyazinth!« schrie Orest mit heiserer Stimme und irrem Blick.
»Er ist tot!« sagte Lelio, der neben dem Entseelten kniete.
»Hyazinth .... vergib mir .... mein Gott!« stammelte Orest, setzte die Pistole in den Mund, drückte ab und sank zur Erde.
Dies alles fiel mit furchtbarer Geschwindigkeit in ein paar Minuten vor. Die Oberin erschien voll Entsetzen an der Pforte, als eben Lelio mit Hilfe des Kutschers Hyazinth hineintrug. Die Kugel hatte ihn mitten durch's Herz getroffen, und ohne Kampf, fast ohne Schmerz hatte er sein Leben ausgehaucht. Der milde Ernst, der seinem Antlitz, einen so engelhaften Ausdruck gab, ruhte in der vollen Majestät eines unerschütterlichen Friedens auf seiner marmorweißen Stirn. Dann wurde Orest gebracht. Der Unglückselige lebte, aber die gräßliche Verwundung machte ihn fast besinnungslos vor Schmerz. Er konnte nur wimmern, sprechen nicht.
Für den Auftritt, der mit Judith und Corona erfolgte, gibt es keinen Ausdruck. Sie begriffen das Ereignis gar nicht; Lelio konnte ihnen ja nur den letzten Akt mitteilen und Orest war sprachlos. Daß Florentin dabei gewesen, wußte niemand. So wie der erste Schuß fiel, war er die spanische Treppe hinab geeilt. Aller Wahrscheinlichkeit nach war jetzt ein verruchter Jesuit oder jesuitischer Dunkelmann weniger auf der Welt! er suchte sich an diesem Gedanken zu freuen; aber das Gewissen wollte es nicht zulassen. Bei dem zweiten Schuß floh er entsetzt von dannen. Da war Unheil geschehen! Ist nicht meine Schuld .... nicht meine Schuld! wiederholte er vor sich selbst halblaut, um die stumme Sprache des Gewissens zu übertäuben. Aber seine Pulse klopften wie Hämmer, und Schweißtropfen standen auf seiner kalten Stirn; ein namenloses Grauen überfiel ihn – das entsetzlichste, was es auf Erden gibt – das Grauen vor sich selbst. Fort! zu Rita! zu Rita! rief er. Wer war Rita? ein schönes elendes Weib – Gaetano's Frau!
Lelio schickte sogleich den Wagen nach einem Wundarzt, der schleunig kam und auch einen Verband anlegte, doch gleich erklärte, der Verwundete werde schwerlich den Tag durchleben und das sei zu wünschen wegen seiner folternden Schmerzen, Auch der Hausgeistliche war gerufen, aber vergeblich, wie es schien, da Orest nicht bei Besinnung war. Corona kniete neben ihm, gefoltert wie er, aber von Mitleid und von Seelenangst.
»Betet, betet!« sagte sie zu einigen Ordensfrauen, die mit größter Schnelligkeit ihm ein Lager bereitet und den Entseelten in ein anderes Zimmer getragen hatten; o betet vor dem Sanktissimum, daß er nur eine Minute zum Bewußtsein gelange, und mit einem Akt der Reue vor dem ewigen Richter erscheine.«
»Es knieen schon zwei Schwestern in dieser Intention vor dem Sanktissimum,« entgegnete die Oberin; »und die Messen, die heute gelesen, und die heiligen Kommunionen, die empfangen werden, wollen wir sämtlich dafür aufopfern.«
»Gott vergelts!« sagte Corona; »denn ich ... ich kann nicht beten .... ich ächze nur!«
Es war ein Jammer sie zu sehen mit diesem Ausdruck von Seelenangst um den Sterbenden, ihr prächtiger Anzug mit seinem Blut überströmt, die Spitzen zerrissen, Handschuhe und Taschentuch blutig am Boden. Sie dachte nicht an Felicitas, nicht ihren Vater und Uriel rufen zu lassen. Sie dachte nur daran, daß hier eine Seele in der vollen Ungnade Gottes von der Erde abscheiden könne.
So weit gingen Judith's Gedanken nicht. Sie machte es gerade umgekehrt, wie Florentin. Meine Schuld! meine Schuld! seufzte sie in stumpfer Trostlosigkeit. Mord und Selbstmord – meinetwegen! zwiefache Mörderin! Sie fiel aus einer Ohnmacht in die andere. Der Gegensatz zwischen der heiligen Feier, zu der sie aus allen Kräften ihres geistigen Wesens hinstrebte und verlangte – und dieser blutigen Tragödie war so gewaltsam, so unerwartet, daß sie von diesen Schrecknissen aus ihrer hohen Spannung herausgerissen und bis zur Ohnmacht übermannt wurde.
Über diese Bilder des Jammers brach der Tag an, sanken die Nebel, ging die Sonne golden auf. Nichts änderte sich in Orest's Zustand.
»Wenn doch Pater Bonaventura käme – oder für ihn betete,« sagte eine Laienschwester zu dem Hausgeistlichen, der mit Lelio und Corona das Sterbebett bewachte.
»Wer ist das?« fragte Corona.
»Ein frommer Kapuziner, den man sehr verehrt, und zu dessen Fürbitte man viel Vertrauen hat,« entgegnete der Geistliche.
»Ich hole ihn!« rief Lelio. »Der Wagen ist noch immer bereit.« Er eilte hinaus und fuhr eilig zum Kapuzinerkloster auf dem Platz Barberini am andern Ende von Rom, Ein weiter Weg! In dumpfer Angst harrte Corona. Jede Minute erschien ihr wie eine Ewigkeit, und wie manche Minute mußte vergehen!
Judith schleppte sich auf den Knien zu Corona.
»Hassen Sie mich!« sagte sie tonlos. »Es wird mir ein Trost sein, so verabscheut zu werden, wie ich es verdiene.«
»Die christliche Seele haßt nie,« erwiederte Corona. »Wie könnte ich hassen so bitterer Todesnot gegenüber.« –
Endlich kam Lelio und mit ihm Pater Bonaventura. Als er eintrat, riefen Corona und Judith:
»Herr Ernest!« – und es war, als empfänden sie einen inneren Trost durch seine Ankunft.
Lelio hatte ihn bereits von dem ganzen Vorfall und den betreffenden Personen in Kenntnis gesetzt.
»Retten Sie seine Seele!« flehte Corona.
»Wo so viel fromme Seelen schon beten und mit Gottes Gnade Erhörung finden werden, da ist mein unwürdiges Gebet recht unnütz,« sagte er demütig.
Die Pförtnerin trat ein und meldete, daß Corona's Kammermädchen höchst beunruhigt Nachfrage um die Gräfin halte. Niemand wisse, was aus ihr geworden sei, und der Herr Graf habe so eben den Diener nach dem Hotel Meloni geschickt.
»O mein unglücklicher Vater .... bringen Sie ihm die Schreckenskunde!« seufzte Corona zu Pater Bonaventura gewendet.
»Vor einem solchen Auftrag darf man zittern,« sagte er und ging zu Graf Damian.
Nicht zehn Minuten verstrichen und er kam mit dem unglücklichen Grafen zurück, der gebrochen, wie ein siebzigjähriger Greis, vom sterbenden Orest zum entseelten Hyazinth wankte. Bald darauf kam auch Uriel, beängstigt durch die Nachfrage nach Corona im Hotel Meloni und durch die Aussage des Portiers, daß Graf Orestes gegen fünf Uhr morgens mit einem Herrn, der ihn abgeholt, das Hotel verlassen habe. Die Gruppe der Leidtragenden war vollständig. Aber Felicitas fehlte.
»Sie soll kommen,« sagte Corona, »sie soll eintreten in die Schule des Lebens – in's Leiden.«
»O Raserei der Leidenschaft!« sagte Ernest; »in Wölfe und Tiger verwandelt sie die Seelen, welche bestimmt waren, Lämmer des guten Hirten zu sein.«
Als Felicitas kam und sich angstvoll in die Arme ihrer Mutter warf, schlug Orest seine blutigen geschwollenen Augenlieder auf. Corona seufzte beseligt:
»Gott Dank! ach, lieber Orest, kennst Du uns?«
Seine Augen blickten: »Ja!« Er konnte weder sprechen, noch den Kopf bewegen; das ganze Untergesicht war zerschmettert. Alle traten zu ihm heran klagend, fragend, tröstend. Er konnte nichts tun, als mit bittenden Augen sie ansehen und einen mühseligen Versuch machen, seine Hände zu falten. In einem Winkel des Zimmers, ihr Gesicht auf einem Stuhl verbergend, niemand beachtend und von niemand beachtet, lag Judith. Jetzt schleppte sie sich an's Bett und sagte:
»Graf Orestes, können Sie mir vergeben?«
Bei dem Ton ihrer Stimme fuhr er zusammen, schloß die Augen und machte eine sanfte Handbewegung.
»Er verzeiht mir und will mich nicht sehen: so muß es sein!« sagte sie, küßte Corona's Hand und begab sich in das andere Zimmer zu Hyazinth's Leiche.
»Willst Du das heilige Bußsakrament empfangen?« fragte Corona zärtlich über Orest gebeugt.
Er bejahte es in seiner Weise, und man ließ Pater Bonaventura allein bei ihm. Durch die Fragen, welche dieser ihm mit einer Präcision vorlegte, die es möglich machte, sie durch Pantomimen zu beantworten, stellte sich die Beruhigung heraus, daß Orest keinen Mord, am wenigsten einen Brudermord beabsichtigt – sondern im Wahnwitz der Leidenschaft den ersten – in besinnungsloser Verzweiflung den zweiten Schuß getan habe. Da Orest kaum je eine solche Reue und Aufrichtigkeit bei dem Empfang des Bußsakramentes gehabt haben mochte, als eben jetzt mit dem gewissen Blick auf sein nahes Ende, so war diese letzte Beicht vielleicht die beste seines ganzen Lebens. Die heilige Wegzehr konnte man ihm wegen seiner Verstümmelung nicht reichen. Allein die letzte Ölung stärkte ihn zu dem grausigen Todeskampf, den er zu bestehen hatte. Gegen Abend war er verschieden und, wie zu hoffen war, in der Gnade Gottes. Judith hatte schon vorher durch Pater Bonaventura die Nottaufe empfangen und war dann in einem bewußtlosen Fieberzustand in ihren Palast zurückgebracht und durch Lelio ihrer Mutter übergeben worden. Sie schwebte sechs Wochen lang zwischen Leben und Tod. Das Leben siegte und die Gnade auch: nach ihrer Genesung wurde aus der Judith eine Thais.