Ida Gräfin Hahn-Hahn
Maria Regina. Zweiter Band
Ida Gräfin Hahn-Hahn

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Die Villa Diodati

Es war ein herrlicher Oktober. Dieser Monat ist der schönste am Genfersee, ist so sommermäßig, daß die Abende sogar noch warm sind, und verbindet damit die Vorzüge des Herbstes: gleichmäßige Witterung, klare Luft und einen unvergleichlichen Schmelz der Farben auf dem Gebirg und dem See. Die Villa Diodati, berühmt durch den Aufenthalt, den einst Lord Byron dort machte, liegt auf dem Ufer von Savoyen, eine Stunde von Genf, in einem terrassierten Garten, unmittelbar am See, der seinen strahlenden Spiegel wie eine lichtblaue, mit Goldfunken durchblitzte Emaille vor ihr ausbreitet. Auf dem entgegengesetzten Ufer steigen die Rebgelände des Waadtlandes auf, unterbrochen von Schluchten und Hügeln mit reicher Bebaumung und übersäet mit Städten, Dörfern, einzelnen Schlössern und Campagnen. Im Osten schließt das Hochgebirge des Walliserlandes den See ab, schickt ihm aber aus den gewaltigen Gletschern am Fuße der Grimsel und Furka die reißende Rhone zu, die im Westen, bei Genf, an dem Becken des See's im ungeduldigen Jugendmut herausbricht und sich ihre eigenen Wege sucht, hinab zur Küste des mittelländischen Meeres. Die Krone des See's und der ganzen Landschaft ist der gewaltige Montblanc; er liegt da wie ein weißer Marmorblock in einem Blumengarten.

Es war gegen Abend; die Sonne sank und zog einen rosenfarbenen Schleier über alle Berge, während der ewige Schnee des Montblanc im feurigsten Rosenlicht aufflammte. Mitten auf dem See, da, wo man die volle Ansicht des Montblanc hat, schwamm eine Barke, leise gewiegt von den rieselnden Wellen, denn die Schiffer hatten die Ruder eingezogen. In der Barke saßen einige Männer und eine Frau. Sie hatte sich in einen weißen Burnus eingewickelt, der ihre hohe schlanke Gestalt hervorhob, nicht verhüllte, und dessen Kapuze über den Kopf gezogen. Sie blickte mit ihrem ernsten schwarzen Auge unverwandt auf den Montblanc und kümmerte sich nicht im mindesten um die Herren und ihre Gespräche. Zwei dieser Herren waren übrigens ebenso schweigsam wie die Dame, obschon sie nicht, gleich ihr, in den Anblick des zauberhaften Naturgemäldes versunken waren. Endlich sagte der eine zu ihr:

»Signora Giuditta!« – aber er mußte es wiederholen, bevor sie die Kapuze ein wenig zurückschob und, ohne nach ihm umzublicken, sagte:

»Was wünschen Sie, Graf Orestes?«

»Sie zu hören, da Sie uns das Glück nicht gönnen, Ihr Antlitz zu schauen.«

Als ob diese Aufforderung ihrer Stimmung einen Ausdruck gegeben hätte, begann Judith sogleich jenes Lied vom Wanderer zu singen, das durch Schuberts Komposition so berühmt geworden ist: »Ich komme vom Gebirge her – Es ruht das Tal, es rauscht das Meer.« Sie sang alle Strophen durch. Kein Atemzug war in der Barke zu hören; auch die Schiffer lauschten. Als sie zu Ende war, blieb alles still.

»Hat Ihnen das Lied nicht gefallen, Graf Orestes, oder klingt meine Stimme tonlos über der Tiefe?« fragte Judith.

»Das Lied ist so fürchterlich melancholisch, daß man davon angesteckt wird,« entgegnete er.

»Ein deutsches Lied!« antwortete sie mit leichtem Achselzucken.

»Ganz recht, Signora!« rief der zweite der schweigsamen Männer; »ein deutsches Lied – das muß melancholisch sein! Deutschland hat nicht genug Stimmen, um zu weinen und zu klagen über seinen tiefen Verfall.«

»Warum ziehen Sie es nicht empor – Sie und Ihre Gleichgesinnten?« fragte Judith kalt. »Sie klagen über die mark- und tatenlose Zeit; aber was haben Sie denn aufzuweisen an Kraft im Willen und im Handeln?«

»Barrikaden, Signora!« erwiderte nicht der Gefragte, sondern statt seiner Orest mit scharfem Hohne. »Es gehört sehr viel Kraft an Leib und Geist dazu, um den Pferden eines Omnibus in den Zügel zu fallen –die bekanntlich so wild sind, als ob sie eben auf den Steppen der Ukraine eingefangen wären – um den Omnibuskutscher von seinem Sitz herabzureißen, der bekanntlich erhabener als ein Thron ist, um den Omnibus quer über die Straße zu werfen, mit der Intention, also sämtliche Throne Europa's. in den Gassenkot zu schleudern, und um dann einen Fetzen, welcher Fahne der Freiheit tituliert wird, nicht eigentlich auf den zerschmetterten Thronen, wohl aber auf dem zerschmetterten Omnibus, dem Bollwerk der modernen Freiheit, aufzupflanzen.«

»Die Freiheit ist das Gut des Volkes!« rief der Verhöhnte schneidend zurück. »Schlimm genug, wenn Ihr sie im Gassenkot unberücksichtigt laßt, anstatt sie aufzunehmen in Euren goldenen Sälen.«

»Müssen Sie denn immer wieder Streit anfangen mit Fiorino, Graf Orestes?« rief Judith.

»Aber, Signora, er ist ein ehrlicher Deutscher und heißt Florentin!« rief Orest. Tausendmal schon sagt' ich es Ihnen! Florentin Hauptmann heißt er.«

»Ach, ich weiß es ja sehr gut,« erwiderte sie gleichgültig. »Er ist ja seit drei Jahren mein treuer Sekretär und Geschäftsführer; allein der Name Fiorino gefällt mir besser und ist leichter auszusprechen. Setzen Sie nur Ihre Jeremiaden über Deutschland fort, Fiorino! ich finde sie ganz richtig. Ein englischer Schriftsteller hat die Deutschen »ein Volk von Denkern« genannt. Ob er ihnen ein Kompliment damit machen wollte, weiß ich nicht. Mir aber fällt bei diesem ewigen deutschen Grübeln, Philosophieren und abstrakten Spekulieren der Prinz Hamlet ein mit seinem berühmten Monolog. Aller Tatkraft der Deutschen wird »des Gedankens Blässe angekränkelt« – um mit besagtem Hamlet zu sprechen – und dadurch die Energie des Willens und die Originalität des Charakters gebrochen, welche beide die Basis der Tatkraft sind.«

»Welche Studien machen Sie über die Deutschen infolge von Florentins Jeremiaden!« rief Orest.

»O nein!« entgegnete Judith lächelnd, »die haben mit meinen Beobachtungen wenig gemein! Sie wissen ja, Graf Orestes, daß ich von jeher Studien der Menschen und Charaktere machte. Je älter ich werde, desto lieber und umfassender mache ich sie. Überdies gehören sie zur Bühnenkunst.«

»Mir scheint aber,« sagte Orestes, »daß Ihnen durch diese Studien von Jahr zu Jahr mehr »des Gedankens Blässe angekränkelt« wird.«

»Darin können Sie recht haben,« sagte sie abbrechend, – und dann zu Florentin: »Wie heißt sie weiter, Ihre Lamentation um Deutschland?«

»Einst war es groß, kräftig, mächtig!« rief Florentin. »Einst stand es, an der Spitze der Weltbewegung, der Civilisation, des Fortschrittes. Einst lag es in seiner Hand, die Gesetze einer neuen Bildung unserem Weltteile vorzuschreiben. Es war bei seinen Gaben und Kräften das erste Volk der Erde. Aber von dem Augenblick an, wo es sich nur teilweise, nicht gemeinsam in die Bahn eines bis dahin unerhörten Fortschrittes schwang, da ging es in Splitter und seitdem verkommt es.«

»Das verstehe ich nicht,« sagte Judith. »Wenn ein Teil von Deutschland einen großartigen Fortschritt machte, so hätte er ja den anderen Teil mit fortreißen müssen, oder wenigstens, wenn das über seine Kräfte ging, allein zu einem glänzenden Resultate gelangen müssen.«

»Und gerade derjenige Teil von Deutschland,« rief Orest, »der nach Florentin's Ausdruck einen großartigen Fortschritt machte – oder, wie ich mich ausdrücke, Deutschlands religiöse und politische Einheit zerriß, durch welche es fast ein Jahrtausend an der Spitze der Civilisation gewesen war: gerade der Teil verband sich mit allen Völkern, welche gegen das alte großartige, macht- und kraftvolle Deutschland feindlich gesinnt waren – und mit allen Tendenzen, welche das Streben und Verlangen nach Einheit hintertreiben. Gerade der Teil hat mit seinem freien Forschen und freien Denken, mit seinen philosophischen und metaphysischen Systemen und mit den tausend Scharteken, welche zum Apparat hoher Bildung und Wissenschaft gehören, dermaßen die Tatkraft des deutschen Volkes gelähmt und dermaßen seinem gesunden Sinne »des Gedankens Blässe angekränkelt,« daß es wirklich teilweise in den gebildeten und halbgebildeten Schichten marklos geworden ist. Ob übrigens ein markloses Geschlecht »ein Volk von Denkern« und im Stande sein könne, einen klaren Gedankenprozeß durchzumachen, bezweifle ich. Mir scheint, die Verwirrung der Begriffe stehe in üppigster Blüte, besonders auf dem Gebiete der sozial-politischen Theorien. Aber die Söhne Albions möchten nicht bloß Deutschland, sondern Europa – ja den ganzen Erdball in das Gebiet des Gedankens hinein schmeicheln, damit sich möglichst wenig Hände außerhalb Englands an die allerdings furchtbar gedankenlose Praxis der Baumwoll-Spinnerei und Weberei begeben.«

»Ich staune, Graf Orestes!« rief Judith. »Sie stehen ja ganz auf der Höhe des Jahrhunderts und halten Reden wie ein Kammermitglied, so daß alle Hoffnung vorhanden ist, auch Ihnen könne noch »des Gedankens Blässe angekränkelt« werden! Aber jetzt beruhigen Sie Sich durch einen Blick auf den Montblanc.«

Die Sonne war nicht nur schon unter den Horizont hinabgesunken, sondern der westliche Himmel hatte bereits die glühenden Färbungen verloren, die aus lichtem Goldglanz in feuriges Rosenrot, dann in zarten Purpur und Violet allmälig verschwimmen, bis sie endlich zu einem bläulichen Duft verbleichen, der den ganzen Himmel umflort und der nur im Westen mit einem leichten, grünlich gelben Anhauch gemischt ist. Das Gebirg, das allen Schattierungen des Sonnenunterganges und des Abendhimmels folgt und, wie ein Geschmeide von Topasen, Rubinen und Amethysten für den König der Erdgeister, prächtig und anmutig in glänzenden Farben ausstrahlt, wird ebenfalls in die bläuliche Umflorung gehüllt, welche vom Himmel zur Erde herabsinkt, nimmt jedoch durch seine Masse und Schwere ein stumpfes, hartes Grau an, das selbst die schwerste Wolke nicht hat, und sieht ganz tot und leichenfahl aus. In solchem Moment tritt zuweilen – und am häufigsten im Herbst – das wunderliebliche Alpglühen ein. An die todesstarren Spitzen des Hochgebirges mit ewigem Schnee fliegt plötzlich ein rosiges Licht und eine zauberhafte Illumination flammt auf zwischen Himmel und Erde. Die höchsten Spitzen der Schneeberge bilden über der grauen Tiefe und unter dem Grau in der Höhe eine Kette von rosigen Flammen oder von glühenden Rosen, die im Äther zu schweben und ohne Zusammenhang mit der Erbe zu sein scheinen.

Dies wunderschöne Naturschauspiel fand so eben am Montblanc statt: seine drei eisgrauen Häupter strahlten im Rosenfeuer des Alpglühens. Das dauerte ein paar Minuten; dann sank das Feuer, verglomm mehr und mehr, die Schatten krochen aufwärts, nur eine Kohle glimmte noch auf der äußersten Spitze – nur ein Funke noch – nun erlosch auch der und das Gebirg trat in seine tote Starrheit zurück und die Schatten der Nacht machten es doppelt finster und kalt. Judith wickelte sich fröstelnd in ihren Burnus, wendete sich plötzlich zu den Männern hin und sagte:

»Meine Herren, warum ist die häßliche Erde zuweilen so wunderschön?«

Einer der Herren, ein russischer Fürst, entgegnete verbindlich:

»Die Rätsel der Sphynx löst nicht jeder Sterbliche.«

Zwei Engländer, Vater und Sohn, wütende Touristen und geschworene Bewunderer aller Merkwürdigkeiten und aller Berühmtheiten, sagten aus einem Munde:

»Oh! Ah! No! very well!«

Ein junger Franzose rief lebhaft:

»Weil Sie, Signora, über die Erde wandeln.«

Florentin sagte: »Weil in den Stoffen der Natur auch diejenigen Kräfte liegen, welche im harmonischen Zusammenwirken die Schönheit bilden.«

»Was sagt Graf Orestes?« fragte Judith ihn; denn er schwieg.

»Er sagt nichts!« rief Orest ungeduldig. »Ich bitte, verschonen Sie mich mit solchem hohlem Gerede! Sie selbst sind ein solches Rätsel, daß Sie mir wahrhaftig keine neuen aufzugeben brauchen.«

»Nun aber müssen Sie uns auch die Lösung geben,« sagte der Fürst.

»Es war kein Rätsel, es war nur eine Frage,« erwiderte Judith; »und ich fragte ganz ehrlich, weil ich durchaus nicht begreifen kann, weshalb diese Erde, die ja weiter nichts als ein immenser Klumpen von Moder ist, in welchem alles Leben sich auflöst, weshalb und woher diese garstige Masse zuweilen eine Schönheit erhält, welche das Herz rührt und die Seele erschüttert.«

»Die ganze Schöpfung ist von Gott – die Natur, wie das Menschenherz,« sagte der junge Franzose; »und um dieses auch durch die Sinnenwelt an Gott zu erinnern, nehmen die Werke der Allmacht zuweilen den Schmuck der Schönheit an.«

»Ah, Sie sind gläubig!« sagte Judith. »Es überrascht mich immer von Neuem, daß es für den Glauben eigentlich gar keine Rätsel gibt.«

»Man muß sehr genügsam sein,« rief Florentin, »um sich mit den Auflösungen zufrieden zu geben, die der Glaube gewährt.«

»Ich sage nicht, daß er die Rätsel löse; das ist Sache der Intelligenz, die sich bei diesem Bemühen tausendmal für inkompetent erklären muß, wenn sie aufrichtig ist – und das ist sie selten. Ich sage aber: es gibt kaum Rätsel für den Glauben. Er legt das, was für unsereins unverständlich und unbegreiflich ist, gleichsam in einen Lichtstrahl, der von der Hand Gottes ausgeht und im Wiederscheine dieses Lichtes sieht er klar.«

»Dann stände ja der Glaube höher als die Intelligenz,« sagte der Fürst, »und das kann doch nicht sein, denn er muß durch sie geprüft und gesichtet werden.«

»Vielleicht um ihn in seinen Äußerungen und Tätigkeiten zu regeln,« sagte Judith. »Mir scheint aber, als stehe wirklich die Fähigkeit des Menschengeistes am höchsten, die das Rätsel der Welt auf eine übernatürliche Einheit zurückführt.«

»Ah! Oh! No!« hub der jüngste Engländer an; »die Fähigkeit ist die höchste, welche Signora besitzen: der Zaubergesang.«

»Sie denken wohl, der Villa Diodati gegenüber, an Lord Byrons Zauberlied: »When the moon is on the wave,« sagte Judith und rezitierte zum höchsten Entzücken der Engländer, worin der Russe und der Franzose pflichtschuldigst einstimmten, das Gedicht. Es war inzwischen ganz finster geworden und aus den tausend Wohnungen rings an den Ufern flammten Lichter auf, diese stummen Zeugen und Zungen von Menschentreiben, Menschenunruhe, Menschenleid, Menschenglück.

Judith ließ die Barke der Villa Diodati zuwenden. Sie hatte sich dort für einige Wochen niedergelassen, um sich von der furchtbaren Anstrengung zu erholen, in den großen Opernhäusern Europa's als Primadonna das Publikum zu entzücken. Obschon sie auch in diesem idyllischen Aufenthalt nie allein war und Tag für Tag Besuche empfing, so führte sie doch vergleichsweise ein sehr ruhiges Leben, da sie von keiner Verpflichtung abhängig und Herrin ihrer Zeit und ihrer Beschäftigungen war. Letztere bestanden darin, daß sie stundenlang auf dem See fuhr, viel las, etwas sang und etwas auch mit ihren Hausgenossen – und mit den Fremden, den Bekannten und den Verehrern, die sie umlagerten, sich unterhielt. Ihre Hausgenossenschaft bestand aus ihrer Mutter, aus einem italienischen Musiker Namens Lelio, den sie bei ihren musikalischen Studien zum Akkompagnieren, zum Transponieren, dann zur Durchsicht von musikalischen Manuskripten, die man ihr widmen wollte, und von Opernpartituren, die sie auf die Bühne bringen und berühmt machen sollte – ganz notwendig brauchte; und aus Florentin, der ihre pekuniären Geschäfte und ihre offizielle Korrespondenz führte – zwei Dinge, die ihr ein Gräuel waren. Lelio und Florentin hatten sich zuerst bei der Revolution in Rom als feurige Gesinnungsgenossen kennen gelernt. Als aber die Beschäftigung in diesem Fache durch die momentane Rückkehr zur bürgerlichen Ordnung unterbrochen wurde, widmete sich Lelio wieder der Musik, bekam eine Stelle im Orchester der Skala zu Mailand und lernte dort Judith kennen, die auf seine Brauchbarkeit schnell aufmerksam wurde, als sie zum ersten Mal nach Mailand kam, und ihn leicht bewog, eine Stellung in ihrer Umgebung einzunehmen. Sie fühlte damals, daß sie Jemand nötig habe, der firm in der italienischen Musik und Schule sei und den italienischen Geschmack gründlich kenne. Sie wußte, daß kein Beifall in Amerika und in England genüge, um ihr den gültigen Stempel einer großen Sängerin aufzuprägen, und daß die Sängerinnen erster Ordnung sich in Italien entweder ihre Bildung holen oder ihre Probe durchmachen müssen. Sie war fest entschlossen, eine Sängerin erster Ordnung zu werden, und versäumte nichts, was ihr dazu behilflich sein konnte.

Florentin war durch seinen verkehrten Freiheitstrieb eine Art von Vagabunde geworden. Er schweifte umher, er ging nach Amerika, er ging nach Europa zurück und nach England; er fand nirgends eine Stätte, nirgends einen Wirkungskreis, nirgends Ruhe. Seine innere Haltungslosigkeit machte ihn unfähig zu jeder beharrlichen und anstrengenden Tätigkeit. Die höchste Blüte menschlichen Hochmutes, der Subjektivismus, verschlang all' seine guten Kräfte oder vertrocknete dasjenige Erdreich seines Wesens, aus welchem sie sich gedeihlich hätten entfalten können. Für einen Menschen, der nichts kennt, nichts begreift, nichts will, als eine schrankenlose Entwickelung und Durchlebung seines Ichs, ohne andere Richtschnur als die, welche aus dem falschen System einer absoluten Freiheit entspringt, für einen solchen gibt es keinen Platz auf der Welt, so groß sie auch ist. – Es flossen ihm freilich überall einige Unterstützungen aus den Mitteln seiner Partei zu, die in Verbindung mit allen geheimen Gesellschaften und eigentlich nichts anderes ist, als deren in der Öffentlichkeit tätige rechte Hand. Diese Gesellschaften und Verbrüderungen, welchen Namen und welche Zeichen sie führen mögen, haben alle einen und denselben Hauptzweck: die Ausrottung aller positiven Religion – oder mit einem anderen und deutlicheren Wort: die Vertilgung der katholischen Kirche von der Erde. Aber nicht alle Mitglieder dieser Verbrüderungen legen öffentlich Hand an das Werk des Umsturzes und der Zerstörung. Das verbieten Verhältnisse und Rücksichten, Stellung und Charakter. Umsomehr sind sie bereit zu derjenigen Unterstützung, welche für alles, was einen Fortgang auf dieser irdischen Welt haben soll, mehr oder minder notwendig ist: sie spenden Geldmittel. Die Männer der öffentlichen Revolution sind gleichsam die Kriegstruppen der geheimen Revolution und werden als solche von dieser auf jede Weise unterstützt. Die einen werden zu Stellen und Ämtern befördert; die anderen erhalten Jahrgelder, um Reisen oder Studien im Sinne der Aufklärung und des Unglaubens zu machen; noch andere werden besoldet als Journalisten und Verfasser von Tendenzschriften; wieder anderen macht man einen erstaunlich großen Ruf hinsichtlich ihres Wissens, ihrer Talente, um auf diese Art ihr Fortkommen zu begünstigen; und so wird diese Armee der Revolution in stillen Zeiten durchgebracht, um in unruhigen alsbald auf ihrem Platz und dienstbereit zu sein.

Florentin empfing also wohl einige Unterstützung, allein sie entsprach nicht seinen Bedürfnissen, noch konnte sie seinen Ehrgeiz befriedigen! daher fühlte er sich mehr erbittert als verpflichtet, was von seinem kommunistischen Standpunkt aus nicht anders sein konnte. Nachdem er die unglückliche Wendelrose in ihre Heimat zurückgebracht und verschiedene Wanderungen durch Deutschland gemacht hatte, um den Stand seiner Partei nach so langer Abwesenheit zu rekognoszieren, ging er nach der Schweiz, deren Gletscher in einen Krater der Revolution verwandelt zu sein schienen, und stieß in Chamouny auf Lelio, der Judith's Kreuz- und Querzüge mitmachen und sie auf ihren Kunst- und Erholungsreisen begleiten mußte. Lelio freute sich sehr, seinen alten Genossen am Fuße des Montblanc wiederzufinden, nachdem er ihn am Fuße des Kapitols verlassen hatte – und da Judith einen gewandten und gebildeten Sekretär in ihrer Umgebung zu haben wünschte, der die neueren Sprachen geläufig schreibe, und da Florentin von Kindheit auf die praktische Übung dieser Sprachen hatte: so schlug Lelio ihn in der zwiefachen Eigenschaft seines Freundes und eines höchst brauchbaren Geheimschreibers ihr vor. Er ließ auch die Bemerkung fallen, Florentin sei ein Italianissimo, habe als solcher viele politische Verfolgungen ausstehen müssen und sei eines Ruhehafens recht bedürftig. Judith erwiderte mit ihrem kühlen Indifferentismus, Lelio wisse ja, daß sie sich für den politischen Fanatismus ebensowenig wie für den religiösen interessiere; daß sie aber gern einem Hilflosen, der brauchbar für ihre Absicht sei, einen Platz in ihrer Umgebung anweisen wolle, vorausgesetzt, daß er es verstehe, sich auf diesem Platz zu halten. Am anderen Tage bestieg sie den Montanvert und besuchte das große Eisfeld, das unter dem Namen mer de glace ebenso berühmt als sehenswürdig ist. Florentin hatte sich seinerseits zur mer de glace begeben; und auf diesem Punkt, einem der interessantesten in Europa, ließ er sich durch Lelio einer der berühmtesten Frauen von Europa vorstellen, deren Schönheit und Genialität ihn versöhnte mit der untergeordneten Stellung, die er bei ihr einnehmen sollte. Hätte Graf Windeck ihm den Vorschlag gemacht, sein Privatsekretär zu werden: so hätte Florentin ihn mit der äußersten Verachtung zurückgewiesen; aber Privatsekretär bei einer italienischen Primadonna, das war etwas ganz anderes! sie gehörte zu den Celebritäten des Jahrhunderts, sie war ein großes Genie, und Florentin betrachtete jedes Genie als einen gekrönten Sprößling der Freiheit – einesteils, weil es die breitgetretene Bahn der Alltäglichkeit verlasse und eigene Wege einschlage; andernteils, weil es mannigfache Kämpfe gegen eingerostete Vorurteile und mit dem Stumpfsinn der unempfänglichen Masse zu bestehen habe. Da Florentin sich selbst als einen Freiheitssprößling ansah, der durch die Ungunst der Verhältnisse noch nicht gekrönt sei, so fand er eine gewisse Verwandtschaft seines Geistes mit allen großen Genies, wenn auch nicht in der Begabung, so doch in der Richtung. Judith war indessen mit seinem Benehmen und seinen Leistungen zufrieden und behielt ihn.

»Wie lebt man denn mit der Signora Judith?« fragte er seinen Freund.

»O sehr gut!« entgegnete Lelio. »Sie ist sehr ungeniert und gönnt Jedem seine Freiheit; sie behandelt alle Leute, die mit Huldigung, Verehrung etc. etc. zu ihr kommen, über einen Leisten – und Gott weiß, wer nicht zu ihr kommt! Prinzen und Journalisten, Banquiers und Künstler, Neugierige und Touristen, Bettler und Krösusse! –

Sie nimmt, wie eine marmorne Göttin, jeden Ausdruck der Bewunderung an, möge er zu Tage kommen durch einen Blumenstrauß oder ein fades Gedicht, durch eine Liebeserklärung oder einen Diamantenschmuck. Zuweilen aber ist sie launenhaft, und dann nicht selten insolent.«

»Wer ist der primo amoroso?« fragte Florentin. Lelio zuckte die Achseln bis zu den Ohren hinauf und stieß das unnachahmliche »Eh!« der Italiener aus.

»Du wirst doch nicht mit mir den Verschwiegenen spielen wollen?« rief Florentin. »Ich frage ja nur, um mich auf meinem Platz zu orientieren und um nicht in Verlegenheit zu kommen und zu bringen.«

»Niemand kann das verraten, was er selbst nicht weiß,« erwiderte Lelio kaltblütig. Als Florentin ihm aber mit spöttisch fragendem Blick in die Augen sah, gab er lächelnd zur Antwort:

»O nein! – Ich kann Dir nur sagen, daß ich mich um ihre intimen Verhältnisse gar nicht bekümmere und kann Dir nur raten, in dieser Beziehung meinem Beispiel zu folgen. Ein gemeines Weib ist sie nicht! aber ....« –

»Nun – aber?« rief Florentin gespannt.

»Aber vielleicht ein böses!«

»Bah! sie wird doch nicht mit Gift und Dolch umgehen?«

»Nein; doch mit eiskalter Koketterie. Sie verlangt große Triumphe. Leute wie Dich und mich beachtet sie gar nicht.«

Lelio's Aufrichtigkeit verdroß Florentin ungemein und er gab seine Fragen hinsichtlich Judiths aus Empfindlichkeit auf. Wie nun auch seine eigenen Beobachtungen ausfallen mochten, er blieb ihr Privatsekretär und war bereits drei Jahre in dieser Stellung, als sie ihren Aufenthalt in der Villa Diodati nahm.

Judith's Schönheit hatte in dieser Zeit verloren und gewonnen; verloren – alle Frische und Weichheit der Jugend, allen Schmelz der ersten, unwiederbringlichen Blüte; gewonnen – eine gewisse tragische Ruhe in Ausdruck und Haltung. Sie schien beständig zu denken: Es ist nichts anzufangen mit dem Leben! ich weiß es aus Erfahrung! – –

Sie trat jetzt mit dem ganzen Schwarm ihrer Begleiter in den eleganten, hell erleuchteten Salon der Villa Diodati, wo Madame Miranes sie erwartete, und ihr entgegen rief:

»Lelio ist endlich zurückgekehrt!«

»O glückliche Nachricht!« rief der russische Fürst.

»Jetzt wird mir vielleicht die Wonne zu Teil »Casta Dia« zu hören.«

»Bester Fürst,« sagte Judith, »ich begreife gar nicht diese Marotte. Sie haben ja unzählige Male die Norma gehört.«

»O welch ein Unterschied, sie zu hören auf der Bühne, als Oper und mit dem ganzen Publikum – oder im Salon, und gerade diese eine Arie! das ist ein Genuß, der nur wenigen Lieblingen des Glückes zu Teil wird.«

»Diese Sucht nach dem Besonderen ist eben das, was ich Ihre Marotte nenne,« erwiderte Judith.

Aber der Fürst fuhr fort: »Ich flehe Sie an, Signora, lassen Sie den Herrn Lelio rufen, daß er seinen Platz am Pianino einnehme und die »Casta Dia« akkompagniere. Legen Sie Ihren Burnus nicht ab! er drappiert Sie unvergleichlich und bildet ganz ungesucht das Gewand der Druidin.«

Da alle Herren die Bitte des Fürsten unterstützten, sagte Judith endlich zu Florentin:

»Hätten Sie wohl die Güte, uns den Lelio zu holen?«

Ein Sturm des Entzückens brach aus und der junge Engländer wurde gesprächig vor froher Erwartung und sagte:

»Von den Druidinnen, die in meiner Heimat Wales recht eigentlich zu Hause waren, erzählt die Sage: sie hätten Lieder von so wundersamer Schönheit gesungen, daß sie die Meeresstürme damit bezaubert und zur Ruhe gebracht hätten. Das fällt mir immer ein, wenn ich Signora Judith die Norma singen höre.«

»Nur mit dem enormen Unterschied,« fiel der Fürst ein, »daß die Signora Stürme erregt, nicht beschwichtigt.« –

Florentin trat so eben mit einem ganz verstörten Gesicht wieder ein und berichtete dem erwartungsvollen Kreise, Lelio lasse sich entschuldigen, er liege bereits im Bett.

»Desto besser!« sagte Judith und warf ihren Burnus ab. »Sie brauchen über dies Mißgeschick nicht fassungslos zu sein, Fiorino.«

»Aber ich desto mehr!« rief der Fürst. »Seit vierzehn Tagen bin ich hier festgehalten durch ...«

»Ihre Marotte!« warf Judith lächelnd ein.

»Gut also! durch meine Marotte; werde von einem Tag auf den anderen vertröstet: Wenn Lelio kommt! – Er kommt, der Unglückliche, und legt sich mitten im Tage – denn es ist ja wohl kaum sieben Uhr – legt sich zu Bett!«

»Morgen ist auch noch ein Tag,« sagte Judith.

»Nicht mehr für mich!« rief der Fürst klagend aus. »Meine Paßerlaubnis ist bis zur äußersten Grenze ab gelaufen; ich muß fort.«

»Welche Sklaverei!« rief Morentin.

»Nun ja,« entgegnete der Russe kalt, »ohne einige Sklaverei lebt sich's nicht auf dieser sublunarischen Welt. Ketten von Oben und Unten, von Innen und Außen sind unser aller Los. Der eine gehorcht dem Czar, der andere dem Volk, der dritte einem geheimnisvollen Alten vom Berge, der vierte einem schönen Augenpaar: Ketten allüberall! Nur ein Mensch ohne alle Beziehungen könnte sich ihrer entledigen; damit würde er jedoch aufhören, Mensch zu sein.«

»Dennoch ist es sehr hart,« rief unbesonnen der Marquis d'Avallon, »von solchen Beziehungen umsponnen zu sein, die für eine geringe Überschreitung polizeilicher Ordnung nach Sibirien führen.«

»Oder nach Cayenne,« entgegnete der Fürst mit seinem verbindlichsten Lächeln.

Madame Miranes machte es sich zur besonderen Aufgabe, allen Gesprächen, die eine scharfe Wendung zu nehmen drohten, die Spitze abzubrechen. Bei den vielen und verschiedenartigen Menschen, die zu ihrer Tochter kamen, wachte sie darüber, daß sich alles in Ruhe und Harmlosigkeit bewege und unterhalte, und daß vor allen Dingen nie eine politische Diskussion geführt werde, von der nichts zu erwarten sei, als Erbitterung für die Redner und Langeweile für die Zuhörer. Jetzt rief sie lebhaft:

»Was Sibirien und Cayenne! ich sage etwas ganz anderes! ich sage Clarens! wir wollen morgen mit dem Dampfboot eine Exkursion an das Waadtländische Ufer machen und in Clarens die »bosquets d'Héloise« durchwandeln.«

Alle gerieten wieder in gute Laune. Marquis d'Avallon sagte triumphierend, der Genfersee trage eine wahre Krone von berühmten Namen; aber die glänzendsten unter diesen gehörten doch der »großen Nation« an: Voltaire, Rousseau, Madame de Staël. Dagegen behaupteten die Engländer, Lord Byron mit seiner schwunghaften Poesie überwiege bei weitem die beiden Letzteren, und Gibbon's skeptische Intelligenz dürfe sich mit Voltaire messen.

»Das Schloß von Chillon hat durch Lord Byron gleichsam eine unsterbliche Seele bekommen,« sagte der junge Engländer.

»Rousseau hat dasselbe für Clarens getan,« versetzte der Franzose.

»Welches Land schickt denn jetzt seinen kostbarsten Edelstein für die Krone des Leman?« wendete sich der Fürst an Judith.

»Mein Vater war ein Spanier,« antwortete sie, »und meine Kindheit verlebte ich in Cadix.«

»O herrlich!« rief Florentin. »Diese großen Genies, die sämtlich für das höchste Gut der Menschheit, für die Freiheit, schrieben und wirkten, haben nicht bloß ihren Schatten und ihren Namen an diesen Ufern zurückgelassen. Der Genius der Freiheit, der jetzt über der Schweiz sein Banner schwingt, ist hervorgegangen aus ihren Mühen, ihren Anstrengungen, ihren Studien, ihren Nachtwachen. Wahrlich, sie verdienen die Pilgerfahrt zu den Stätten, die sie unsterblich gemacht haben. Aber wenn der Erinnerung Rousseaus in Clarens gehuldigt wird, und Voltaire's in Ferney, der Frau von Staël in Coppet, Gibbon's in Lausanne und Lord Byron's auf dem ganzen See: so ist doch auch Vevay nicht zu vergessen. Dort ist das Grab eines Mannes der Tat, eines politisch großen Mannes ....« – –

»Oh! No!« unterbrachen ihn die Engländer, Vater und Sohn, die ihr Reisehandbuch auswendig wußten.

»Wer war der Mann?« fragte Judith gespannt.

»Es war Ludlow – einer jener Männer, die Carl von England auf's Schaffot schickten.«

»Wir sind Whigs,« sagte der alte Engländer, »aber wir lieben nicht das Schaffot für die Könige.«

»Ein sehr guter Geschmack, Mylord!« versicherte Madame Miranes. »Der Signor Fiorino hat Sympathien, vor denen man schaudert.«

»Ich meinesteils,« sagte Judith, »schaudere vor all diesen prunkhaften Sympathien mit Leuten, die doch weiter nichts getan, als eine Masse Bücher in die Welt geschleudert haben, welche von Millionen, ohne den mindesten Nachteil für Leib und Geist – nicht gelesen – hingegen von Tausenden zu ihrem größten Schaden gelesen werden. In die Bewunderung des Genies legt man eine lächerliche Übertreibung.«

»Aber was soll man bewundern, wenn nicht das Genie – diese göttliche Flamme des menschlichen Geistes!« rief der Fürst verwundert.

»Das ist es eben,« entgegnete Judith, »man weiß nicht, was man bewundern soll, und deshalb verfällt man auf diesen Kultus, bei welchem unausbleiblich ein paar Weihrauchkörner für den Adoranten selbst abfallen, indem sich jeder – versteht sich in tiefster Stille des Herzkämmerleins – eine gewisse Ähnlichkeit oder Beziehung, oder Verwandtschaft mit dem Genie zuspricht.«

Der junge Franzose, der bei der Wasserfahrt gesagt hatte, die Schöpfung sei das Werk Gottes, besann sich, ob er nicht einen Mann nennen solle, der gleichfalls an dem Ufer dieses Sees, in dem kleinen Städtchen Thonon, in großer Mühsal und Demut seine glorreiche Laufbahn begann und von dessen Schriften das Gegenteil von Judiths Behauptung galt: denn es ist ein Schaden für die Seelen, die Werke des heiligen Franz von Sales nicht zu kennen., Aber wenn sich auch der französische Mut bis zu der Verwegenheit erhob, Gott als den Schöpfer der Natur zu bekennen, so ging er doch nicht so weit, um auf Gottes übernatürliche Schöpfung, die Gnadenwelt – und auf deren übernatürliche Genie's, die Heiligen – Judith mit ihrem ungestillten Bewunderungsverlangen hinzuweisen. In der Gesellschaft von zwei Jüdinnen, zwei Hochkirchlern, einem Russen und einem Kommunisten den heiligen Bischof von Genf als überebenbürtig von Voltaire und Gibbon zu nennen – nein! zu dieser Großtat des Glaubens erschwang der Marquis d'Avallon sich nicht und er, der einzige, der von dem großen und liebenswürdigen Heiligen hätte sprechen können, er nannte ihn nicht.

Endlich empfahlen sich die Herren und begaben sich nach Genf zurück. Als Judith mit ihrer Mutter allein war, sagte sie zu Florentin:

»Was ist denn dem Lelio widerfahren? Sie kamen ja in einem entsetzlichen Zustand von ihm zurück.«

»Das wird er Ihnen selbst sagen!« brach Florentin aus. »Mir fehlen die Worte, um eine solche Schmach zu bezeichnen.«

»Hat er gestohlen?« rief Madame Miranes beängstigt.

»Oder ein anderes Verbrechen begangen?« fragte Judith, ihrerseits beunruhigt.

»Er hat gebeichtet!« sagte Florentin dumpf.

»Nun, was denn?« fragte Madame Miranes neugierig. »Hat er Ihre oder seine Geheimnisse ausgeplaudert?«

»O Gott! Sie verstehen das nicht!« rief Florentin ungeduldig. »Er ist ein Apostat der Gewissensfreiheit geworden! er ist zum Kreuz zurückgekrochen! er hat das Joch der Pfaffenherrschaft auf seine Schultern genommen! Ha! so sind diese Italiener: unzuverlässig bis in's Mark hinein!«

»Aber, bester Fiorino, weshalb wüten Sie so?« sagte Judith gelassen. »Sie predigen ja Gewissensfreiheit für jedermann. Nun, so lassen Sie doch auch dem armen Lelio das Recht, die Freiheit seines Gewissens zu wahren und zu üben, wie es ihm zusagt.«

»Wenn es ihn von der Sache der allgemeinen Geistesbefreiung abtrünnig macht – nein! und abermals nein!«

»Das ist leeres Gerede! warum soll er seine Idee von Freiheit der Ihren – oder der Idee von Millionen opfern? Wo ist das Richtige? wo ist die Wahrheit? wer bürgt dafür? auf diesem Gebiet beweisen große Zahlen gar nichts! Millionen können irren und einer kann ihnen gegenüber das Rechte und Richtige verteidigen und die Wahrheit behaupten. Also nicht über Lelio hergefallen, mein Bester!«

»Sie sind ein großes musikalisches Genie, Signora,« rief Florentin empört, »und haben überhaupt manche eminente Fähigkeit. Geht Ihnen aber nicht das wahre Licht der Erkenntnis auf und bemühen Sie sich nicht, für dasselbe zu wirken – was einer geistreichen Frau in einer bewunderten Stellung so leicht ist – so werden Sie nie mitzählen unter den Größen des Jahrhunderts.«

Er stürmte hinaus und Madame Miranes sagte:

»Das fehlte noch! eine Barrikadengöttin für den Signor Fiorino! Liebes Kind, ich habe andere Wünsche für Dich. Du hast jetzt ein großes Vermögen und eine große Berühmtheit erworben; es wird nun Zeit, an eine glänzende Heirat zu denken. Wie gefällt Dir der russische Fürst?«

»Gar nicht,« sagte Judith trocken.

»Es wäre doch nicht übel, Fürstin – – wie heißt er denn eigentlich? – zu werden. Nach so vielen Theaterkronen würde sich eine solide Fürstenkrone gar passend auf Deiner Stirn ausnehmen und Dein Streben wahrhaft krönen.«

Madame Miranes küßte die Stirn ihrer Tochter und verließ den Salon. Judith legte sich matt in einen Sessel zurück und sagte halblaut:

»Welch' eine Menagerie – von Menschen umgibt mich!«

Da öffnete sich die Balkontüre, die Vorhänge rauschten und Orest trat in den Salon. Judith sah ihn befremdet an und sagte:

»Was fällt Ihnen ein, Graf Orestes! wir sind beide zu alt, um Versteckens zu spielen.«

»Ich spiele nicht, Signora,« erwiderte Orest und setzte sich ihr gegenüber; »und ich wünschte sehnlichst, daß auch endlich einmal das Spiel von Ihrer Seite aufhören möge.«

»Zu dieser, wie es scheint, höchst ernsten Unterhaltung – denn Sie sehen finster wie die Nacht aus – wollen wir doch eine gelegenere Stunde wählen,« sagte Judith und wollte aufstehen. Aber Orest ergriff ihre Hände, hielt sie fest und sagte:

»Mit nichten, Judith! glauben Sie, ich hätte drei Stunden auf dem Balkon gewartet, um mich jetzt fortschicken zu lassen? um Sie morgen wieder nicht allein, sondern in Ihrer Menagerie zu finden? um von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr, in der immer gesteigerten Qual der Ungewißheit zu verharren? Nein, Judith! das geht nicht mehr! Sie müssen mir Rede stehen.«

»Gut!« sagte sie, schob ihren Lehnstuhl zwei Schritte zurück, legte die Arme über einander und sah ihn an mit ihren wunderschönen, wie schwarze Diamanten glänzenden Augen, über welche lange Wimpern einen zarten, dunkeln Schleier warfen. Sie sah bezaubernd aus.

Orest betrachtete sie eine Weile, drückte dann heftig beide Hände vor's Gesicht und sagte halbleise:

»Judith! .... ich liebe Dich!«

»Darauf hab' ich nichts zu antworten!« sagte sie.

»Ha!« rief er, sprang auf und stampfte wild mit dem Fuß auf den Boden; »wenn Sie nicht darauf antworten können, so dürfen Sie es auch nicht anhören.«

»Wer hört es nicht gern, das süße Wort von der Liebe?« entgegnete Judith mit so weichem Ausdruck in Ton und Blick, daß Orest wieder gefangen und entwaffnet wurde und zärtlich bat:

»Aber das Wort werde erwidert, Judith!«

»Ich bin von wenig Worten, Graf Orestes, das wissen Sie ja längst.«

»Wie Sie mich foltern!« rief er.

»O armer Martyrer der Liebe,« entgegnete sie lächelnd.

»Und wenn ich des Martyrtums überdrüssig werde?«

»So verleugnen Sie mich!« sagte Judith in einem Tone, der mit tausend Schlingen sein Herz, umspann; »aber erwarten Sie nie von mir, daß ich je zu Ihnen von Liebe sprechen könnte! Dadurch wird das Weib des Mannes Sklavin; er weiß sich geliebt – und triumphiert. Das Weib hingegen findet keinen Triumph in der Gewißheit, geliebt zu werden – sondern ein Glück. Er kann sprechen; schweigen muß sie.«

»Bis auf einen gewissen Punkt können Sie recht haben. Allein das Schweigen darf nicht lange genug währen, um Zweifel zu wecken.«

»Graf Orestes! ich habe Ihnen einmal vor Jahren ein Wort gesagt. Wissen Sie es noch?«

»Ob ich es weiß! ob es mir nicht Tag und Nacht das Herz durchklingt! Judith! Alles für alles – so lautete das Wort.«

»Das ist doch gewiß klar und verständlich; und Sie haben es dennoch mißverstanden. Als Sie zuerst in Mailand um meine Liebe warben, da sprach ich: Alles für alles! – und Sie? was taten Sie, Graf Orestes? – Sie gingen hin und vermählten sich mit Ihrer schönen Cousine. Kaum waren die Flitterwochen vorüber, so lagen Sie wiederum zu meinen Füßen. Konnte ich anders, als diese – Liebe kann ich unmöglich sagen! – als diese Sorte von Liebe tief zu verachten? Wer auf die Zusage: Alles für alles – so antwortet, der versteht sich nicht auf die Liebe des Weibes, überhaupt nicht auf die Liebe des Herzens – und eine andere mag ich nicht! – Damals sprach ich Ihnen unumwunden meine Verachtung aus und stieg bei Ihnen im Preise, als Sie erkannten, daß ich so leichten Kaufes nicht zu gewinnen sei. Sie wurden erzürnt, gekränkt. Sie gaben Ihre Liebesversicherungen nicht auf und sprachen viel vom Drang der Umstände und von schuldiger Berücksichtigung der Familienverhältnisse – was mich natürlich nicht im mindesten von Ihrer Liebe zu mir überzeugen konnte. All' die heftigen Szenen, all' die bitteren Vorwürfe, welche ich Ihnen hätte machen können, machten Sie mir unter dem Vorwand Ihrer glühenden Leidenschaft – was mich natürlich, als eine armselige Komödie, sehr langweilte. Und so trennten wir uns, wie ich glaubte – auf immer! Aber Sie kamen wieder, Sie suchten mich von neuem auf, Sie drängten sich an mich; meine Kälte, meine Gleichgültigkeit stieß Sie nicht zurück; Sie behaupteten, nicht von mir lassen zu können – und dies haben Sie allerdings bewiesen, denn seit drei Jahren sind Sie, bald nach längeren, bald nach kürzeren Pausen, nach Paris, nach der Insel Wight und wieder nach Paris mir gefolgt. Diese Beharrlichkeit würde mich rühren und ich könnte sie wohl als einen Beweis von aufrichtiger Liebe betrachten, wenn ich nicht wüßte, daß versagtes Glück reizender für das Menschenherz ist, als erlangtes; denn um die Hoffnung schwebt stets ein Abglanz von der Unendlichkeit und auf der Erfüllung liegt stets ein Schatten des Todes – die Endlichkeit. So sind Sie nicht allein; so ist der Mensch, so ist sein melancholisches Schicksal. Aber weil ich das weiß, so betrachte ich die Extravaganzen Ihrer Leidenschaft und Ihr Beharren bei derselben auch noch nicht als die wahre Liebe. Die muß sich aussprechen in einer Tat, einer entscheidenden lebenumfassenden Tat; und deshalb sage ich heute, wie damals: Alles für alles. Nur sage ich es jetzt mit noch größerer Entschiedenheit, denn Sie sind mir jetzt eine Ehrenerklärung für die tötliche Beleidigung schuldig, eine frivole Liebelei bei mir gesucht zu haben.«

»Das hab' ich nie!« rief Orest und ließ die Hände sinken, mit denen er, so lange Judith sprach, sein Gesicht bedeckt hatte. »Das nie! ich habe immer gefühlt, daß Sie die Herrin meines Schicksals sein würden und habe niemals begehrt, den Zauberbann zu lösen, der mich an Sie fesselte. Zu Ihren Vorwürfen, daß ich mich mit meiner Cousine vermählte, muß ich schweigen – denn ich hab' es getan! ich wußte, daß mein Glück in dieser Ehe nicht liege – und ging sie dennoch ein. Ich war ein leichtsinniger Tor, der sich von den Verhältnissen überrumpeln ließ, oder besser gesagt, der vor ihnen erlag. Sie haben keine Ahnung davon, was das ist: die Familientradition, dies Forterben des Standes, des Namens, des Vermögens, der Erinnerungen, der Wirksamkeit, von einem Geschlecht auf das andere. Sie ist so mächtig, daß ich mich ihr gegenüber gefangen und wehrlos fühlte.«

»Kann sein!« erwiderte' Judith. »Indessen mag doch auch die Schönheit der Gräfin Windeck diese Gefangenschaft nicht reizlos gemacht haben.«

»Eifersucht, Judith?« rief Orest freudestrahlend. »O wenn das ist, so werden Sie begreifen, in welchem Kreuzfeuer ich stehe, wenn ich sehen muß, wie man Ihnen huldigt – und wie ich zittern muß bei dem Gedanken, daß einer unter den vielen Ihr Herz gewinnen könnte – und daß ich dieser Eine vielleicht nicht bin! O dann werden Sie Mitleid mit mir haben, nicht wahr, Judith?«

»Wer hat denn Mitleid mit mir, Orest?« sagte sie sanft. »Sie gehen zurück zu Gräfin Windeck ....« –

»Ein Wort von Ihnen, Judith, und ich bleibe!«

»Alles für alles! – Ist dies das Wort, Graf Orestes, welches Sie nicht hören möchten?«

»Judith!« sagte er mit gepreßter Stimme, »Sie sind ein dämonisches Weib.«

»Das sagen die Männer sehr leicht, sobald man nicht mit ihnen einverstanden ist,« erwiderte sie kalt. »Und das muß abwechseln mit dem Ausruf: herzloses Weib!«

»O könnte ich Sie doch hassen, Judith!« rief Orest, sprang vom Stuhl auf, hielt mit beiden Händen seinen Kopf und eilte auf den Balkon.

»Stürzen Sie sich nur nicht in den See! – er ist sehr kalt!« rief ihm Judith nach. »Armer Orest!« setzte sie nach einer Weile mit ihrer Sirenenstimme halblaut hinzu. Als er nicht kam, folgte sie ihm auf den Balkon. Er hatte sich auf einen Stuhl gesetzt, die Arme auf das Eisengeländer – und den Kopf auf die Arme gelegt.

»Kommen Sie doch herein, Orest!« sagte Judith und berührte ganz leise sein gesenktes Haupt. »Die Luft ist feucht und der nächtliche Tau schädlich.«

Er stand auf und folgte ihr in den Salon, willenlos wie ein Kind.

»Ich kann Sie nicht hassen, Judith!« seufzte er.

»Graf Orestes,« nahm sie wieder mit ihrem kühlen Tone das Wort, »Sie veranlassen immer Gespräche mit mir, bei denen Sie ganz Feuer und Flamme werden und Gefahr laufen, in ein kaltes oder ein hitziges Fieber zu verfallen, je nachdem die Wagschale mit Haß oder Liebe sich mir zusenkt. Ist das vernünftig? ist das liebenswürdig? was kann man mit einem zu solchen Excessen geneigten Mann anfangen?«

»Ihn lieben, Judith.«

»Vor der Hand nicht! sondern ihm Gute Nacht wünschen,« antwortete sie scherzend, schellte und sagte zu dem eintretenden Diener: »Graf Windeck's Wagen.«

Orest machte Anstalt, den Befehl zu überhören, indem er sich in einen tiefen Lehnstuhl versenkte und drei Journale auf einmal zur Hand nahm. Da öffnete und schloß sich leise eine Seitentüre des Salons; und als er aufblickte, war Judith verschwunden und er allein. Ohne mir Gute Nacht gesagt zu haben! murmelte er und blickte ihr zornig nach. Dabei fiel sein Auge auf den Burnus, der über dem Lehnstuhl hing, in welchem Judith ihm gegenüber gesessen hatte. Er sprang auf, ergriff den unschuldigen Burnus, zerriß das feine Gewebe von oben bis unten, drückte es an seine Lippen – und eilte zu seinem Wagen.

Als er fortrollte, kehrte Judith in den Salon zurück, fand ihren Burnus zerrissen am Boden liegen, hob ihn auf und sagte für sich: »Du armer Mantel! auf dem Webstuhl zu Marocco träumte dir vielleicht davon, in die Klauen eines Tigers oder eines Löwen des Atlas zu fallen und zerfetzt zu werden – und jetzt erfüllt sich Dein Schicksal nicht in Afrika's Wüste durch wilde Bestien, sondern am eleganten Genfersee durch ein Menschenkind!« Sie wickelte sich in ihren zerrissenen Burnus ein und ging auf den Balkon, und ging auf demselben auf und nieder, eine Stunde, und noch eine Stunde – und fand nicht einmal die Ruhe der Ermüdung in diesem rastlosen Wandeln: so unruhig waren ihre Gedanken.

Immer drängten sich diese Gedanken der Zukunft zu; aber nicht, um sich über freundliche und glänzende Bilder hingleiten zu lassen; nicht, um bei Phantasiegebilden von Freuden und Genüssen zu verweilen, oder um Lebensverhältnisse mit lieblichen Farben auszumalen. O nein! – Lechzend, atemlos, durstig, standen ihre Gedanken vor der dunkeln Zukunft und fragten: Was birgst du mir? Was bringst du mir? Bist du die Sphynx, die das Rätsel meines Lebens mir vorlegt? und muß ich unter deinem steinernen Griff umkommen, wenn ich es nicht löse? Gelöst hab' ich meine Aufgabe nicht, denn ich habe keine Befriedigung gefunden. Und doch hab' ich alles erreicht, was ich damals in den Citronenhainen von Cintra mir zu erreichen vornahm. Ich habe Gold, Ruhm und Bewunderung eingeerntet; ich habe Welt und Menschen in bunten und glänzenden Gestalten, in fesselnden und interessanten Erscheinungen – nebenbei auch in allen ihren Niedrigkeiten kennen gelernt; ich habe Freude gehabt an der Kunst, an der Ausübung meines Talentes, an den Studien, die damit verbunden sind, an der Begegnung mit anderen, die eines Weges mit mir gingen. Ich habe mit stolzem Selbstgefühl die Huldigung der einzelnen und der Massen empfangen. Ich habe Triumphe gefeiert – aber sie verrauschen, und die alte Leere und die alte Unruhe sind wieder da. Es war zuweilen wohl still in meiner Brust, aber die Stille der Ermüdung, die Stille dumpfer Resignation, wenn ich zu mir selbst sprach: Laß sie dahinrollen, die Welt und das Herz und die Zeit und das Leben! laß sie gehen, wie sie wollen und können! das Menschenschicksal ist nun einmal ein Ringen ohne Sieg! und wenn ich so zu mir selbst sprach, so kroch mir ein Etwas wie Verzweiflung durch alle Adern, alle Nerven, alle Fibern – und ein anderes Etwas stemmte sich dagegen und schrie in mir: Nein! das Leben muß etwas anderes sein, als ein Ringen aus dem Nichts, für das Nichts, in das Nichts! gerade dies Ringen beweist, daß es ein Ziel habe und daß es folglich auch einen Sieg gebe – und in dem Siege Befriedigung! Aber wo ist sie – die Befriedigung? Sphynx meines Schicksals, habe ich dich noch immer nicht verstanden mit deinem geheimnisvollen dunkeln Blick? Meinst du die Liebe? – Ja, die große Leidenschaft, von der man zuweilen hört und liest, mag wohl solchen Zauber haben, daß sie, wenn sie mit vielen Schmerzen und Bitterkeiten Hand in Hand geht, das Herz befriedigt. Aber die kommt, man weiß nicht wie und woher; die kann man nicht erringen, man fühlt sie nur. Empfunden hab' ich sie nie. Ob ich sie einflöße? ich weiß es nicht. Die armseligen Lieben aber, durch welche der frische Schmelz des Herzens, der Blütenduft des innersten Wesens trüb' und matt wird – und welche sich doch wiederholen, weil sie einem Opiumrausch gleichen, der des Menschen Träume lieblicher macht als seinen wachen Zustand – nein! für sie bin ich nicht mehr jung und noch nicht alt genug. – – Und sie verfiel in trübes Sinnen über diese traurigen Lieben, an die auch sie gestreift war und die ihr Herz gepanzert hatten mit einer so kalten und gründlichen Verachtung von allem, was man Liebe nennt, daß sie – mit sich selbst allein – auch sich selbst verachtete. Aber dann erwachte der Stolz und schüttelte diese Bürde ab, hob trotzig das Haupt und schaute nach anderen Triumphen aus. Orest liebt mich – fuhr sie fort in ihren Gedankenzügen. Er soll mich lieben. Er hat mich für eine leichte Eroberung gehalten: dafür will ich eine große Genugtuung. Gräfin Windeck will ich werden. Ja, ich will in den Kreis dieser Hochgeborenen hinein; aber nicht als die berühmte Sängerin, der sie eine Ehre zu erzeigen meinen, wenn sie ihr ein paar bewundernde Worte zuwerfen und die sie als eine exotische Merkwürdigkeit, für die Dauer einer Soiree, in ihrem Salon aufweisen möchten, um am anderen Abend mit leichtem Augenblinzeln hinter Fächer und Lorgnette über sie hinweg zu sehen. O man kennt diese Hochgeborenen! Und gerade in ihrem Kreise will ich Platz nehmen, gerade zu ihnen will ich gehören, als ihresgleichen will ich durchs Leben gehen. Dies gehört nicht zu den Vorsätzen von Cintra! die sind erreicht und abgetan. Dies ist ein neuer Vorsatz: noch ein paar Jahre, höchstens, meines glanzvollen Kunstlebens und dann mitten aus dem Glanz der Öffentlichkeit in ein glänzendes Privatleben. Sphynx meiner Zukunft, ist das dein Rätsel? und wird dessen Lösung mir besser Stich und Farbe halten, als der Erfolg meiner Pläne von Cintra? – Da flog ihr durch's Gedächtnis, daß sie vor wenigen Stunden zu Orest gesagt hatte: auf jede Erfüllung eines ersehnten Glückes falle ein Todesschatten von Endlichkeit. Sie schauerte in sich selbst zusammen und strich das Haar von der Stirn, als ob sie die quälenden Gedanken verscheuchen wolle und blickte über den See hinweg, einen Gegenstand suchend, der wenigstens ihr Auge fesseln möge. Da fuhr der Nachtwind auf und blätterte im Osten das Gewölk auseinander, das wie eine silbergraue Rose über das Gebirg herauf schwebte und sanft sich öffnete und immer tiefer unter der aus ihr aufsteigenden Mondessichel zurücksank. Und mit dem vollen Glockenton ihrer goldenen Stimme hub Judith zu singen an: »O casta dia« und niemand blickte in ihr Auge, als das melancholische Licht des Mondes im letzten Viertel – und niemand begleitete ihren Gesang, als die leise plätschernden Wellen des Genfersees – und einsam stand sie da, wie der Genius dieser nächtlichen Natur, der an die Schatten gebannt ist und die Flügel zu regen sucht, um ihnen zu entfliehen und immer tiefer und tiefer in sie zurücksinkt und sich sehnt nach Erlösung.


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