Ida Gräfin Hahn-Hahn
Maria Regina. Zweiter Band
Ida Gräfin Hahn-Hahn

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Sonnenaufgang.

Auf der Grenze zwischen Frühling und Winter pflegen heftige Stürme auszubrechen, und nicht ohne starke Erschütterung geht die Natur aus toter eisiger Erstarrung zum warmen blühenden Leben über. Auf dem sittlichen Gebiet finden dieselben Erscheinungen statt; das eingeeiste erfrorene Herz taut nicht vom ersten Sonnenstrahl gründlich auf. Judith konnte eine gewisse stille Angst nicht überwinden, daß ihre Bekehrung zum Christentum Opfer von ihr fordern werde, die sie nicht zu bringen geneigt war. Hatte Lelio nicht vom Augenblick seiner Bekehrung an sein ganzes Leben verändert? Hatte nicht Ernest ein Leben voll ununterbrochener Entsagung geführt? Freilich behaupteten Beide, sie wären sehr zufrieden. Aber diese Zufriedenheit, die aus einer immerwährenden Überwindung aller Neigungen hervorgeht, ist doch nicht die, welche man sich wünscht, sagte Judith zu sich selbst; oder sollte es eine Wirkung der Gnade sein, welche das Christentum mitteilt, im Opfer der Neigungen ein höheres Glück zu finden, als in ihrer Befriedigung? .... Und habe ich denn so böse Neigungen zu opfern? .... Habe ich überhaupt eine andere, als die – zu mir selbst? als die – glücklich sein zu wollen? Besteht aber das Gnadenglück, das christliche Glück – wie soll ich es nennen? im Opfer: so brauchte ich nur meine Neigung zu mir selbst zu opfern und sieh'! ich wäre glücklich, nämlich so, wie die ersten Christen es verstanden. – – Dazwischen fiel ihr ein, ob dieser junge Geistliche nicht vielleicht sehr exaltiert sei und zu hohe Forderungen an die Menschen mache; ob es nicht geraten sei, sich an einen Akatholiken zu wenden. Dann dachte sie aber an die Herren im schwarzen Frack mit weißer Kravatte, welche die arme Esther besucht hatten und welche zuweilen die Bibel und zuweilen ihre Gattinnen mitbrachten, und dann sprach sie mit energischer Entschiedenheit zu sich selbst: Nein: göttliche Offenbarung will durch geheiligte Organe verkündet werden und himmlische Wahrheit von geweihten Lippen fließen! Ich haßte jene armen protestantischen Prädikanten, weil sie meiner geliebten Esther keinen Trost gewährten. Daran hab' ich vielleicht sehr Unrecht getan, denn niemand kann etwas anderes geben, als was er hat, und sie haben ihr Buch und ihre Frauen – aber die Weihe zum Apostolat haben sie nicht. Sie sind vielleicht sehr rechtschaffene Hausväter – aber Priester, aber Lehrer einer übernatürlichen Weltordnung können sie nicht sein! dazu gehört eine volle Hingebung an dieselbe, und sie haben ja Wurzel gefaßt in der Alltagswelt. Zu Priestern braucht Gott Männer mit einem ganzen Herzen; diese – geben ein gutes Stück davon an Weib und Kind. Der Priester ist fremd, und sie sind heimisch im Irdischen. Der Priester steht über mir: sie sind meines Gleichen; er ist der geweihte Verkündiger der ewigen Wahrheit und gibt sich bedingungslos allen Anforderungen seines Berufes hin; sie sind ... ja, ich weiß nicht, ob sie außer Familienvätern, Staatsdienern und Bürgern noch etwas sind ... noch etwas sein können. Genug, das steht fest für mich: ich will nichts zu tun haben mit einer Religionsgesellschaft, die ohne geweihten Priesterstand ist! Dem Priester glaub' ich, dem Menschen nicht! den Priester verehre ich, den Hausvater nicht. Nur der, welcher im Namen Gottes und als berufener, geweihter und gesendeter Diener Gottes zu mir spricht, flößt mir Glauben und Verehrung ein. Aber warum? .... Täusche ich mich nicht? Weil er vom Altar Gottes kommt – vom Opfer; und mich zu ihm hinführt – zum Opfer; während der Hausvater kommt – was weiß ich woher! und mich führt – zum häuslichen Herde! Mein Gott! .... und Orest will sich ihnen zuwenden um unseres häuslichen Herdes willen! Wird denn Gottes Gnade darauf liegen? –

In heftiger Beängstigung ging sie im Zimmer umher, ratlos, gequält eilte dann zu ihrer Kammerfrau und sagte:

»Geben Sie mir Ihren Hut und Ihren Shawl; ich will zu armen Leuten.«

»Doch nicht gehen?« fragte die erstaunte Zofe.

»Nein! ich will im Fiakre inkognito fahren.«

An dergleichen Einfälle war die Kammerfrau gewöhnt. Judith entschlüpfte unbemerkt ihrer Wohnung, stieg auf dem Korso in den ersten besten Fiakre, fuhr zur Kirche Maria della pace, entließ ihn dort und hielt Nachfrage nach dem Hause von Lelio's Eltern. Sie fand es schnell, traf Lelio's Mutter allein und hörte voll Schreck, er sei nicht daheim. Die obligate Phrase: er werde aber gewiß bald zu Hause kommen, hielt Judith fest, um so mehr, als ihr einfiel, sie könne ja eben so gut der Mutter wie dem Sohne einige Fragen vorlegen und vielleicht von ihr noch bestimmtere Antwort erhalten.

»Signora,« hub sie an, »ich weiß durch Ihren Sohn, daß Sie eine fromme Frau und eine treue Mutter sind; da ich nun keine Mutter habe, an die ich mich mit meinen Anliegen wenden könnte, so führt mich Gott zu Ihnen. Ich bin nämlich eine Jüdin, die sich zum Christentum bekennen will.«

Signora Pasqualina hatte Judith etwas kühl empfangen. Wer war diese schöne Person, die so ganz ohne Umstände und ohne sich zu nennen auftrat und nach Lelio, wie nach einem guten Bekannten fragte? Kühl hatte sie den Anfang von Judith's Rede vernommen; aber bei den letzten Worten trat ein warmer Freudenausdruck in ihr ganzes Wesen. Sie hub Hände und Augen zum Himmel, indem sie rief: »O welche Gnade! welche Gnade!« und als sie wieder auf Judith blickte, fielen ein paar Tränen von ihren Wimpern.

»Freuen Sie sich so sehr über meine Bekehrung?« fragte Judith überrascht und gerührt; »ich bin Ihnen ja ganz fremd.«

»O, was tut das!« rief Pasqualina. »Es wird eine Seele gerettet! das Blut Jesu kommt zu Ehren an einer Seele! der süße Name Jesu wird in Ewigkeit verherrlicht durch eine Seele! das Reich Jesu wird ausgebreitet, der Wille Jesu vollzogen auf Erden wie im Himmel, durch eine gerettete Seele! und ich sollte nicht frohlockend Gott loben und preisen für solches Glück, für solche Freude, an der die ganze streitende und triumphierende Kirche samt allen himmlischen Heerscharen teil nimmt? O, meine liebe Signora, darüber können Sie sich nur deshalb wundern, weil Sie noch nicht wissen, welche Gnadenschätze Ihnen zu Teil werden, und welche Liebe alle durchströmt und verbindet, die mit Ihnen diese Schätze genießen!«

»Und wer sind die?« fragte Judith.

»Alle, die zur heiligen Kirche gehören.«

»Ach,« sagte Judith, »ich bin ja noch ganz unwissend und habe nichts, als meinen guten Willen. Vergeben Sie mir also meine Frage: Was ist die Kirche?«

»Die Kirche,« entgegnete Pasqualina, »ist die Gemeinde aller Christen auf Erden, die durch das Bekenntnis demselben Glaubens und durch die Teilnahme an denselben Sakramenten vereinigt sind unter einem gemeinsamen Oberhaupt, dem Papst, als dem Nachfolger des heil. Petrus und den ihm untergeordneten Bischöfen, den Nachfolgern der übrigen Apostel.«

»Und wer hat diese Kirche gestiftet und ihr diese Einrichtung gegeben?« fragte Judith weiter.

»Der Sohn Gottes, unser Erlöser, Jesus Christus, der alle Menschen bis zum Ende der Welt selig machen wollte, und deshalb diese Heilsanstalt gründete, welcher er seine Lehre, seine Gnadenmittel und seine Gewalt anvertraut, und ihr den Beistand des heiligen Geistes verliehen hat, um sie in den Stand zu setzen, den Auftrag auszuführen.«

»Was würden Sie sagen, Signora, wenn ich mich einer der Sekten zuwendete, welche nicht den Papst als ihr Oberhaupt anerkennen?«

»Täten Sie das, bevor Sie mit der heiligen Kirche bekannt geworden wären: so würde ich traurig sagen, es habe Ihnen unfreiwilliger Weise die Erkenntnis der göttlichen Wahrheit gefehlt. Täten Sie es aber mit voller Erkenntnis, so hätten Sie sich freiwillig ausgeschlossen von Gottes Gnade in der Zeit und Gottes Glorie in der Ewigkeit und wären abgefallen zum Geist der Lüge. Aber ein so furchtbares Unglück widerfährt denen nicht, die, wie Sie von sich sagen, einen guten Willen haben. Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören – und wer in reiner Absicht, nicht um irdischer Vorteile willen, die Offenbarung der göttlichen Wahrheit sucht, der findet sie auch. Das hat der göttliche Erlöser uns versprochen, indem er sagte: »Suchet, und ihr werdet finden.« Die heilige Kirche ist nicht etwas Unsichtbares, woran man vorübergehen könnte. Sie steht da, klar und einheitlich, immer dieselbe in der ganzen Welt. Welche Lehren der Liebe, welche Taten der Liebe hat sie aufzuweisen! Sie ist ein übernatürliches Spital für alle Leiden der Seele; der liebe Heiland ist der Arzt; die Sakramente, die er aus seinem Blut bereitet – sind die Arzneien; die Lehre, die von seinen gebenedeiten Lippen fließt – ist der Labetrunk; seine Diener und Helfer, die Priester, sind die Krankenwärter; die Kranken – das sind wir alle! Einige lebensgefährlich, andere in der Agonie, andere genesend, frischer und kräftiger denn zuvor. Einige sind gesund: das sind die Heiligen! die haben des heiligsten Blutes Wunderkraft in sich wirken lassen. Ein Genesender ist mein Lelio. Sie aber, Signora, wenn Sie das Sakrament der Taufe empfangen, dann werden Sie in Christo geheiligt, zum ewigen Leben wiedergeboren und durch die heiligmachende Gnade und die göttlichen Tugenden geistiger Weise umgeschaffen, ein Kind der Kirche, eine Tochter Gottes, ein Erbe des Himmelreiches; das ist das Höchste, was der Mensch werden kann, und Dem entsagt keine gute, vernünftige Seele, um sich einer unvollkommenen Sekte anzuschließen.«

»Es ist eine schwindelnde Höhe,« sagte Judith und schloß unwillkürlich ihre Augen. »Kann man sich dort halten?«

»Die Heiligen konnten es! Durch das heilige Bußsakrament reinigten sie fort und fort ihr Gewissen von jedem Stäubchen und wurden mehr und mehr darüber erleuchtet, wie notwendig diese unausgesetzte Reinigung sei. Und durch das Sakrament des Altars empfingen sie in ihrer gereinigten Seele wahrhaft und wesenhaft den Leib des Herrn mit seiner Gottheit und verklärten Menschheit –und der brachte ihnen dann alle Gnaden, alle Kräfte, welche sie nötig hatten, um m ihren Kämpfen zu siegen. Denn kämpfen mußten sie mit den heiligen Waffen der Abtötung und des Gebetes, tüchtig kämpfen, da es in heiliger Schrift heißt: »Nur die Gewaltigen reißen das Himmelreich an sich«. Unsereiner steht ja nun freilich ganz niedrig neben der Höhe der lieben Heiligen; allein uns stehen ganz dieselben Gnadenmittel zu Gebot, um uns nach unserem Maßstab zu heiligen. Ist unsere Seele besteckt durch Sünde, so wascht der barmherzige göttliche Samaritan sie im Bußsakramente wieder rein; und wird sie schwach und hinfällig in den tausend Prüfungen und Versuchungen, so speist er sie im Altarssakrament durch sein Fleisch und Blut; und daß wir alle, die Heiligen wie die armen Sünder, an diesem heiligen Gastmahle Teil nehmen, wo unser Gott sich zur Speise unserer Seelen macht: das, Signora, stiftet eine so wundersame Liebesgemeinschaft zwischen ihm und seiner Kirche, daß man für ihn, den König und den Bräutigam, mit Freuden lebt und stirbt und Opfer bringt.«

»Lelio hatte wohl Recht zu sagen, seine Mutter sei eine fromme, vortreffliche und kluge Frau,« sagte Judith.

»Ob ich gut und fromm bin, weiß Gott allein!« erwiderte Pasqualina. »Bin ich's – so wolle Gottes Gnade mich so erhalten bis zu meinem seligen Sterbestündlein. Klug aber bin ich gar nicht, Signora! meine Klugheit steckt im Katechismus und in der Betrachtung des bitteren Leidens und Sterbens des Herrn. Im Katechismus stärke und erleuchte ich meinen Glauben und in der Betrachtung kräftige und erwärme ich meine Liebe. Das kann jeder haben!«

»Der danach verlangt!« setzte Judith hinzu. »Aber nun noch eine Frage, teure Signora! Wenn ich katholisch bin – darf ich dann einen Akatholiken heiraten?«

»Bei uns zu Lande kommt, Gott Dank! so etwas nicht vor! Es muß ja etwas Entsetzliches sein, eine Ehe zu schließen, in welcher der eine Teil außerhalb der Glaubens- und Liebesgemeinschaft der Kirche stände. Es scheint mir unmöglich, daß eine solche Ehe anders, als aus frevelhaftem Leichtsinn geschlossen werden könnte! Welche Gefahr für ihre Nachkommenschaft, in Gleichgültigkeit gegen den Glauben zu geraten, die Sakramente zu mißachten, oder wohl gar – o seligste Jungfrau! der Gnadenmittel beraubt zu werden! Welch' katholisches Herz wäre im Stande, eine Ehe zu schließen, die arme unschuldige Kinder um die Seligkeit brächte, den Leib des Herrn zu empfangen, der unser Trost, unser Glück, unser Heil, unsere Liebe, unser ein und alles ist. O teuere Signora! der Leib des Herrn, in unseren Tabernakeln, auf unseren Altären – ist nicht bloß der Mittelpunkt unserer Glaubensgeheimnisse; er ist der Grund unserer Liebe zu unserem Glauben und zu Dem, der vom Himmel kam, um ihn uns zu offenbaren. Wer an das hochheilige Geheimnis der Eucharistie glaubt, fühlt ein solches Erbarmen mit denen, welche nicht daran glauben, daß er ihnen diesen Glauben mit seinem Blut erkaufen möchte; aber seinen Freund, aber seinen Gatten wählt er nicht unter ihnen sich aus, denn er weiß ja, daß sie die ewige Wahrheit, die uns zu unserem Heile und unserer Heiligung durch die Zeit in die Ewigkeit leitet, nicht besitzen. Und wer sie nicht besitzt – was hat der? was weiß der? was vermag der? was liebt der?«

»Nichts!« sagte Judith. »Er hat sein Ich, er weiß von seinem Ich, er liebt sein Ich – und das ist Nichts, wenn Gott selbst ihn nicht, belehrt, was damit anzufangen sei! Und diese Lehrerin der Menschheit ist die Kirche; deren Mund ist der Priesterstand; er verkündet die ewige Wahrheit! O mein Gott! ich werde auch in der ewigen Wahrheit leben und gerettet werden aus meiner Existenz des Scheines, der Verblendung und des Irrtums.«

»Dann werden Sie aber auch den Gedanken fahren lassen, einen Akatholiken zur Ehe zu nehmen, nicht wahr, teure Signora?« rief Pasqualina und ergriff innig Judith's Hand. »Das müssen Sie mir versprechen! Nein, nicht mir! der heiligen Mutter Gottes von den sieben Schmerzen müssen Sie es versprechen! O, welche Gnade, Signora! Sie sind eine Tochter des Volkes, aus dem Maria, »die Gebenedeite unter den Weibern,« als eine »Lilie zwischen Dornen« entsproß! des Volkes, dem die Magdalena angehörte, die als eine große Sünderin dem Heiland zu Füßen fiel und als eine große Heilige wieder aufstand, gerechtfertigt durch ihre büßende Liebe. O, wie werden diese beiden Wunder der Gnade jetzt am Throne Gottes bitten für Sie, die Tochter Israels, die zu ihnen auf den Kalvarienberg sich flüchtet! Aber auf den Kalvarienberg zu Jesus und Maria, zu Johannes und Magdalena kommt man nur durch das Kreuz – und das Kreuz ist Sinnbild jedes Opfers, welches aus heiliger Liebe gebracht wird. Also bringen Sie nur getrost Ihr kleines Opfer dem Gott, der ein so großes für Sie am Kreuz bringt; und in dem Augenblick, wo Er Ihre Seele in seinem Blut rettet, betrüben Sie ihn nicht so sehr, um diese gerettete Seele eine Verbindung eingehen zu lassen, in welcher dies göttliche Blut verachtet und die Ehe nicht als ein Sakrament betrachtet wird. Das können Sie nicht tun! das dürfen und werden Sie nicht tun! Ach, versprechen Sie es der Mutter Gottes. Tut's Ihnen weh? Ach, es hat auch der seligsten Jungfrau wehe getan, unter dem Kreuz zu stehen und ihren liebsten Sohn der Gerechtigkeit Gottes zum Opfer zu bringen. Gibt es Ihnen einen Stich durch's Herz? Ach! ihr Schmerz war so groß, als ob ihr sieben Schwerter auf einmal das Herz durchbohrten. Das sollte so sein, damit sie Mitleid habe mit dem Jammer der ganzen Welt. Die Königin der Schmerzen mußte sie sein, um die »Trösterin der Betrübten« werden zu können. O, fürchten Sie nicht das Herzeleid eines Opfers! Maria steht Ihnen bei! Maria hält Sie und lehnt Sie sanft an das Kreuz ihres lieben Sohnes .... und das rosenfarbene Blut aus den heiligsten fünf Wunden überrieselt Sie und heilt wie Balsam alle Wunden Ihres Herzens zu.«

Immer inniger und zärtlicher, und endlich unter strömenden Tränen hatte Pasqualina gesprochen und so mütterlich schaute sie mit ihrem seelenvollen Auge Judith an, daß diese ganz überwältigt von einer so neuen, so ungeahnten Liebe, ihre Arme um Pasqualinas Nacken schlang und ihre Stirn auf deren Schulter lehnte und leise sagte:

»Ach, wie ist mir bei Ihnen so wohl!«

»Ich habe heute auch den Leib des Herrn empfangen,« entgegnete Pasqualina freudig gerührt und demütig.

»Diese Liebe zu den Seelen, diese Teilnahme für Seelen, dies Verlangen, Seelen für Gott zu retten, öffnet mir den Einblick in eine ganz fremde Welt,« sagte Judith und richtete sich nachdenkend auf.

»In die Welt der Erlösung,« setzte Pasqualina hinzu, »in der man an allen Seelen das Ebenbild Gottes und das Blut Jesu gewahr wird – oder werden möchte.«

»Nun muß ich fort!« sagte Judith tief erseufzend; »aber ich habe noch einige Bitten. Geben Sie mir das Buch, das Sie so himmlisch klug macht.«

»Den Katechismus? gern!« erwiderte Pasqualina und holte ein kleines Buch aus dem Auszug des Tisches, auf dem ihre Näharbeit lag. »Dies kleine Buch enthält die geoffenbarten Wahrheiten unserer heiligen Religion, wie die Kirche Christi, die vom heiligen Geist regiert und erleuchtet wird, sie lehrt.«

Judith schlug das Büchlein auf und las auf der ersten Seite die Frage:

»Wozu bist du auf Erden?« –

Und darunter die Antwort:

»Um Gott zu erkennen, ihn zu lieben, ihm zu dienen und dadurch in den Himmel zu kommen.«

Judith machte das Buch zu und rief:

»Damit ist alles gesagt! dadurch erfährt man, was Wahrheit – was Liebe – was Glück ist. Und wahrlich, Signora! das spricht der heilige Geist! denn so lange die Welt steht, hat der Menschengeist so nicht gesprochen.«

Sie steckte das Buch zu sich, nahm ihre Börse und sagte:

»Signora, ich bin hier fremd! Sie werden gewiß einige Notleidende kennen, denen man mit Gold helfen kann. Wollen Sie das tun?«

»Ich werde die Börse unserem Herrn Pfarrer bringen,« entgegnete Pasqualina; »der versteht sich auf's Almosengeben und wird Sie in ein frommes Gebet einschließen. Ich werde ihn bitten, Maria della pace für Sie anzurufen, damit der unzerstörbare Friede des Glaubens Ihre Seele erfülle.«

»Endlich, bitten Sie Ihren Sohn, daß er mir seinen Freund zusende, den jungen Geistlichen.«

»Meinen Sie den Abbate, Don Cinthio?«

»Ich weiß seinen Namen nicht! es ist ein hoher schlanker, blonder junger Mann.«

»Ganz recht! mit einem engelhaften Ausdruck und einem fremden Accent – Don Cinthio!«

»Ich lasse also Don Cinthio zu mir bitten.«

»Aber zu wem, Signora?«

»Zur Judith! das Übrige weiß Ihr Sohn! Und beten Sie für mich!«

Sie umarmte Pasqualina und eilte fort – fort zur Kirche Maria della pace; doch nicht um Raphaels Sibyllen zu bewundern, sondern um zu überlegen, was sie gehört, und was sie zu tun habe.

Was sie gehört? o wie war das schön, lieblich, klar! wie quoll das in ihre durstige Seele, als ein warmer Mairegen in sprödes Erdreich, als weiche Frühlingsluft um den starren Baum! Welch ein Reichtum des Daseins, welche Fülle des Lebens tat sich vor ihr auf in dieser Liebe, die von der Liebe Gottes entzündet – in dieser Wahrheit, die von dem Geist Gottes durchleuchtet – in diesem Glück das in der Vereinigung mit Gott gefunden wird. Das ist's! das ist's! das ist's! frohlockte ihr Herz in einem Jubel, der nicht enden wollte. Und was sie zu tun habe? .... o das war zuerst auch ganz einfach und leicht: die Taufe empfangen im Blut Jesu! Aber dann? Sie schauderte. Nicht weil sie ein Opfer zu bringen hatte; denn es schien ihr kaum ein Opfer zu sein, einen Menschen aufzugeben, um Gott zu gewinnen. Aber weil sie nicht wußte, wie sie sich von Orest losmachen sollte. Sie hatte ihn so weit gebracht, daß er gleichsam einen Todessprung machen wollte, um zu ihrem Besitz zu gelangen – und nun sollte sie ihm Halt! zurufen und sagen: Es ist aus und vorbei zwischen uns. Wie wird er das aufnehmen – jetzt, wo alles für ihn auf dem Spiele steht und wo er in einer Spannung und Aufgeregtheit sich befindet, wie der Spieler, über dessen ganzes Vermögen der nächste Würfelfall entscheidet. Und wenn es mich das Leben kostete, sagte Judith schaudernd zu sich selbst, ich kann nicht Gräfin Windeck werden – und ich muß mich von Orests Seite auf alles gefaßt machen. O nur erst die Taufe! die Taufe, daß mich die heiligmachende Gnade zu einem Kinde der Kirche, einer Tochter Gottes und Erbin des Himmelreiches mache: dann ist meine Seele gerettet! und bringt Orest mich um's Leben, wie ich das verdient habe, so weiß ich doch, daß ich im Blut Jesu von meinen Sünden gereinigt und eine erlöste und für die Ewigkeit gerettete Seele bin. Wie hat jene große Büßerin Thais gebetet? O du, der du mich erschaffen hast, erbarme dich meiner! Ihr Herz brach in Tränen und mehrmals wiederholte sie: Erbarme dich meiner! Ihr ganzes Leben zog an ihrem inneren Auge vorüber. Was sah sie? kalte Selbstsucht! kalten Hochmut! Nie habe ich etwas anderes geliebt, als mich selbst – oder anderes .... meinetwegen! wimmerte sie leise; nie ein Opfer gebracht, nie fremdes Glück höher angeschlagen als das meine! Vor dem Altar des heiligsten Sakramentes war sie auf die Knie gesunken. Da lag sie auf dem Marmorboden und hob weinend ihre Hände empor und streckte die Arme aus zum Tabernakel und seufzte: Wohnst du da, du Gott der ewigen Wahrheit und der ewigen Liebe, so erbarme dich meiner und laß mich dich finden, denn ich verschmachte nach Liebe und Wahrheit, und weiß nicht, wo auf Erden ich sie suchen könnte, als bei dir. Niemand störte die Beterin; niemand sah hin zu ihr. Der warmherzige Südländer begreift, daß die Andacht ebenso gut wie jede andere lebhafte Empfindung – ihre Sprache ihren Ausdruck, ihre Geberden habe. Ein junger Geistlicher, der häufig vor diesem Altar sein Brevier betete, zog sich leise zurück. Er glaubte Judiths. Gestalt trotz ihres einfachen Anzuges zu erkennen. Ihr Gesicht war verschleiert. Vor dem Mutter-Gottesaltar kniete er nieder und flüsterte in seliger Hoffnungsfreude: »Wenn sie es ist, so ist sie gerettet .... denn sie betet .... und betet in Tränen. Heilige Maria, Königin des Friedens bitte um Frieden für diese arme ruhelose Seele.«

Nach einer dreistündigen Abwesenheit kam Judith gefaßt zu Hause; aber ihre Kammerfrau stürzte ihr entgegen und rief:

»Gott Dank, da sind Sie! Hat der Herr Graf Sie gefunden? er streift in der Stadt umher, um Sie zu suchen. Die Villa Borghese hat er schon durchjagt und kam verzweiflungsvoll vorgefahren, um zu fragen, ob Sie inzwischen vielleicht angelangt wären.«

»Der Herr Graf ist allzu gütig!« unterbrach Judith den Strom der Mitteilung. »Ist sonst nichts vorgefallen?«

Die Kammerfrau gab ihr einen Brief und setzte hinzu, das kleine Mädchen, das denselben gebracht habe, werde im Laufe des Nachmittags die Antwort holen. Judith ging mit dem Brief in ihr Zimmer und erbrach ihn ziemlich gleichgültig. Er war in französischer Sprache, Handschrift und Papier höchst elegant – und ohne Unterschrift. Sie las mit wachsender Spannung:

»Signora! Da Sie dem höchsten Glück entgegen gehen, welches einem Menschen zu Teil werden kann, indem Sie das Sakrament der Taufe empfangen: so glaube ich, daß Sie umsomehr von fremdem Leid gerührt sein werden. Meine Verhältnisse sind der Art, daß ich Sie nicht aussuchen kann und doch das heißeste Verlangen habe, Sie zu sprechen. Das Ungewöhnliche meiner Bitte sagt Ihnen deutlicher als tausend Worte, wie wichtig mir ein Gespräch mit Ihnen wäre. Ich bitte also, Signora, daß Sie die Güte haben möchten, mir Tag und Stunde zu bestimmen, wo ich Sie im Kloster der Damen vom Sacré Coeur zu Trinità dei Monti auf dem Pincio erwarten dürfte. Ihr Name, an der Pforte genannt, wird Ihnen Einlaß geben. Je näher der Tag und je früher die Stunde, desto lieber wär' es mir. Ich bitte nur um zwei Worte mit Ihrer Bestimmung, Signora; aber ich bitte um des Blutes Jesu willen, das Ihrer Seele, zur Freude aller Kinder der heiligen Kirche, die Fülle der Gnaden bringen wird.«

Judith las den Brief dreimal von Anfang bis zu Ende durch; da ihr aber nicht die leiseste Ahnung kommen wollte, wer die Schreiberin sein könne, die von ihrem Vorhaben wisse und sich eben so sehr darüber freue, wie Signora Pasqualina, so setzte sie sich rasch hin, schrieb die Worte:

»Morgen früh um sieben Uhr wird J. M. an der Pforte des bezeichneten Klosters sein;« siegelte das Blatt ein und gab es ihrer Kammerfrau für die kleine Botin.

Kaum war sie damit fertig, so hörte sie im Salon Orests hastigen Schritt. Sie eilte ihm entgegen, gab ihm die Hand und sagte freundlich:

»Ich danke Ihnen gar nicht für Ihre Sorge, denn Sie werden ja ganz dadurch verstört.«

Er sah in der Tat so leichenblaß und verstört aus, daß sie Mühe hatte, ihre heimliche Angst zu unterdrücken.

»Woher kommen Sie denn eigentlich? und was dachten Sie überhaupt?« fragte sie beklommen, da er gar nichts sagte, sondern nur ihre Hände hielt und küßte und an seine Stirn und auf seine Augen legte, wie um sich zu überzeugen, daß sie wieder da sei! daß sie es sei.

»Werd' ich nicht erfahren, was Sie in diesen Zustand von Aufregung versetzt hat?« fragte sie abermals.

»Judith verschwindet – und ich soll nicht aus der Fassung kommen!« rief Orest.

»Verschwindet! ... ich hatte armen Leuten Geld zu geben und war in einer Kirche; nennen Sie das – verschwinden!« entgegnete Judith.

»Der Morgen verging – und Sie kamen nicht wieder! da suchte ich Sie in der Villa Borghese und als ich Sie nicht fand – in der Villa Pamsili, weil ich ja weiß, daß Sie dort gern unter den Pinien wandeln. Aber Sie waren auch da nicht – und nun kam mir der gräßliche Gedanke in den Sinn ... Sie wären entführt, waren mir entrissen.« ...

»Welche Torheit, teurer Orest!« unterbrach ihn Judith; »Entführungen sind nicht römische Sitte! man muß doch immer bei Besinnung bleiben.«

»Nicht bei dem Gedanken, daß ich Dich verlieren könnte!« brach Orest stürmisch aus. »Was wäre, die Liebe, wenn das Herz dabei kalt bliebe! ... wenn es sich nicht sträubte, wie gegen den Tod, gegen einen solchen Verlust. O Judith! Geliebte! die ganze Welt hat sich Wider unser Glück verschworen! ich kann hier freilich protestantisch werden; allein meine Ehescheidung muß ich in meiner Heimat betreiben. Das gibt unabsehbare Verzögerungen. O laß uns fliehen! laß uns auf irgend einer paradiesischen Stätte des Orients die Welt vergessen.«

»Gott will es nicht!« unterbrach sie ihn. Aber sie, die doch sonst so mutig war, hatte nicht den Mut, ihm zu sagen, welchen Umfang sie diesem Ausruf gab. Sie fürchtete sich vor Orest. Sie, die Stolze, die ihren Triumph darin gefunden hatte, seine Leidenschaft so zu steigern, daß er nicht mehr deren Herr war; die gewähnt hatte, sie sei jetzt die Königin und Beherrscherin seines Glückes und seines Schicksals, weil sie sein Idol war: ach, sie mußte jetzt erfahren, daß sie gerade dadurch abhängig von ihm und die beängstigte Sklavin seiner entfesselten Leidenschaft geworden sei.

»Kaltes Herz!« rief Orest vorwurfsvoll.

»Man liebt wie man kann!« sagte sie kühl.

»Sei es! liebe mich wie Du kannst ... aber liebe mich, Judith!« rief Orest zu ihren Füßen sinkend.

»O, ich fange wirklich an, Sie zu lieben!« sagte sie mit einem so eigentümlichen Ausdruck, daß Orest sich über deren innerste Bedeutung täuschte und jubelnd rief:

»Dann werde ich selig sein.«

»Ich habe vor einiger Zeit mit einem Geistlichen hinsichtlich meiner Taufe gesprochen!« nahm Judith das Wort, um alle Liebesbeteuerungen abzuschneiden, die auf Orest's Lippen schwebten. »Jetzt, da meine Verpflichtungen an hiesiger Oper zu Ende sind, will ich mich etwas gründlicher mit der Lehre beschäftigen, der ich mich zuwende.«

»Nur nicht zu viel!« rief Orest. »Die Hauptlehre in allen Religionen ist die: Gott ist die Liebe. Das muß man festhalten und alles, was dem widerspricht – wegwerfen.«

»Ja,« sagte Judith ernst, »so habe auch ich den Kern des Christentums verstanden.«

»Und bleib' dabei, Geliebte! laß Dich nicht ein auf dogmatische Auseinandersetzungen, auf scholastische Erklärungen, welche dieser einfachen, verständlichen, unserem Begriff vom höchsten Wesen entsprechenden Lehre, eine teils übertriebene, teils verkehrte Anwendung geben möchten, um die Gewissen in ängstlicher Abhängigkeit zu halten! Gott ist die Liebe: damit kommt man durch die Welt.«

»Aber wohin?« fragte Judith gedankenvoll und ihr Sinn flog weit hinweg über die Staubeswelt.

»Wohin?« rief Orest, sie mißverstehend. »Nun, zum Ziel! zum Glück ... zum Glück der Liebe.«

»Das ist ein großes Wort!« sagte sie: »Glück der Liebe – unser Ziel!«

So sprach jeder von seinem Standpunkt aus und keiner verstand den anderen. Es war eine Kluft zwischen ihnen aufgetan.

Am Abend fand sich bei Judith mit einigen anderen Personen auch der Marquis d'Avallon ein, der sie in der Villa Diodati besucht hatte.

»Das ist ja die verkehrte Welt, nach dem Karneval in Rom einzutreffen!« sagte Judith ihn begrüßend.

»Dann hab' ich ja ganz absichtslos etwas sehr Passendes getan,« entgegnete er; »Verkehrtes schickt sich in unsere verkehrte Welt! Geschieht einmal etwas Vernünftiges, so findet es keinen Platz, keinen Anklang, keine Heimat, keine Sympathie.«

»Ah, Sie haben gewiß etwas enorm Vernünftiges getan, seit wir uns am Genfersee sahen, Herr Marquis!« rief Judith lächelnd.

»Dies Glück ... oder Unglück hatte ich nicht, Signora; aber ich hab' inzwischen jemand gesehen, der es hatte und der mir allerdings interessanter war, als die höchst interessanten Ruinen römischer Baukunst im südlichen Frankreich, die ich so eben studiert habe, um sie mit den Ruinen Roms zu vergleichen.«

»Abermals eine Verkehrtheit!« warf Judith ein. »Rousseau vergaß die Huldin seines Herzens über dem Pont du Gard: Marquis d'Auallon vergißt den Pont du Gard über?...«

»Über einen unbeschuhten Karmeliten, Signora.«

Ein herzliches Gelächter antwortete von allen Seiten dem Marquis.

»Dies ist beispiellos in der Geschichte der Menschheit!« sagte Madame Miranes.

»Wenn es eine Karmelitesse wäre!« rief Orest.

»So wäre das freilich keine Verkehrtheit,« sagte der Marquis. »Aber es ist nun einmal ein Karmelit! und sollten Sie, Signora, nie etwas von diesem Pater Augustin vom heiligen Sakrament gehört haben?«

»Keine Silbe! und weshalb denn ich?« sagte sie erstaunt.

»Als auf der Sonnenhöhe der Berühmtheit Liszt in Europa seine Kunstreisen machte, begleitete ihn zuweilen ein junger Mensch von brillantem musikalischen Talent, der Herrmann hieß.«

»Ich erinnere mich seiner aus Paris!« rief Madame Miranes. »Ja, ja! Herrmann! ein junges, ziemlich insolentes Bürschlein, aber ein Lieblingsschüler Liszt's, wegen seines eminenten Talents!«

»Mit seinem vollen Namen hieß er Herrmann Cohen und war der Sohn eines jüdischen Kaufmanns aus Hamburg,« sagte der Marquis. »Er – und der unbeschuhte Karmelit, Pater Augustin vom heiligen, Sakrament, sind eine und dieselbe Person; und ich hörte ihn in Bordeaux predigen. Er machte einen merkwürdigen Eindruck auf all' seine Zuhörer. Er stellte in seiner Predigt, die er am Tage der Bekehrung des Apostels Paulus hielt, viel lebendiger noch durch sich selbst, als durch seine feurigen und beredten Worte die Bekehrung des Saulus zum Paulus dar. Zum Zeichen seiner Macht über die widerstrebendsten Geister unter den Kindern Israels stellt Gott solche Menschen wie Denksteine in der Welt auf. Welch eine übermenschliche Seelenstärke und Liebe zur Tugend gehört dazu, um einen Menschen aus dem ungebundenen Rausch eines glänzenden, vielfach bewegten Lebens in den Habit und die Zelle des Karmeliten zu führen.«

»Was muß Gott sein ... für die, die ihn lieben!« fügte Judith.

»Das ist's!« rief der Marquis überrascht. »Signora, Sie verstehen alles ... wie eine gewiegte Katholikin!«

»Es gibt nun einmal solche Menschen, die ihre Freuden da finden, wo wir verzweifeln müßten,« sagte Orest. »Ich habe ja ein solches Beispiel an meiner Cousine erlebt. Ein bildschönes, liebenswürdiges Mädchen begräbt sich bei zweiundzwanzig Jahren im Kloster der Karmelitessen. Man faßt, man begreift so etwas gar nicht.«

»Wenn man den Grund dafür mathematisch – oder durch Wahrnehmungen der fünf Sinne bewiesen haben will: dann freilich ists nicht zu fassen,« sagte der Marquis.

»Und kann irgend etwas vor der Vernunft Geltung haben,« fragte Florentin, »was sich nicht auf jenem Wege beweisen läßt?«

»Wenn Sie alles verwerfen, was die Sinne nicht wahrnehmen und was die empirische Wissenschaft nicht beweist,« entgegnete der Marquis, »so verwerfen Sie das ganze höhere Geistesleben des Menschen, die ganze sittliche und intellektuelle Welt, alle Lehren und Grundsätze, auf denen die Menschheit ruht. Aus ihrem chemischen Schmelztiegel geht nicht Gott, nicht die Offenbarung, nicht das Gewissen hervor. Leugnen Sie aber das alles – womit füllen Sie dann den furchtbaren Abgrund aus, der sich im Innern einer Seele auftut, welche von allen übernatürlichen Traditionen abgelöst, an nichts sich hält, als an der sichtbaren Welt: also am Nichts! ... denn die vergeht! In allen großen Gesetzen und hohen Ideen der Menschheit, in ihrem ganzen Leben und Weben verrät sich die Ahnung einer übernatürlichen Welt, mit welcher der Menschengeist in geheimnisvoller unleugbarer Verbindung steht.«

»Dieser Behauptung kann vielfach widersprochen werden,« sagte Florentin, »zum Beispiel durch den Zustand, in welchem sich der größte Teil der Menschheit befindet. Die wilden Völker wissen nichts von solcher Ahnung.«

»Weil der Geist bei ihnen in jenen Stumpfsinn gefallen ist, der ihm die Überwucherung durch die Materie bereitet,« erwiderte der Marquis.

»Und das ist auch der Grund,« rief Judith, »weshalb die Wilden unter den gesitteten und gebildeten Nationen jene Ahnung verloren haben und jenen Zusammenhang leugnen: ihr Geist ist geknechtet vom Materialismus. Sprengt ein Geist diese Fessel, so erwacht das Gottesbewußtsein in ihm – unklar, schwankend, entstellt: aber es erwacht! das beweist der Geisteszustand aller nichtchristlichen Völker alter und neuer Zeit, sobald sie die unterste Stufe der Wildheit überwunden haben und durch dies Gottesbewußtsein treten sie in den Zusammenhang mit einer Welt, die außer und über der Sichtbarkeit liegt. Der christlichen Offenbarung ist es vorbehalten, dies dunkle Bewußtsein in lichte Erkenntnis zu verwandeln.«

Indem sie so sprach, sah sie wunderschön aus: die Statue bekam eine Seele und ging aus der Traumbefangenheit zur Erkenntnis über. Es fiel allen auf. In Orest's Gehirn kreuzten sich die abenteuerlichsten Pläne, um Judith zu entführen und nach Damaskus zu bringen. Das mittelländische Meer, Libanon und Antilibanon zwischen ihm und der europäischen Welt – und er gleichsam allein im Universum mit Judith: das wurde seine fixe Idee. Der Marquis d'Avallon fragte sich heimlich, ob Judith etwa auf Herrmanns Wegen gehe, was ihn, wo möglich, in noch größeres Staunen versetzen würde. Florentin dachte zähneknirrschend: sollte denn wirklich ihr skeptischer Verstand, der nach allem fragte und alles gleichgültig beiseite legte, in die Klauen eines Boten der Finsternis gefallen und von ihm umgarnt sein! Ohne ihren Einwurf zu beachten, sagte er zum Marquis:

»Das Studium der Naturwissenschaften gibt unseren Tagen das Licht der Erkenntnis. Es durchmißt und durchforscht das Universum und enträtselt die Gesetze, welche dessen Stoffe verbinden und trennen, dessen Kräfte in Bewegung setzen; und eben weil sie das Universum umschließt und begreift, so schließt sie es auch ab – und hat somit das letzte Wort, denn über das Universum hinaus – liegt nichts; das ist klar!«

»Für den, der im Chaos der Stoffe und Kräfte bleibt,« sagte der Marquis. »Wer aber zur Schöpfung übergeht, – findet den Schöpfer und somit wieder die übernatürliche Welt.«

»Und prahlen Sie nur nicht, Signor Fiorino, daß Ihre Wissenschaften die Gesetze ergründen, welche den Erscheinungen in der Natur zum Grunde liegen! Trotz all Ihrer Physik und Chemie gibt es tausend Warum? die Sie so wenig beantworten können, als ich – der ungelehrtesten eine!« rief Judith.

»O bitte, Signora, ein Warum! damit wir das Vergnügen haben, Signor Fiorino, der es beantworten wird, anzustaunen,« sagte der Marquis.

»Warum,« sagte Judith lächelnd zu Florentin, »hat das adriatische Meer Ebbe und Flut, da es ein Busen des mittelländischen Meeres ist und dieses keine Ebbe und Flut hat?«

»Dies ist eine ganz vereinzelte Erscheinung, über welche man vermutlich nie physikalische Beobachtungen angestellt hat,« entgegnete Florentin nachlässig.

»Mit anderen Worten: man weiß es nicht,« sagte Judith. »Ja, man kennt überhaupt nicht den Grund dieses wunderbaren Phänomens der Ebbe und Flut, das man am Ocean täglich vor Augen hat, Ihre Physik kann es nicht erklären, obgleich es durchaus dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmungen angehört; sie weiß nicht, welche Kräfte und Einflüsse dabei tätig sind. Und nach einem solchen Fiasco sollte man ihr vertrauen, wenn sie übersinnliche Fragen lösen und etwa beweisen wollte, es gebe keine unsterbliche Seele, denn sie entdecke weder mit dem Seziermesser im menschlichen Organismus, noch mit dem Teleskop im Universum den Platz und den Himmel, wo diese Seelen leben könnten! Nein, guter Fiorino, Ihre Lieblings- und Fachwissenschaft kann zwar Salze, Säuren und Gase zersetzen und kombinieren, aber nicht einmal den Urgrund dieser Stoffe erklären. Wollte die Vernunft von ihr die Lösung gewisser Fragen begehren, welche sich auf übersinnliche Erscheinungen beziehen: so würde sie aufhören – Vernunft zu sein. Wähnen Sie aber nicht, Herr Marquis,« fuhr Judith zu diesem gewendet fort, »daß Signor Fiorino allein über mein Warum? Fiasko gemacht hat! O nein! ich war einmal mit einer großen naturforschenden Celebrität bei einem Diner; wo? das sag' ich nicht! Dieser Herr geberdete sich in seinen Reden nicht anders, als habe der Schöpfer ihn bei der Erschaffung der Welt zu Rate gezogen. Da rief ich ihm über den Tisch die Frage zu: Warum hat das adriatische Meer Ebbe und Flut etc.? Alles verstummte und sah erwartungsvoll das Orakel an. Aber siehe da! auch das Orakel verstummte.«

»Entsetzliches Schicksal für eine Celebrität!« rief Marquis d'Avallon munter. »Judith fragt – die Menge harrt – und sie verstummt.«

»Signora waren aber auch sehr boshaft, sich gerade diese Frage auszudenken,« sagte ein guter, stiller, deutscher Baron, der selbst nicht recht wußte, wie er in diese Gesellschaft geraten war.

»Das geb' ich zu,« erwiderte Judith. »Ich erzählte es aber, um Fiorino zu trösten.«

»Und zwar durch eine zweite Bosheit,« ergänzte der Marquis.

»Kommt es häufig in der Welt vor,« fragte Madame Miranes den Marquis, daß man die mosaische Religion aufgibt, um die christliche anzunehmen?«

»Es geht mir wie jener Celebrität,« erwiderte er; »ich kann diese Frage nicht beantworten. Das Großartige ist ja immer selten; also steht auch die Bekehrung des Pater Augustin ziemlich vereinzelt da. Doch hat sich gerade hier in Rom vor etwa zehn, zwölf Jahren eine andere zugetragen, von der man auch sehr viel gesprochen hat, weil sie so plötzlich und doch so gründlich war; nämlich die des Herrn Alphons Ratisbonne aus Straßburg. Er kam nach Rom, um sich zu amüsieren, keineswegs, um zu konvertieren. Er ging eines Tages mit einem Freunde nach der Kirche S. Andrea del fratte. Während der Freund in die Sakristei geht, um mit einem Geistlichen zu sprechen, bleibt er allein in der Kapelle der Muttergottes, und als der Freund zurückkommt, erklärt er demselben, er wolle katholisch werden. Das geschah denn auch – und nach einigen Jahren stiftete Herr Ratisbonne von seinem Vermögen die Congregation von Unserer Lieben Frau zu Sion; eine weibliche Genossenschaft, welche die Bestimmung hat, durch Erziehung und Unterricht jüdische Kinder für den christlichen Glauben zu gewinnen und namentlich in Jerusalem dies fromme Werk zu betreiben. Er hat in der heiligen Stadt den Platz des alten römischen Prätoriums gekauft und zu einer Niederlassung für seine »Töchter Sions« eingerichtet, während sie in Paris ihr Mutterhaus – und zum Generaloberen der Kongregation den Abbé Theodor Ratisbonne haben, den älteren Bruder ihres Stifters, der schon früher konvertiert und sich dem geistlichen Stande gewidmet hat.«

»Und in der Kapelle,« rief Judith, »die ein bekehrter Sohn Israels für die fernere Bekehrung des Volkes Israels gestiftet hat – habe ich in der Charwoche des vorigen Jahres das Stabat mater gesungen, um diesem Werk einige Geldmittel zuzuwenden – ich, eine Tochter dieses Volkes!«

»Die Kinder dieses Volkes müssen sich aber vor der Bekehrung zum Christentum hüten,« bemerkte Florentin giftig, »denn nach allem, was wir heute hören, verfallen sie durch dieselbe in den grauenhaftesten Fanatismus. Der eine wird Mönch, der andere wird Pfaffe, der dritte verschwendet sein Vermögen, um durch bigotte Nonnen arme Judenkinder um ihren Glauben zu bringen. Wahrhaftig, ein solches Delirium des Fanatismus kann nur abstoßend wirken.«

»Signor Fiorino,« sagte Marquis d'Avallon sehr verlegen, »vergeben Sie mir .... ich wußte nicht .... ich hätte diesen Punkt vielleicht besser unberührt gelassen ....« –

»Was wußten Sie nicht, Herr Marquis?« fragte Judith höchst verwundert über seine plötzliche Verlegenheit.

»Aus Signor Fiorinos Bedauern, daß jüdische Kinder im Christentum erzogen werden, sehe ich, daß er ein eifriger Anhänger der mosaischen Religion ist – und das wußte ich nicht.«

Orest lachte hellauf und rief, immer bereit, an Florentin einen Hieb zu geben:

»Corpo di Bacco! dies ist ein höchst interessantes Quiproquo – denn es ist eine Enthüllung der geheimen Verwandtschaft zwischen Jung-Israel und Jung-Deutschland. Haß gegen das Christentum ist das rosenfarbene Band, welches sie verbindet. Von jeher war Heide, Ketzer, Türk in dem Punkt des Juden Bundesgenosse. Jetzt ist es der Sozialist. Trösten Sie sich, guter Marquis! Signor Florentin ist gerade so gut von einem katholischen Priester getauft worden, wie Sie und ich.«

»Das wäre ein Grund, um mein Bedauern auf einen anderen Grund zu richten!« rief der Marquis.

»Nein, nein! Trösten Sie sich nur ganz gründlich, Herr Marquis!« rief Florentin hochfahrend. »Meine Gottheit und mein Kultus haben mit mosaischen, christlichen und islamitischen Glaubensbekenntnissen nichts zu tun; haben diese Eierschalen, welche auf eine niedrige Abkunft deuten, von ihren Flügeln geschüttelt, und sind weder in Dogmen zu beschränken, noch in Kirchenmauern einzusperren. Der Geist, der sich zu freier Selbstbestimmung, über tausend Lug- und Truglehren, Vorurteile und Täuschungen erhebt: das ist meine Gottheit, und sie wohnt in jeder Menschenbrust. Der Kultus, der ihr wohlgefällig ist, besteht darin, daß alles weggeräumt werde, was die freie Selbstbestimmung hemmt: der ganze Kram von Dogmen, der ganze Apparat theologischer Wissenschaft, das ganze Agglomerat kirchlicher Formen und Zeremonien, Vorrechte und Gebräuche – alles! Wer von diesen Fesseln, Ketten und Windeln des Geistes auch nur ein Atom hinwegnimmt, hat dadurch ein Weihrauchkorn der Huldigung für die ewige Gottheit gestreut, die von Anbeginn in der Menschheit gewohnt hat – aber verkannt.«

»Sehr verkannt!« sagte der Marquis trocken. »Man hat diese ewige Gottheit – Satan genannt.«

»Das haben die Priester Ihres Gottes zuwege gebracht!« fuhr Florentin fort. »Um die freie Selbstbestimmung des Menschengeistes zu hindern, nannten sie dessen Bewegung in jener Richtung: Abfall zum Bösen – und gaben diesem Bösen, um es für Kinder an Geist möglichst abschreckend zu machen, die Gestalt eines Teufels, eines Undings, das nirgends existiert, als in der Phantasie eines Pfaffen, aus dessen entmenschtem Herzen es in sein verbranntes Gehirn übergegangen ist ...« –

»Herr Marquis,« sagte Judith mit ruhigem Ernst, »jetzt ist es an mir, Ihnen meine Entschuldigung zu machen, weil Sie, ein Katholik und, wie ich hoffe, ein guter Katholik – gerade bei mir einen Emanzipierten vom katholischen Glauben treffen mußten. Ich bin keine Katholikin; aber eine Versicherung kann ich Ihnen mit aller Aufrichtigkeit geben: die Bilder, welche Sie uns heute abend in Menschen vorgeführt haben, die sich zum katholischen Glauben – und infolge davon zu einem weltentsagenden Opferleben bekehrt haben – stellen sich neben dem Bilde des abgefallenen .... oder emanzipierten Menschen, welches Signor Fiorino uns vorführt, nicht anders dar, als das Paradies neben der Hölle.«

Der Marquis, dessen Glaubenstemperatur durch Judiths Beifall um einige Grade stieg, erwiderte:

»Das haben Sie ganz richtig charakterisiert, Signora. Der Katholik ist infolge seiner Glaubenslehre im Besitz der vollen übernatürlichen Wahrheit, die ihn, wenn er sie praktisch erfaßt und übt – zum höchsten Ziel, zur Seligkeit durch Heiligkeit führt: und das erstreben die Menschen, von denen ich sprach. Der Katholik, der die Offenbarung der übernatürlichen Wahrheit, und folglich auch das Ziel, wohin sie führt, verwirft – hält sich zu ihrem Gegensatz und langt bei deren Ziel an: Unseligkeit! Also: der eine zum Himmel und zur Hölle der andere.«

»Und so wäre ich richtig zur Hölle verdammt!« rief Florentin höhnisch lachend.

»O mit nichten!« entgegnete verbindlich der Marquis; »diese Vermessenheit hat keiner von uns. Sie haben sie freiwillig gewählt, Signor. Der Weg des Abfalles und der Weg der Unterwerfung – die Hingebung an den Geist Gottes wie an den eigenen Geist – die Liebe zu übersinnlichen Dingen wie die Versenkung in Materialismus sind in unsere Hand gelegt. Wir wählen frei. Das ist ja eben die Selbstbestimmung, auf die Sie so stolz sind.« – –

Judith brach auf. Ihr waren Herz und Kopf voll und übervoll von allem, was sie im Laufe des Tages gehört – und innerlich gelebt hatte. In ihrem einsamen Zimmer sank sie auf die Causeuse am Kamin und seufzte erschöpft: Bin ich endlich erlöst von meiner Menschenmenagerie! Aber nach einer Pause setzte sie hinzu: ich muß mir diese Verachtung der Menschen abgewöhnen! sie haben ja Seelen, für welche das Blut Jesu vergossen ist! – –

Florentin nahm Orest unter den Arm, begleitete ihn zum Hotel Meloni und sagte:

»Orest, nimm Dich in acht vor den Dunkelmännern. Judith läuft Gefahr, in ihre Schlingen zu fallen. Wer hätte je so etwas gedacht! Stupide, unbedeutende Gänschen, denen man einredet, sie würden Heilige werden, Wunder tun und prophezeien und dadurch zu Ansehen und Geltung kommen – ja, daß die sich von den Pfaffen fangen lassen, ist begreiflich. Aber Judith, die übergenug an Berühmtheit – und außerdem Urteil und Besonnenheit trotz ihres Genies und einen energischen Charakter hat – es ist unbegreiflich! unbegreiflich! unbegreiflich!«

»Was ist unbegreiflich!« fuhr Orest auf; »daß sie cm Deinen Predigten über die freie Selbstbestimmung keinen Geschmack findet; nicht wahr? Nein, Freund! diesem Idol können nur ganz verkommene Weiber huldigen – oder solche, die auf gutem Wege dazu sind. Mit dieser Sorte hat Judith nichts gemein, und ich freue mich darüber. Gibt es eine Horreur unter der Sonne, so ist es ein brutales Weib; und brutal ist jede, die Deinen Theorien huldigt.«

Florentin zündete höchst gelassen seine Cigarre an und sagte: »Warte nur! wird Judith eben so fromm wie Corona, so langweilt sie Dich auch.«

»Judith hat bis jetzt ein einziges Mal mit einem Geistlichen gesprochen,« sagte Orest; »daraus kann man unmöglich auf übertriebene Frömmigkeit schließen.«

»Woher weißt Du, daß es nur einmal geschah?«

»Judith hat es mir gesagt – und sie lügt nicht.«

»Sage lieber – sie log nicht! Unter der Leitung der Pfaffen muß man auf alles von ihr gefaßt sein. Ich bin überzeugt, es ist eine Intrigue in vollem Gange.«

Orest machte eine Bewegung, als ob er Florentin packen und schütteln möchte, faßte sich aber und sagte:

»Du bist so grenzenlos gemein, daß Dir die Niederträchtigkeit der Gesinnung gleichsam aus allen Poren dringt.«

»Ich habe ja nicht von einer Liebesintrigue gesprochen,« hohnlachte Florentin.

Orest sprang drei Schritte zurück und in seinen Wagen, der hinter ihm her fuhr, rief: »Gute Nacht« – und fuhr von dannen. Florentin tat einige gemütliche Züge aus seiner Zigarre und sprach zu sich selbst: Ich werde aufpassen! das fehlte noch, daß Judith eine fromme Katholikin würde! das muß man stören – und das kann man am besten durch Eifersucht.

Orest langte höchst aufgeregt im Hotel Meloni an. Als sein Diener ihm sein Zimmer öffnete – saß Uriel da. Die Brüder fielen einander in die Arme. Seit fast vier Jahren hatten sie sich nicht gesehen. Jeder fand den anderen über alle Maßen verändert.

»Wann bist Du angekommen?« fragte Orest.

»Gegen Abend! Ich ging gleich nach dem spanischen Platz und fand den Vater und Corona in tiefster Trauer, denn eben war ein Brief von Onkel Levin angelangt mit der Nachricht .... von Regina's Tod.«

»Tot!« rief Orest erbleichend; tot .... diese schöne, diese herrliche Regina! Tröste Dich, Uriel! für Dich war sie ja doch schon mehr als tot ... sie war Dir unerreichbar. Das regt auf! Der Tod beruhigt.«

»Es können freilich im Leben Ereignisse vorkommen, die schmerzlicher sind, als das Abscheiden einer edlen Seele von der Erde,« sagte Uriel und blickte Orest sanft und traurig an.

»Ich verstehe Dich!« rief Orest, »aber schweige! ich beschwöre Dich .... schweig'! Du weißt alles durch Corona .... ich sehe es Dir n.... aber schweige, Uriel, denn Dein Reden ist ganz vergeblich. Mein Entschluß steht fest: ich lasse nicht von Judith. Macht, was Ihr wollt .... ich will geschieden sein. Ich gehe nach Stamberg, werde protestantisch und betreibe die Lösung dieses trostlosen Ehebandes. Ich hatte gehofft, Corona zu bewegen, die Sache in Güte abzutun, indem unsere Ehe, als durch Zwang geschlossen, für ungültig erklärt würde – was sich ja hier bewerkstelligen läßt; aber sie geht nicht darauf ein; sie drängt mich zu einem großen Skandal, den ich verabscheue .... und Judith noch mehr. Willst Du also von dieser Angelegenheit sprechen, so sprich mit Corona und mache ihr die geeigneten Vorstellungen, um sie zur Vernunft zu bringen. Mit mir ist jedes Wort unnütz. Ja, ich kann's nicht aushalten darüber zu sprechen .... es macht mich krank .... in einer so fieberhaften Spannung bin ich.«

»Armer Orest!« rief Uriel; »in diesem krankhaften Seelenzustand rennst Du jeder Art von Verderben zu.«

»Es sei! mit Judith .... nehm' ich es an.«

»Auch die Reue?«

»Die fürchte ich am allerwenigsten! Judith ist ein Wesen, bei dem man Himmel und Erde vergißt.«

»Auf wie lange?«

»Bis zum Ende des Lebens.«

»Nun, so ist doch immer noch für die letzte Stunde, wenn nicht früher – verzweiflungsvolle Trauer über Dein verwüstetes Leben zu erwarten.«

»Komme, was will! ich will zuerst glücklich sein .... und der Inbegriff meines Glückes ist Judith.«

»Und Deine Frau? .... und Dein Kind?«

»Schweig, Uriel! .... Es gibt nun einmal Schickungen, deren wir nicht Meister sind. Eine solche war meine Heirat mit Corona: ich gab mich den Umständen hin. Eine solche ist meine Liebe für Judith; nur daß die Leidenschaft viel gebieterischer drängt, als jene Umstände.«

»Orest!« rief Uriel zürnend, »spricht so ein Mann – ja, spricht so ein vernünftiges Wesen? Kein Kind würde wagen, sich auf diese Weise zu entschuldigen.«

»Ich entschuldige mich gar nicht!« rief Orest. »Ich sage, wie es ist. Laßt mich meinen Weg gehen. Ihr geht ja den Euren, Du, Hyazinth ... und hat nicht die arme liebe Regina sich auf dem ihren in die Arme ihres frühen Todes recht mutwillig geworfen?«

»In die Arme Gottes hat sie sich geworfen, und er hat sie früh der Erde entrückt. So, lieber Orest, steht es mit Regina. Ich glaube. Du tust schnurstracks das Gegenteil von dem, was sie getan hat.«

Orest fuhr mit einer verzweiflungsvollen Geberde mit beiden Händen in sein Haar und sagte dann:

»Willst Du vielleicht noch zu Nacht essen? ich muß schlafen gehen. Es ist mindestens Ein Uhr.«

Uriel gab ihm die Hand. Da umarmten sie sich doch wieder, die beiden Brüder! aber Orest schlief mit dem Gedanken ein: Ich gebe sie alle auf, alle und alle, für Judith.


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