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In Sinnen verloren saß Corona am Schreibtisch, den Brief in der einen Hand und in die andere den Kopf gestützt – so lieblich in ihrer Erscheinung, ihrem Ausdruck, ihrer Haltung, daß die volle ehemännische Gleichgültigkeit dazu gehörte, um eine andere Frau ihr vorzuziehen. Ihr lichtbraunes Haar war à 1a Valois in weichen Wellen zurückgeschlagen und ließ die Stirn ganz frei, die weiß wie Alabaster, an den Schläfen ein feines bläuliches Geäder, zart wie auf Blumenblätter getuscht, durchschimmern ließ. Vom zartesten Schnitt waren ihre Züge, vom zartesten Rosenhauch ihr Kolorit und mit einer ihr eigentümlichen Grazie hoben und senkten sich ihre langen, gebogenen Wimpern über ihr mildes, aber melancholisches Auge. Sie trug ein Kleid, wie es sich für die Jahreszeit paßte, von schwerem Seidenstoff, perlgrau mit korallenfarbenen Ramagen, und Broche und Ohrringe von geschnittenen Korallen und eine Fülle von Spitzen fiel von ihren schmalen weißen Händen zurück. Sie sah aus, wie eine wunderschöne Blume aus einem fremden Himmelsstrich – fein und zart organisiert an Leib und Seele, an Herz und Geist. Ein Ausruf des Kindes weckte sie aus ihrem Nachsinnen.
»Mama!« sagte Felicitas im Tone des Erstaunens und zeigte mit dem Finger nach der Türe, die aus dem Kabinett in den Salon führte. Corona wendete sich nach der Türe um: da stand Uriel. Sie streckte ihm beide Hände entgegen, aber sie zitterte so heftig, daß sie nicht aufstehen konnte. Die Erinnerung an den Abschied damals in Windeck – und an alles, was zwischen dem Damals und Jetzt lag, überwältigte sie und sie brach in Tränen aus.
»Corona, Du weinst! .... und ich freue mich!« rief Uriel, und drückte und küßte ihre Hände.
»O, ich freue mich auch,« sagte sie, trocknete ihre Augen und suchte sich zu fassen; »aber Du hast mich erschreckt. Sieh', Uriel, dies ist Felicitas.«
Die Kleine hatte bei dem Eintritt eines Fremden ihre Puppenwelt verlassen und sich zur Mutter geflüchtet. Uriel hob sie auf, stellte sie vor sich auf den Tisch und sagte zärtlich:
»Also Du bist Felicitas! Sei willkommen! und sei das Glück Deiner Eltern, Du liebes Kind! .... Wo ist Orest?« setzte er in einem Tone hinzu, der die Erwartung verriet, er werde die Antwort bekommen: Auf der Jagd.
»Er ist verreist – er braucht die Seebäder in Genua,« entgegnete Corona beklommen.
»Orest – Seebäder des Südens!« rief Uriel in höchster Verwunderung. »Wenn Du es wärest!«
»O nein,« sagte sie abbrechend, »ich bin wohl und brauche desgleichen nicht. Aber nun sprich von Dir, nun erzähle, Du Weltumsegler! Was hast Du gesehen, gehört, gedacht, getan!«
»Gesehen: wie schön Gott die Erde geschaffen – und wie häßlich die Menschen sie und sich selbst gemacht haben. Gehört: mehr Worte als Wahrheit. Gedacht: eines; nämlich – das Menschenherz ist größer als der Erdball. Getan: nichts.«
»Du bist ein lakonischer Berichterstatter,« sagte Corona lächelnd.
»Ich habe Dir die Quintessenz meiner Reiseerfahrungen gegeben; ist das nicht die Hauptsache? Allerlei Bilder lassen sich wohl später ausmalen und dienen mehr zur Unterhaltung, als daß sie der Teilnahme genügten. Und deshalb ist jetzt an Dir die Reihe, mir einen Abriß Eures Lebens zu geben.«
Corona legte sanft ihre Hand auf das lockige Haar ihres Kindes und sagte himmlisch freundlich:
»Felicitas.«
»Du bist aber doch noch lakonischer als ich!« entgegnete Uriel gerührt.
»Ich habe auch keine Weltfahrten gemacht!« rief sie heiter.
Dann fragte er nach dem Vater, nach Onkel Levin, nach Hyazinth, nach Tante Isabelle, nach ganz Windeck. Nach Regina fragte er nicht. Aber Corona erzählte von allen und allem und auch von der geliebten Schwester: daß dieselbe den Klosternamen Therese trage – und daß sie alle einmal im Jahre von Windeck aus sie in Himmelspforten besuchten und im Sprachzimmer sie sehen und sprechen dürften. »Das heißt, wir sehen sie hinter dem Gitter und sie schlägt nie ihren Schleier auf. Auf Wiedersehen im Himmel! sagte sie am Tage ihrer feierlichen Einkleidung, und als der Vater sie vor der Ceremonie noch einmal zu sehen und zu sprechen verlangte. Sie war, wie es üblich ist, noch in dem glänzenden weltlichen Anzug, den sie gleich darauf mit dem groben braunen Habit der Karmelitessen vertauschen sollte. Wie eine Königin stand sie da, in dem weißen Seidenkleide und mit den herrlichen Perlenschnüren von der seligen Mutter um den Hals – wie die Königin einer höheren Welt, in welcher Diamanten als Staubeskörner gelten. So stand sie da und das Gitter im Sprachzimmer war weit geöffnet. Der Vater hatte durchaus verlangt, sie im letzten Augenblick zu sprechen und wir waren alle dabei. Alle Verwandten waren gekommen zu der heiligen Feierlichkeit, die der Bischof vollzog. Papa sagte ihr vieles und Onkel Levin auch ein paar Worte; aber sie erwiderte nur: Der Bräutigam ruft, ich muß ihm folgen! und ähnliches mehr, ganz sanft, ganz bestimmt – wie sie immer war. Endlich kniete sie am Gitter nieder und bat Papa und Onkel Levin um ihren Segen – und als sie dann aufgestanden war und uns alle und jeden einzelnen ansah mit ihrem tiefen unvergeßlichen Blick, da sagte sie: Auf Wiedersehen im Himmel! und wie eine wandelnde Lilie verließ sie das Zimmer. Jetzt, wenn wir kommen, ist sie immer von einer ganz herzzerschmelzenden Liebe, als ob sie ihr Leben aushauchen möchte, um Seelen zu Gott hinzuziehen. Diesen Sommer fragte ich sie: Kommst Du vom Kalvarienberg, um so zu lieben? Da antwortete sie so recht nach alter Art, damit nur niemand sie für etwas Besonderes halten möge: Ach nein! aus meiner Zelle! Wir gehen dann immer in die Klosterkapelle, um sie singen zu hören; am Abend nach der Vesper ein Salve Regina oder Regina coeli, laetare«. Die Karmelitessen singen wunderschön, mit gedämpfter Stimme, nach der Tradition der heiligen Therese, welche gesagt hat, die laute Stimme, der weithin tönende Gesang schicke sich nicht für Klosterfrauen, bei denen alles das Gepräge der Abtötung, nicht der natürlichen Gabe, tragen müsse. Und so singt denn auch Regina wie vom Himmel herab. Die Leute kommen aus der Stadt, um sie zu hören. Ihre Stimme schwebt gleichsam über den anderen Stimmen, wie ein Balsamduft über Blumen. Ach, Uriel, von Regina gilt das Wort unseres Heilandes: Sie hat den besten Teil erwählt!«
»Für sich selbst – gewiß!« sagte Uriel.
»Auch für uns!« entgegnete sie. »Regina ist unsere Beterin. Es gibt in den Familien einige Glieder, die zahlreichsten, welche für irdischen Bestand und irdische Wohlfahrt der Familie sorgen. Damit sich diese nicht zu tief und zu ausschließlich in das Irdische versenke und verliere, hat sie auch andere Glieder, welche ihr himmlische Gnaden zuwenden. Das Gebet des Gerechten vermag viel: so lehrt und beweist uns die heilige Schrift. Wir sind reich an betenden Seelen: Onkel Levin, Hyazinth, Regina.«
»Und was haben sie denn für Dich erbeten?« fragte er bewegt und blickte in ihr melancholisches Auge.
»Das, was mir not tut, lieber Uriel,« sagte sie mild.
»Nun aber sprich von Orest!« rief er.
»Diesen Brief erhielt ich soeben von ihm; der sagt Dir alles, was ich selbst weiß,« entgegnete sie ausweichend und reichte ihm das Schreiben. »Daraus wirst Du sehen, daß ich am Vorabend einer Reise nach Italien bin. Morgen werden die Koffer gepackt, übermorgen gehe ich nach Windeck und mit dem Papa gen Süden, nach Rom – wo ich Orest finde.«
Uriel war über allemaßen durch den Inhalt dieses Schreibens betroffen. Orest brauchte enorm viel Geld – Corona sollte nichts brauchen! Er reiste mit Reitpferden – sie sollte ohne Diener reisen! Zuerst nannte er sein Pferd – dann sein Kind! Er fing an, ihre melancholischen Augen zu verstehen. Sie sprachen den ganzen Abend traulich und offenherzig wie Geschwister mit einander; aber Coronas eheliche Verhältnisse berührten sie nicht. Corona schwieg darüber und Uriel fühlte alles, was in diesem Schweigen lag. Als er ihr seine Verwunderung aussprach, daß sie ihr Söhnchen nicht in ihrer Nähe habe beerdigen lassen, sagte Corona:
»Sieh', ich bin hier nicht recht heimisch!« Aber gleich setzte sie erklärend hinzu: »Ringsumher alles protestantisch – das macht mir den Eindruck von unüberwindlicher Fremdheit.«
»Und die Kapelle?« fragte er.
Corona kramte tief in ihrem großen chinesischen Arbeitskorb, um ihr Erröten zu verbergen und wo möglich die Frage im Eifer der Geschäftigkeit zu überhören. Als Uriel sie aber wiederholte, schlug Corona ihm zierlich mit einer Häkelnadel von Elfenbein auf die Finger und erwiderte:
»Warum hast Du sie nicht ausgebaut? Wir haben kein Geld dazu.«
Ihn überfiel ein unsägliches Mitleid mit dieser Frau, die in der Blüte der Jugend und Schönheit, und umringt von Reichtum und Wohlbehagen dennoch ein verzichtendes Leben zu führen hatte, dessen Entbehrungen grell abstachen gegen den äußeren Glanz. Sie rührte ihn umso mehr, als sie sehr heiter war. Ihre Kindheit und ihre erste Jugend wachten in tausend Bildern und Erinnerungen in ihr auf, als sie Uriel wiedersah; die zehn Jahre, die er vor ihr voraus hatte, trugen dazu bei, jene aufzufrischen und zu vervollständigen; und daß er darauf einging, daß er es nicht langweilig fand, wie Orest, von der Vergangenheit zu sprechen; daß er nicht vergessen hatte diese Kinderei und jenen Scherz und daß er gar noch mehr wußte als sie – das stimmte sie so froh, wie sie lange nicht gewesen war, die arme Corona. Diese Freude traulicher Mitteilung war ein seltener Gast bei ihr; denn derjenige, auf den sie von Gott und durch die natürlichen Verhältnisse gewiesen war, stieß sie rauh zurück, und bei allen anderen fürchtete sie, bald wehe zu tun, bald schmerzlich berührt zu werden. Bei Uriel fühlte sie eine gewisse wohltuende Sicherheit. Aber so zart hatte ihr demütiges Gebets- und Leidensleben ihr Gewissen gemacht, daß sie, als sie später allein war und vor Gott Rechenschaft über ihren Tag ablegte, mit heiliger Wachsamkeit – mit diesem Gnadenlicht, das um so heller brennt, je reiner die Luft des inneren Lebens ist – ihr Herz durchleuchtete. Und sie dachte daran, daß früher ein leiser, ihr selbst unbewußter Zug von Neigung für Uriel wie ein warmer Hauch ihr Herz berührt habe. Sie verschloß nicht ihr Auge gegen die kleinste Gefahr. Sie verließ sich nicht auf ihr schwesterliches Verhältnis zu ihm; nicht auf ihren reinen Willen. Sie betete um himmlischen Schutz und faßte ihren Vorsatz. »Heilige Mutter Gottes, beschirme Du mein Herz! ich will mich nicht so sehr über Uriel freuen!« – So heiligt man sich. –
Auf Windeck war sie zwiefach willkommen, da sie Uriel mitbrachte. Graf Damian rief vergnügt:
»Geh' nur gleich mit uns nach Rom!«
»Ich bleibe erst noch etwas bei Onkel Levin,« sagte Uriel; »aber ich komme. Es ist recht seltsam, daß ich trotz meiner Weltfahrten noch nie in Rom war.« –
Graf Damian betrieb rasch die notwendigen Reiseanstalten, umsomehr, als Corona täglich nach Kloster Engelberg hinüberfuhr. Er brach gegen Uriel in heftige Klagen über Orest aus.
»Was sagst Du zu einem solchen Benehmen? Ist's nicht empörend? Die Hälfte des Jahres sitzt er bei dieser Sängerin, dieser Judith Miranes – Du weißt ja deren Geschichte! und wenn er auf Stamberg ist, würde man wünschen, daß er nur lieber fortginge – so mißmutig, so verstimmt, so gelangweilt, so lebenssatt, so durch und durch unerträglich benimmt er sich und besonders gegen Corona. Hätte sie nicht eine übermenschliche Geduld, so wäre sie längst davongelaufen! Wer hätte je eine solche Geduld von der kleinen lebhaften Corona erwartet – und je, daß Orest so ausarten könne! Leichtsinnig war er zwar immer; allein solche Leute werden oft die allerbesten Ehemänner. Früher war er doch munter, guter Laune, auch so gewiß gutmütig und gescheut. Jetzt – alles fort! aber alles! untergegangen in Egoismus, verschlungen von verrückter Leidenschaft. Ich sag' Dir, verrückt! denn wenn Du mit ihm sprichst, wie ich es einmal getan habe, so antwortet er Dir: höchst edle Freundschaft – platonische Liebe – etc. etc. Stelle Dir dies vor: Orest und platonische Liebe! – Was hab' ich von seinem Platonismus, wenn er all' seine Standespflichten versäumt, Frau und Kind verläßt, der Welt Skandal gibt! Aber die Sache ist so: die Donna ist klug! sie weiß, wie sie ihn fesseln kann. Ich weiß nur nicht, wie lange das währen soll!«
»Mein Gott,« sagte Uriel niedergeschlagen, »wie schwer ist die Kunst, glücklich zu sein! für Orest sind doch wahrlich alle Elemente, alles Material dazu vorhanden und er benutzt es nicht und macht sich selbst und Corona unglücklich.«
»Mein Trost ist der,« sagte Graf Damian mit einer an ihm ganz ungewöhnlichen inneren Erhebung, »daß Corona sich wirklich zu einer kleinen Heiligen bildet. Ich war diesen Sommer mit ihr in Ems. Sie ist ja eine ganz charmante Person und einer solchen fehlt es in der Welt nie an Leuten, die ihr das sagen oder zu verstehen geben. Aber es war als ob sie von dem Mann im Mond oder zu ihm sprächen! Ich habe sie oft in der Stille bewundert wegen ihres unvergleichlich taktvollen Benehmens. Und das weiß ihr leichtfertiger Patron von Mann gar nicht zu schätzen.« –
Am Tage nach Allerseelen reiste Graf Damian mit Corona und Felicitas gen Italien.
»Du bleibst bei uns alten Leuten!« sagte die Baronin Isabelle freundlich zu Uriel. »Du magst auch recht müde von dem rastlosen Umherschweifen dieser vierthalb Jahre sein! Was willst Du denn nun beginnen?«
So hatte auch Graf Damian gefragt und Onkel Levin ebenfalls. Ja – wußte er es denn? Was er nicht wollte, das wußte er. Aber was er wollte? –
»Lieber Onkel,« sagte er einmal in einem stillen Gespräch zu Levin, »ich weiß durchaus nicht, was ich auf der Welt anfangen soll. Ich bin ausgereist, um etwas zu suchen, das ich hier nicht fand; ich habe mir in fernen Weltteilen das menschliche Treiben und Wirken betrachtet und überlegt, das mir in dem unseren so fürchterlich mißfiel. Es ist dort wie hier. Ich bin nach Europa zurückgekehrt – vielleicht mit der leisen Hoffnung, es werde mir jetzt einen besseren Eindruck machen. Aber im Gegenteil! ich habe dies letzte Jahr fast ausschließlich in Petersburg, London und Paris zugebracht, und zwar nicht in dem Teil der Gesellschaft, welche sich exklusiv »die Gesellschaft« nennt. Die kenne ich aus früherer Zeit! die ist so blasiert, so entsittlicht, so verkommen im brutalsten Materialismus, daß der Duft von Eßbouquet und Patchouly, in welchem sie schwimmt, ihren eigentümlichen Verwesungsgeruch nur zurückdrängt, aber nicht verscheucht. Die kenne ich mit ihrer moralisch versunkenen Männerwelt und ihrer durch Eitelkeit sinkenden Frauenwelt, und deren Losungswort, das zu allem hintreibt und alles entschuldigt, es sei noch so gemein und noch so schlecht: genießen wollen! gefallen wollen!
»Der Ekel vor ihr hat mich recht eigentlich damals aus Europa vertrieben, als ich mein Gegengewicht gegen ihren furchtbar verderblichen Einfluß mit der Hoffnung auf häusliches Glück verlor. Aber das öffentliche Leben in Europa, das Leben der Staaten und Völker, die große allgemeine Gesellschaft, die wollte ich in's Auge fassen, wollte beobachten, was es denn sei, das die Menschen treibt und bewegt auf der ungeheueren Flut einer rast- und ruhelosen Anstrengung, die augenscheinlich, wie aus unsichtbaren geöffneten Schleusen, den Weltteil so gewaltsam überstürzt, wie die Menschheit es noch nie erlebt hat. Ähnlich war es bei dem Untergang des alten Römerreiches vor den nordischen Barbaren. Ähnlich auch, tausend Jahre später, als Byzanz vor dem Islam fiel. Aber nur ähnlich im kleinen Maßstab. Nicht zu einer solchen Ausbreitung über Weltteil und Erdball hatte sich das tausendgliederige Wesen, welches man Civilisation nennt und welches doch keine ist, zerdehnt. Nicht brauchte sie ein China und ein Kalifornien, den Hindu und die Rothaut zu ihrer Tätigkeit; nicht ein Netzwerk von Eisenschienen zu ihrer Bewegung; nicht einen Flug des Gedankens mit Blitzesschnelle über Länder und Meere zu ihrer Mitteilung, wie sie das alles jetzt hat und jetzt braucht. Aber zu welchem Zweck hat die menschliche Gesellschaft diese unerhörte Bewegung zu einem so wichtigen Faktor ihres Bestehens gemacht? welche Bildung wird durch sie errungen, welche Wahrheit durch sie verbreitet, welche Tugend durch sie gepflegt, welche sittliche Größe durch sie erlangt? welche Würde bringt sie in die Verhältnisse des Menschen, welchen Adel in seine Gesinnung, welche Grundlage in seine Handlungen? – – Null, lieber Onkel, unter Null! Wenn man sich einen Kreis denkt, ausgeweitet bis zur äußersten Spannung, und Millionen von Radien schießen aus der Mitte dem Umkreis zu und drängen und treiben ihn immer noch mehr und mehr auseinander – aber der Punkt, von dem sie auslaufen, hat keine Schwerkraft, um sie zu halten und zu binden, ist kein Centrum, ist Nichts, ist Null: sieh, lieber Onkel, das ist ein Bild der Zeit. Die Radien aber blitzen und schießen und spielen in tausend Farben, wie ein Nordlicht, blendend, überraschend, fort und fort dem Umkreis zu und ziehen alle Blicke von der Leere des Mittelpunktes ab – und auf sich. Und die Blicke lassen sich fesseln durch dies Sinnenschauspiel und das, was es bietet – und die Augenlust zieht die Gier nach Genuß und die Gier nach Besitz nach sich – und das ist das Ende der hochgepriesenen Civilisation! da sinkt sie zusammen im Moder ihrer eigenen Zersetzung. Wenn sie etwas Höheres zu geben vermöchte, so würde ja nicht eine so kolossale Lüge, wie wir sie erleben, das öffentliche Leben beherrschen.
»Alle Zustände sind hohl. Die Verhältnisse von Staat zu Staat, von Fürst zu Volk, von Volk zu Fürst – sind hohl, sind ohne gegenseitiges Vertrauen, sind ohne Wahrheit, stehen im Kreise jener Radien ohne Centrum. Alle fühlen es, jeder weiß es von sich selbst und von dem anderen, und keiner will es sich merken lassen. Daher wird denn jetzt eine Komödie aufgeführt, die in der Welt umsonst ihres Gleichen sucht – eine Komödie, an der Europa untergeht; die Komödie vom Fortschritt. Ich kann sie nicht mitspielen! ich kann und kann nicht für und durch die Lüge leben und sterben! Schau' auf das Völkerleben, ob je so große Worte im Schwange waren, und so wenig – ja, das Gegenteil, hinter ihnen steckte! Freilich, das große Wort führen die großen Herren in den Kammern, die, in Parteien geteilt, herrliche Reden halten über alles Gute und Vortreffliche – die einen, was sie bereits tun, die anderen, was sie tun wollen. Da grünt und blüht Friede und Gerechtigkeit, Bildung und Betriebsamkeit; da geht alles am Schnürchen, von der Dorfschule bis zum Staatshaushalt. Aber schau' auf den gemeinen Mann, wie ihm die Schuldenlast des Staates, die man dessen Reichtum zu nennen beliebt, seine paar Pfennige abquält, die er im Schweiß seines Angesichtes mühselig verdient hat und gern sparen möchte für schlimme Zeit oder seine alten Tage. Wie er, während die großen Herren in Papieren spekulieren und mit einem Bankerott so leicht fertig werden, als mit einer Flasche Champagner, und endlich denn doch den geliebten Mammon erschwindeln – wie er an diesen Eisenbahnen, an diesen Fabriken, die den Spekulanten, den Besitzer mit Gold mästen, seine Gesundheit opfern, sein Leben wagen muß für geringen Tagelohn, der für die knappsten Bedürfnisse nicht ausreicht: wie er seine Kinder in die Fabriken schicken muß, wo sie entarten an Leib und Seele, aber dafür doch einige Kreuzer heimbringen und ihre armselige Existenz fristen helfen; wie er dabei beständig zittert vor Stockung im Handel und Wandel, vor Krankheit, vor Herabdrücken des Arbeit- oder Tagelohnes, vor Erhöhung der Preise der gewöhnlichen Lebensbedürfnisse. Schau' ihn an, wie er marklos wird vom unausgesetzten Kampf gegen die bitterste Not, die ihn täglich aus den hohlen Augen von Weib und Kind, aus ihren Lumpen, von ihrem Strohlager, von ihrem kalten Herde angrinst; wie er in leiblicher Schwäche und seelischer Ermattung diese stumpfe Folter nicht mehr erträgt – und zum Branntwein greift, in Ausschweifung hineintaumelt, die Arbeit haßt, Vernunft und gesundes Urteil verliert und die ungeheuere Zahl der Betörten vermehrt, welche jetzt wähnen, republikanische Verfassungen nach kommunistischen und sozialistischen Theorien eingerichtet, oder ihnen sich nähernd, brächten das Heil der Welt. Die Arbeit in der Wildnis ist schwer und rauh und mehr als einer erliegt ihr. Aber die Arbeit in unserer Civilisation ist entsetzlich, saugt das Mark aus den Knochen, das Gehirn aus dem Kopf, das Herz aus der Brust, macht zu einer besinnungslos schwirrenden Maschine. Und diese Zählen nach Millionen!! Ist es denn möglich, ohne Erröten vom hohen Zustand unserer Kultur zu sprechen? Da heißt es denn freilich: Der gemeine Mann vegetiert doch nicht mehr in krasser Unwissenheit; er wird unterrichtet, er lernt, er kann sich fortbilden und jede Laufbahn steht ihm offen – allerdings zum Ersticken überfüllt von Nebenbuhlern. Ja, er lernt in den Schulen mancherlei, was er bald vergißt, sei's in der Werkstatt, bei dem Feldbau, in der Fabrik oder wo er sein Brot verdient. Indessen etwas behält er doch! er kann lesen. Was liest er? welche Bücher sind ihm erreichbar? – schlechte Zeitschriften, von denen es in der Welt wimmelt, die darauf berechnet sind, den unentwickelten Menschengeist in die Dämmerung eines falschen Wissens zu versetzen, um ihn dort für Parteizwecke zu gewinnen; und Bücher der gemeinsten Art, Romane und Erzählungen auf Löschpapier gedruckt, in Winkelbibliotheken für ein Geringes leihweise zu haben – Gift und Pest für Moral und Sittlichkeit, die sich in Dachkammern und Kellerlöcher, wo Hunger und Kummer hausen, wie Schlangen einstehlen, von Hand zu Hand gehen und ebenso gierig verschlungen werden, wie die Zeitschriften in der Schenke und in der Werkstatt. Das liest er; denn das findet er gleichsam von selbst und mundrecht ihm gemacht, auf den Wegen und Stegen seines Lebens; und das soll für Bildung gelten!! Nein, die Epoche stirbt an der Lüge!«
Mit dem Ausdruck trostloser Entmutigung lehnte Uriel seine Stirn in die Hand und setzte hinzu:
»Es ist der Weg des Todes, den wir schreiten! – Das ist von unserer Zeit gesagt. Sie stirbt an ihrer eigenen Lüge.«
Levin hörte still diesen Klagen zu. Er dachte an jenen himmlischen Retter, der die hinsinkende Welt, wie der Pelikan seine erschmachtende Brut, mit seinem Herzblut errettet; allein er sagte es nicht.
»Du armer Sturmvogel!« sagte er liebevoll, »hast Du versucht, Dir ein Nest zu bauen auf den Wellen der Zeit und bist Du müde geworden von dem vergeblichen Bestreben? Dann bleibt Dir nichts übrig, als Dich loszusagen von dem treulosen Element und einen Ausflug zu versuchen. Du bist müde von den Erscheinungen der Zeit. Das war auch ein großer Teil der menschlichen Gesellschaft im vierten und fünften Jahrhundert, als die Überreste der alten heidnischen Welt, welche sich in mumienhafter Starrheit dem beseelenden Einfluß des Christentums widersetzte, von dem Andrang der barbarischen Völker mehr und mehr bedroht, dann überschwemmt und endlich hinweg gefegt wurden. Damals klammerte sich auch die sieche Welt, im heimlichen Bewußtsein ihrer Ohnmacht, an den Glanz und die Überfeinerung, welche die innere Vermorschung der Verhältnisse äußerlich übertünchte. Damals suchte sie auch eine Beschirmung ihrer Unhaltbarkeit in großen Worten und in großem Reichtum. Die Göttin Roma stand noch im Sitzungssaal des Senates zu Rom und die Tempel der Götzen hatten noch ihre Priester und ihre Verehrer. Die Vermögen der konsularischen und senatorischen Geschlechter waren so groß, daß deren Besitzungen unseren Fürstentümern glichen. Die Sklaven der alten Civilisation zählten ebenso wie die der modernen – nach Millionen, und die Gladiatorenspiele, blutiger zwar, doch nicht entsittlichender als die Schauspiele der modernen Bildung, bestanden noch immer. Und die Macht des heidnischen Geistes mit seinem Hochmut, mit seiner Überschätzung des Ichs und der äußeren Vorzüge, mit seiner Sucht zu prahlen und zu schwelgen, war so gewaltig, daß die Entwickelung des christlichen Geistes in den Massen durch ihn gehemmt wurde. Er war taub und blind; er wollte die Signatur der Zeit nicht verstehen; er wollte beharren bei seinen Wollüsten, in seinen Traumbilden, bei den Ausgeburten seiner stolzen Gesinnung, gepaart mit niedrigen Begierden.
»Da öffneten sich, wie Du von der Jetztwelt sagst, unsichtbare Schleusen und aus ihnen quoll und schwoll eine Sündflut auf, welche nicht bloß die abgestorbene, kraft- und, marklose heidnische Kultur, sondern auch die frischen Saaten, die sprossenden Keime, die duftenden Blüten der christlichen zu vernichten drohte. Verwüstend wie Wildwasser brausten die Völker aus den Wäldern des Nordens und den Steppen des Ostens heran, überschwemmten den Süden und Westen Europa's und setzten nach Afrika über, als ob sie begierig wären, allen Spuren der alten römischen Bildung zerstörend nachzugehen. Jahrhunderte lang standen sie wogend und wallend auf dem Schutt und den Trümmern; dann sanken sie allmälig, die Wildwasser verliefen sich, und es zeigte sich, daß der Geist Gottes über dem Chaos geschwebt und seine Schöpfung, das Christentum, behütet, entwickelt, gefestigt hatte. Der menschliche Wille, möge er zum guten oder bösen sich wenden, ist nicht der einzige Faktor in der Weltgeschichte. Der Geist Gottes, der nie aufhört zu wehen, ist ein anderer – und konnte der die Barbaren der Wildnis zu seinem Werk gebrauchen, so kann er auch die Barbaren der Civilisation zur Zerstörung des modernen Heidentums, das den christlichen Geist zu ersticken sucht, verwenden. Im vierten und fünften Jahrhundert schlich, gerade wie jetzt, ein geheimnisvolles Grauen durch alle Seelen, welche in dem Schattenspiel des öffentlichen Lebens und in den brutalen Genüssen der Sinnlichkeit keine Befriedigung fanden, sondern wie Du, von dem Atem des Todes, den die Lüge aushaucht, sich angeweht fühlten. Sie wollten diesen Göttern und diesen Kaisern so wenig dienen, als ihrem eigenen Ich: sie suchten einen größeren Herrn. Aber nicht suchten sie ihn auf der Oberfläche des Daseins, nicht am Rande des Kreises, den die blitzenden und schillernden Radien wirbelnd ausdehnen. Sie suchten im Centrum; sie suchten das, was jeder Menschengeist finden soll: Wahrheit – die eine, von der alle Wahrheiten ausgehen, wie die Planeten ihr Licht von der Sonne empfangen. Sie suchten mit Ernst, mit Beharrlichkeit. Sie fragten nicht hie und da, oberflächlich wie Pilatus, was ist Wahrheit? – Sie gingen ihr nach, sie spürten ihr nach, aufmerksam, gespannt, wie der Bergmann, der in den Felsenmassen des Schachtes unverwandt die Goldader verfolgt, die durch das Gestein läuft. Aus dem Heidentum, aus dem Judentum, aus der Häresie, aus dem lauen Christentum, aus der Barbaren – wie aus der Römerwelt – kamen suchende Seelen; und unter ihnen mancher Sturmvogel, wie Du, der die halkyonischen Tage der Fabel auf den Wellen der Zeit nicht gefunden hatte; aber dafür fanden sie die Wahrheit, die eine, die ewige, die göttlich offenbarte: »Gott ist die Liebe!« – und dann sprachen sie mit Philippus: »Das genügt uns.« – Jene so wilden, so stürmischen, so gedrangsalten Zeiten waren zugleich die der großen Bekehrungen, Wir wollen hoffen und beten, daß es auch jetzt so sei und wollen damit anfangen, uns selbst zu bekehren.«
»O sprich nicht von Dir, lieber Onkel!« rief Uriel.
»Gerade von mir, denn mich selbst kenne ich am besten. Und zu uns allen spricht der Engel der Offenbarung, den Johannes auf Pathmos hörte: »Wer gerecht ist, werde noch gerechter, und wer heilig ist, werde noch heiliger.« Wir sind alle belehrungsbedürftig.«
»O ja!« rief Uriel, »es gibt auch jetzt große Seelen. Aber in einer Sphäre, die mir unzugänglich ist.«
»Die Seelengröße hängt von keiner Sphäre des Lebens ab und ist an keine gebunden. Ihr Wesen ist: das Opfer des natürlichen Menschen – und das kann, mit Gottes Gnade, überall geübt werden.«
»Nur fehlt leider überall diese Opferliebe so sehr in der Welt, daß man versucht wird anzunehmen, sie sei an eine gewisse Sphäre gebunden,« sagte Uriel. »Die großen Seelen, von denen ich spreche, steckten in der Kutte des Mönchs und in der Soutane des Priesters. Missionäre muß man sehen in anderen Weltteilen: dann bekommt man wieder Achtung und Liebe für das Menschengeschlecht. Bei dem Missionär ist so recht anschaulich das Apostolat des Evangeliums. So gingen die Zwölf aus, die von Christus unmittelbar ihre Weihe und Sendung empfingen – und so gehen sie jetzt aus, von demselben Christus mittelbar geweiht und gesendet. In welcher Armut und Entblößung, unter welchen Entbehrungen, Gefahren und Drangsalen der Missionär sein apostolisches Werk vollführt – davor schaudert die menschliche Natur zurück. Das ist eine Marter von Mühsal, die jede Fiber zerreißt und jeden Nerv aufreibt, und die er nur ertragen kann, weil Christus in ihm lebt. Mit natürlichen Kräften ist es unmöglich. Die Phantasie erlahmt, wenn sie sich die Anstrengung vorstellen will, die einen Missionär in den ungeheueren Öden von Nord- und Südamerika erwartet. Hunger, Ermüdung, Krankheit, feindliches Klima, wilde Tiere, wilde Menschen – alles das steht ihm bevor; alles das erträgt und überwindet er, um in tief gesunkenen, halb tierischen und halb blödsinnigen Racen das Ebenbild Gottes herzustellen und sie zum Bewußtsein über ihre Bestimmung zu bringen – oder um in einer kleinen Herde von bereits gewonnenen, aber hirtenlosen Schäflein das Reich Gottes zu befestigen. Und in welcher Einsamkeit und Weltabgeschiedenheit vollführt er sein Werk! wie getrennt von allem, was Trost und Stütze gibt! Vaterland, Vaterhaus, Muttersprache, Familie, Jugendfreude – alles ist fern. Aber auch sein Ordenshaus, seine Brüder nach der Gnadenordnung, seine Wirksamkeit in der Heimat hat er verlassen. Mit einigen Gefährten, zuweilen mit einem einzigen, zuweilen ganz allein, zieht er über Eis- und Schneegefilde, durch Savannen und Wüsten, durch Urwälder und Sümpfe, über Gebirge und Ströme – allein! und wenn er in tropischen oder arktischen Nächten das Auge zum Himmel aufschlägt, ist er so einsam, daß er nicht einmal die Gestirne seiner Heimat wiederfindet. Und welch' ein Tod krönt dieses Leben? – Ist's der Märtyrertod mit seinen raffinierten Qualen, unter dem Wut- und Triumphgeheul seiner Glaubensfeinde? – Oder siecht er im Kerker dahin, auf dem langsamen Folterbett der Gefangenschaft? Oder reißt ihm ein Tiger das Herz aus der Brust? Oder fällt er unter dem Skalpiermesser eines Wilden? Oder verschmachtet er langsam am Fieber, das sein Blut verbrennt, sein Mark verzehrt und ihn endlich niederwirft im Schatten eines Felsens oder eines Baumes, wo er sich ausstreckt zum Sterben, wo kein Gefährte da ist, um ihm die heilige Wegzehrung zu reichen und ihm den Todesschweiß von der Stirne zu trocknen, wo er über sich selbst das Totenoffizium betet und wo sein, kaum erkalteter Leichnam eine Beute der Raubvögel oder der Tiere des Waldes wird! – Und solch ein Leben und solch ein Tod – weshalb werden sie gewählt? frei gewählt? so fragte ich einst einen Missionär. Um dem gekreuzigten Christus in aller Demut nachzufolgen, antwortete er freundlich und einfach. Das ist Seelengröße! Aber die Welt geht an ihr vorüber, wie die Juden am Kalvarienberg – gleichgültig oder verachtend oder lästernd. Hätte jedoch einer von den ihren ein weniges von diesen Dornen und Myrrhen genossen, um die Wissenschaft zu fördern, oder aus ehrgeiziger Neugier, oder um ein Vermögen für die Seinen zu erwerben – ja, dann hat sie nicht Kränze genug, nicht Lob und Bewunderung genug, um diese Verdienste zu krönen. Mögen es Verdienste sein! ich taste sie nicht an. Von übernatürlicher Seelengröße sind sie jedoch weit entfernt. Solche Menschen dienen ihrem Ich, ihren vorherrschenden Neigungen oder Talenten und somit auch der Welt; das schmeichelt ihr. Der Missionär geht an ihr vorüber wie an sich selbst und dient einem höheren Herrn; das nimmt sie übel. Sie will nichts von Höherem wissen, als von sich selbst. Ich aber habe immer den Missionär beneidet, gerade weil er einem höheren Herrn dient.«
»Nun, lieber Uriel,« sagte Levin lächelnd, »ich hoffe, Du wirst ihm auch noch einmal als Missionär dienen.«
»Nein, lieber Onkel,« rief Uriel und stand lebhaft auf, »ich habe nicht die mindeste Anlage zu solcher Seelengröße und keine Neigung zu solchem übernatürlichen Heldenmut.«
»Die fremde Seelengröße erkennen und bekennen, gleichviel in welcher geringen Gestalt man sie antrifft, ist der erste Schritt, um sie zu erwerben.«
»Aber um sie in einem so heroischen Grade zu üben,« rief Uriel, »dazu fehlt mir die Lebendigkeit des Glaubens.«
»Ganz richtig,« entgegnete Levin. »Du trägst Deinen Glauben in festen Goldbarren mit Dir umher, so daß er Dir manchmal beinahe eine Last ist. Zur Münze ausgeprägt, flüssig gemacht für den täglichen Gebrauch, für alle Umstände, für alle Verhältnisse, in allen Nöten, wider alle Prüfungen – besitzest Du ihn nicht. Er ist Dir noch ein toter Schatz.«
»So ist's!« sagte Uriel trübe. »Er leuchtet mir vor, aber er leuchtet nicht in mir. Meine Vernunft folgt allen Lehren der Offenbarung, die so fein und so logisch ausgezweigt sind, daß es ein Genuß für meinen Verstand und eine willkommene Übung für meinen Scharfsinn ist, ihnen nachzugehen. Und dennoch ist mein Herz nicht ergriffen; dennoch ist eine geheimnisvolle Scheidewand zwischen mir und Gott.«
»Das kann auch gar nicht anders sein,« entgegnete Levin. »Du hast die Weltteile durchpilgert und die Ozeane durchmessen und draußen das Etwas gesucht, mit menschlichen Kräften und menschlichen Mitteln gesucht, was größer sei, als Dein Herz – wie Du damals bei Deiner Abreise sagtest – das Etwas, welches Dir eine dauernde Befriedigung geben könnte; und hast es nicht gefunden und konntest es nicht finden. Denn die Schöpfung, dies wundervolle Werk Gottes, steht unter dem Gotteswerk der Erlösung. Dieser gehört die christliche Seele an, hier soll sie zu Hause sein. Sucht sie ihre Heimat in der Schöpfung, so ist sie abgeirrt von ihrer Bestimmung, mein armer Uriel, und dann sind die Lehren der Offenbarung dem Geist ein feines, tiefsinniges System, dessen Logik ihn überwältigt; aber sie sind kein Trost für das Verlangen seines Herzens. Nur in Gedanken lösen sie ihn ab von der Erde; das Herz bleibt an ihr haften, hört nicht auf himmlische Einsprechungen und erkennt nicht himmlische Fügungen, die alle, alle mahnende Boten Gottes sind, durch die er zu uns spricht: »Kind, gib mir dein Herz.« Aber was willst Du denn anfangen, Uriel, mit dieser Last Deines an der Erde haftenden Herzens?«
»Haftet es denn an ihr, lieber Onkel?« fragte Uriel ernst und sinnend. »Hab' ich nicht den Ballast des Mammon über Bord meines Schiffleins geworfen, um nicht in die Schlingen dieses Götzen zu fallen, dessen Kultus mehr als irgend einer – den Materialismus fördert? hab' ich mich je verloren in die brutale Genußsucht der Zeit? oder an den Ehrgeiz? oder an die Sucht der Eitelkeit, etwas gelten zu wollen, ein Mann der Partei zu sein? Und meine Reisen – hab' ich denn Gemeines, Niedriges, Alltägliches von ihnen begehrt? sollten sie vorwitzige Schaulust und einen unbestimmten Drang nach Bewegung befriedigen? Mir scheint, ich dürfe all' diese Fragen mit Nein beantworten. O wie oft habe ich gerade auf diesen Reisen, gerade diesen wunderbar schönen Naturbildern gegenüber die ganze Nichtigkeit des Erdendaseins empfunden! O, in stillen Nächten unter dem leuchtenden Sternenhimmel und auf den leuchtenden Meeren des Südens – o, in der rosigen Morgenfrühe der paradiesischen Überfülle tropischer Länder, mit ihrem unvergleichlichen Zauber von Farbe und Form, von Licht und Luft – o, bei dem feierlichen Sonnenuntergang in der Savanne und der Wüste mit ihrer grenzenlosen, bis zum Entsetzen majestätischen Einsamkeit – hat dies göttliche Schweigen, diese göttliche Stimme mich je anders berührt, als daß ich empfunden hätte, es gebe noch etwas Höheres – und das sei so hoch und so groß und so Wundermächtig, daß alle Erdenschönheit sich dazu verhalte, wie ein Sandkorn gegen das Himalajagebirg. Und dann hätte ich die Erde mit einem Fußstoß von mir schleudern mögen, um mich aufzuschwingen zu jener nur geahnten Herrlichkeit. Nennst Du das an der Erde haften, teurer Onkel?«
»Der heil. Augustinus schreibt in seinen Bekenntnissen: »In mehr als einer Weise schließt man sich den gefallenen Engeln an;« entgegnete Levin. »So gibt es auch mehr als eine Weise, in welcher das Herz an der Erde haften kann. Es kann begraben sein in ihrem Moder, verstrickt in ihren Dornen. Es kann aber auch so fein mit ihr zusammenhängen, wie manchmal Blumenblätter an fliegenden Sommerfädchen schweben. Eines ist gewiß: Du hast Gott nicht gefunden. Mit Deiner Intelligenz hast Du das Dasein Gottes außerhalb seiner Schöpfung begriffen; mit Deinem Gefühl hast Du ihn über der Schöpfung geahnt. Aber Dein eigen, Dein Centrum – ist er nicht geworden, weder der menschgewordene Gott, noch der gekreuzigte Gott, noch der eucharistische Gott! und deshalb bist Du auch keinen Augenblick Deiner selbst sicher und der nächste kann Dein Herz begraben in den Aschengrüften der Erde. Daß es bis jetzt nicht geschah, hast Du, nächst der Gnade Gottes – Deiner Liebe für Regina zu danken. Du betrachtest sie als Dein Leid – aber sie ist Dein Heil gewesen! Die Liebe ist etwas so Himmlisches, so Gottverwandtes, daß sogar die natürliche im Stande ist, dem Menschen eine Zeitlang einen edlen Impuls zu geben und in edler Richtung ihn zu halten. Aber in dem wechselvollen Dasein hienieden, zwischen tausend neuen Eindrücken und abertausend neuen Erfahrungen, verliert diese Liebe allmählig ihre Triebkraft, vermag nicht mehr Schwung und Ausdauer zu geben, und läßt das Herz nach und nach so öde zurück, so leer, so traurig, so arm, daß ihm die Bilder und Erscheinungen der Erde wünschenswerter vorkommen, als seine Erstorbenheit. Das ist die allgemeine Geschichte jeder Liebe, die nur aus dem natürlichen Gefühl hervorgegangen ist: sie keimt, sie wächst, sie blüht, sie verblüht – wenn man sie nicht in das Erdreich der Gnade verpflanzt und in das übernatürliche selige Liebesleben hineinschlingt, welches die mystische Braut Christi mit ihrem göttlichen Geliebten fühlt. Dein Herz haftet an der Erde, mein armer Uriel! Du hast die ewige Wahrheit noch nicht gefunden, denn Du hast sie noch nicht gesucht.«
»Aber wo – aber wie – soll ich sie suchen?« fragte Uriel tief in Sinnen verloren.
»Wo? – in der Krippe von Bethlehem und am Kreuz von Golgatha. Wie? – durch Gebet. Bete, Uriel! wie es jetzt mit Dir steht, kann und darf es nicht bleiben. Du bist flügellahm. Es ist mehr Welt an Dir vorüber gerauscht, als Du – als irgend jemand mit der bloßen Beobachtung überwältigen kann. Das Übermaß der Tätigkeit, deren Zuschauer Du bist, betäubt Dich und bringt Dich um die, welche Dir von Gott bestimmt ist.«
»Lieber Onkel,« unterbrach Uriel ihn sehr lebhaft, »Du wähnst doch wohl nicht, daß es mir je einfallen könnte, Missionär zu werden, weil ich gesagt habe, ich hätte bei ihnen Seelengröße gefunden und ich beneidete sie, weil sie einem so großen Herrn dienten? Missionär will ich durchaus nicht werden! und käme mir je ein solcher Gedanke, so würde mein eifrigstes Gebet gegen ihn sein.«
»Sei unbesorgt!« erwiderte Levin lächelnd, »zu so kühnen Hoffnungen erschwingt mein altes Herz sich nicht. Das war eine große Gnade, wenn Du die Welt abermals durchpilgertest – nicht um die Wahrheit zu suchen, sondern um sie anderen zu verkündigen; nicht zu Deiner Befriedigung, sondern aus Liebe zum gekreuzigten Christus. Aber eine solche Gnade senkt sich nur in ein ihr entsprechendes Herz. Vorderhand bin ich froh, daß Du in Kalifornien kein Goldgräber geworden bist.«
Es war ein unvergleichlicher Zauber von Würde und Huld um den fünfundsiebenzigjährigen Greis. Er war so stark bei seiner heiteren Milde, so nachsichtig bei seinem heiligen Ernst, so lächelnd bei seiner tiefen Einsicht, – der Geist so offen, das Herz so warm, die Seele so licht, daß Uriel oft in seiner Nähe dachte: die Verklärung des Tabors sei schon über dies Leben ausgegossen, das mehr als ein halbes Jahrhundert in der Beschattung des Kreuzes verharrt sei. An Onkel Levins Seite, in Gesprächen und im traulichen Verkehr mit ihm fühlte sich Uriel zufriedener, als sonstwo auf Erden. Aber eine leise Unruhe, ein unausgesetztes Vibrieren des inneren Menschen mahnte ihn stets daran, daß er seinen Schwerpunkt noch nicht gefunden habe. Es tat ihm leid, an Graf Damian versprochen zu haben, daß er ihm nach Rom folgen wolle; leid, den geliebten Greis zu verlassen.
»Komm' mit mir nach Rom!« bat er ihn einst. »Die Griechen hielten es für ein Unglück, das Götterbild ihres Zeus, das Meisterwerk des Phidias, nicht gesehen zu haben. Ist es nicht ein ganz anderer Schmerz für einen Priester, den Stellvertreter des Erlösers und den Nachfolger des Petrus nicht gesehen zu haben?«
»Ja, lieber Sohn, ganz anders! er ist ein Glied in der langen Kette der Entsagungen; aber die löst sich mit dem Tode. Die armen Griechen hatten schon recht, ihren Zeus zu betrachten; denn seine Marmorstatue war doch mehr – als das Nichts, welches sie vorstellte. Aber für uns, Kind, ist es gerade umgekehrt: wir sehen hienieden nur Bilder, aber droben das Wesen. Deshalb hab' ich mich nie danach gesehnt, mich viel umzuschauen in der Welt. Scheide ich von ihr – dann werden meine Augen ihre Wonne haben und mein Herz seine Lust. Kommst Du aber nach Rom, so grüße mir eine traute Stätte: das Koloseum, wo die Martyrer sich verbluteten und wo St. Ignatius von Antiochien unter den Zähnen der Löwen rief: Meine Liebe ist gekreuzigt! laßt mich ein Nachfolger der Leiden meines Gottes sein! Um das Koloseum schwebt in meiner Phantasie eine Glorie von Purpurfarbe.«
»O diese Martyrer,« rief Uriel, »haben in Wahrheit die streitende Kirche zur triumphierenden gemacht!«
»Darum stirbt auch dies heilige Geschlecht nie in ihr aus. Sie soll triumphieren – trotz Ketten und Banden, trotz Schmach und Verfolgung, über den Satan und seinen Anhang! Und das tut sie, bald auf diesem, bald auf jenem Punkt der Erde. Sieh' die Christenverfolgungen in China, in Japan – überall wiederholt sich die alte Tatsache: Christus der Gekreuzigte lebt in den kämpfenden Gliedern seiner Kirche. Sie werden mit ihm gemartert, gehöhnt und getötet; sie werden begraben und Steine vor die Gruft gewälzt und Wächter bestellt; und wenn das alles sicher besorgt ist, dann kommt der Ostertag, und mit den Hingewürgten ist die Kirche, die man erwürgt und begraben wähnte, auferstanden. Das sind ihre unvergänglichen Geschicke. So hat sie es auf Kalvaria gelernt. Dazu lebt und webt in ihr der heilige Geist. Deshalb umfängt und trägt sie durch die Weltzeiten den eucharistischen Christus. Solche Gottesanstalten überdauern den Anprall Luzifers und seiner Legionen.«
»Ja wohl, Legionen!« rief Uriel. »Von allen Ecken und Enden der Welt strömen eben jetzt die hochgehenden Fluten des Unglaubens und des Irrglaubens mit voller Wut gegen den Felsen Petri und die revolutionären Stürme, die aus allen Gegenden der Windrose, von Thron und Katheder, aus Schenkstube und Presse, aus Kammerverhandlungen und geheimen Gesellschaften zusammen brausen, toben gegen nichts und niemand so rasend, als gegen das Schifflein des galiläischen Fischers. Ich habe in England und Deutschland Leute gekannt, von denen es heißen konnte, wie in Schillers Wallensteins Lager: »Es sind Tiefenbacher, Gevatter Schneider und Handschuhmacher« – so behaglich schmausten sie ihr Beefsteak mit obligatem Porter; so friedlich kannegießerten sie bei der Tabakspfeife und dem Schoppen; Damen hab' ich gekannt, gebildete, kunstsinnige, schöngeistige, romanesk poetische: nun! diese ganze Gesellschaft – so philisterhaft der eine Teil und so hypergebildet der andere – verfiel in eine Art von Berserkerwut, wenn die Rede auf den Papst und die katholische Kirche kam. Rom, als Mittelpunkt der antiken Welt und der modernen Kunst, ließen sie gelten. Über Rom, als Hauptstadt der Christenheit, waren sie rabbiat. In den Kreisen der Freiheitsmänner, der Licht- und Volksfreunde versteht sich so etwas von selbst, weil Rom das unüberwindliche Bollwerk der Wahrheit – also der wahren Freiheit, des wahren Lichtes, des wahren Rechtes ist: aber bei meinen Tiefenbachern und bei meinen Geistreichen hab' ich mich immer verwundern müssen, daß sie nicht einsahen, wie Beefsteak und Bildung nicht zu retten sind, wenn es möglich wäre, daß das Schifflein Petri unterginge. Ein gesellschaftliches Chaos würde beginnen. Es gehört mit zu den greulichen Lügen der Zeit, die geschichtlichen Ereignisse und Charaktere zu Parteizwecken zu verfälschen und schon dem Kinde in der Schule Zerrbilder statt Vorbilder in die junge Seele zu prägen.«
»Und damit zieht sie, wie das von der Lüge auch nicht anders zu erwarten ist, einen so traurigen und furchtbaren Haß groß, daß, wenn jetzt heftige Katastrophen ausbrächen, der giftigste Gram sich gegen die Vertreter und Diener der Kirche entladen würde. Lies die vertilgungswüttgen Verfolgungen, welche der treue und standhafte französische Klerus in der Revolution des vorigen Jahrhunderts zu erdulden hatte. So würde es jetzt überall sein, wo Revolutionsmänner an die Spitze kämen. Der Priesterhaß wächst, je mehr Luzifers Scharen wachsen.«
»Das wäre ein Grund, um Priester zu werden! Was Satan haßt, muß Gott lieben!« rief Uriel.
»Und doch sind die Bestrebungen des Hasses dem Priester vielleicht nicht so quälend, als die der sogenannten Humanität,« sagte Levin. »Ich habe in meinem langen Leben schon manche Phase der Geschicke der Kirche durchgemacht. Zu Ende des vorigen Jahrhunderts ging man mit der Guillotine und Deportation auf sie los; das hat ihr nichts geschadet; im offenen und entschiedenen Martertum liegt eine Art von übernatürlicher Lockspeise, die ihr gut bekommt. Aber nach den napoleonischen Kriegen brach in Deutschland eine entsetzliche Zeit, eine nüchtern-schwärmerische Epoche aus, die mit Deutschtümelei und allerhand Bruderliebe seltsam herausgeputzt war. Da sollte die Kirche deutsch sein und human und jedermanns Freund; den Quell ihres Lebens sollte sie verstopfen und von Rom sich lossagen; und dafür die Vorteile genießen, die der Zeitgeist ihr aufzuzwängen suchte: Lockerung heiliger und heilsamer Disziplin, Verblasenheit ihres Dogma's, Fraternität mit allerhand unkirchlichen und widerkirchlichen religiösen und philosophischen Systemen. Statt der katholischen Kirche sollte eine Allerweltskirche organisiert werden, ohne Offenbarung Gottes, ohne festbestehendes Dogma, ohne positiven Glauben, folglich ohne wahres Christentum und zwei Mittel schienen vorzugsweise geeignet, dies zu bewerkstelligen: die Aufhebung des Cölibates und die Sanktionierung der gemischten Ehen. Das verehelichte Individuum, welches den katholischen Priester ersetzen sollte, lehrt, was der Staat oder ein beliebiges Oberhaupt seiner Sekte von ihm begehrt: das beweist die Erfahrung aller Zeiten; und in einer Mischehe ist von einem frischen und kräftigen Familienleben im positiven Glauben keine Rede; das sieht man alle Tage. Diese Mauerbrecher sollten die Kirche zersprengen. Aber unbewegt hielt sie den Stoß aus – die heilige Kirche! die gemischten Ehen wurden nicht sanktioniert – nur traurig geduldet; und der priesterliche Cölibat nicht aufgehoben. Ich erinnere mich noch sehr wohl, wie meine Schwägerin Juliane, Deine Großmutter, mich oftmals fragte, ob ich schon mein Augenmerk auf eine künftige Gattin geworfen habe; worauf ich ihr regelmäßig antwortete: man dürfe sich nicht voreiliger Hoffnung hingeben. Als nun das Projekt zu Wasser wurde, sagte Juliane, ich hätte sehr weise getan, nicht zu früh zu hoffen. Da lachte ich und fragte: »Ihre Hoffnungen hab' ich voreilig genannt.« Das war ihr aber nicht genehm. Ja, es war sogar manchem Katholiken nicht genehm! Aber kurz! die Allerweltskirche kam nicht in Deutschland zu Stande. Dagegen wurde die Braut Christi in Zucht und Vormundschaft genommen, mußte knappe Haushaltung lernen, durfte ohne Genehmigung betreffender Behörden keine Kerze auf dem Altäre anzünden, kein Meßgewand des Priesters anfertigen: mußte lernen, wie sie zu lehren habe, sie – die Christus selbst zur Lehrerin der Völker eingesetzt hat; mußte in Staatsdienst treten und sich besolden lassen, sie, die uralte Ernährerin und Haushälterin jener zahlreichen Familie der Armen Christi, welche gerade an sie gewiesen, ihrer frommen Fürsorge anvertraut sind. Das alles und viel tausendmal mehr mußte sie sich gefallen lassen, und Du darfst mir glauben: manches treue Priesterherz hat darüber so viel Gram und Kummer ausgestanden, daß man wohl sagen darf: es habe freilich nicht für und mit dem Heiland den Tod gelitten, allein es habe die unblutige Passion von Gethsemane mit ihm durchgemacht. Das alles gehört zum Leben einer Kirche. Es hat kein Leid, keine Bitterkeit, keinen Schmerz gegeben, welche der Sohn Gottes auf Erden nicht gekostet hätte. Könnte seine heilige Braut es Wohl anders haben, als er? Darum haben alle, welche in Wahrheit erkennen, was es heiße, den mystischen Leib zu bilden, einen unüberwindlichen, langatmigen Mut. Sie wissen, wem der endliche Sieg gehört, sie fürchten nicht die Legionen von gefallenen Geistern, die auf den Felsen Petri Sturm laufen.«
»Fünfundsiebenzig Jahre – und kampfesfreudig wie St. Michael?« rief Uriel. »O lieber Onkel, welchem großen Herrn mußt Du dienen?«
»Ach und immer als ein unnützer Knecht!« entgegnete Levin lebhaft und faltete seine Hände als wolle er seinen Herrn um Verzeihung bitten.
»Wäre ich doch ein solcher unnützer Knecht!« seufzte Uriel.
»Wozu hätte ich fünfundsiebenzig Jahre und über ein halbes Jahrhundert im geistlichen Stande gelebt,« entgegnete Levin, »wenn ich kein mutiges Vertrauen zu dem allmächtigen Herrn gewonnen hätte, dem ich diene? Das Leben des Priesters ist ein Leben im Glauben und in der Gnade. Sie sind die himmlischen Stützen seiner gebrechlichen Natur. Er verläßt sich auf sie: das ist Vertrauen. Und dies Vertrauen auf göttlichen Beistand sollte er nur im Bezug auf seine armselige Person und nicht für seine vielgeliebte Mutter, die heilige Kirche, besitzen? Nein, das wäre ein Widersinn! O schwanke du nur, du Schifflein Petri! laß sie heulen – die Orkane! laß sie tosen – die Wellen! laß sie brüllen – die Meeresungeheuer! du trägst deinen Hort: Christus schläft. Er wird erwachen und dann werden die Stürme fallen. Aber, mein Sohn, wir wollen nicht zu jenen gehören, zu denen er sagen wird: »O ihr Kleingläubigen!«