Ida Gräfin Hahn-Hahn
Maria Regina. Zweiter Band
Ida Gräfin Hahn-Hahn

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Der Weg zu beiden Schicksalen.

In der großartigen Wohnung, welche Judith in einem der prächtigsten Paläste auf dem Corso genommen, hatte sie sich ein Zimmer mit der freundlichen Behaglichkeit eingerichtet, welche den römischen Palästen nicht eigen ist. Sie machen den Eindruck von Wohnungen für ernste, edle, hochherzige Geschlechter, deren Leben in großen Gedanken und wichtigen Taten verläuft, die zur Erholung wohl prächtige und feierliche Feste und einen Luxus im großen Stil, Hallen mit Marmorsäulen, Säle voll Freskobilder, Sammlungen von Gemälden, Statuen und Vasen kennen, aber keine Ahnung haben von der luxuriösen Eleganz, welche so übertrieben und so kleinlich in der Mode der Gegenwart zum Vorschein kommt. Die meisten Menschen fühlen sich sehr unbehaglich in einem solchen Palast, wo ein Saal zuweilen größer ist, als eine ganze modische Wohnung in Paris oder als ein ganzes elegantes Haus im Westende Londons. Judith hatte sich, um diesem Unbehagen zu entfliehen, ein Zimmer nach elegantem Komfort einrichten lassen. Schwere Vorhänge verhüllten die Türen, ein weicher Teppich bedeckte den Fußboden; ein Marmorkamin erfüllte seinen Zweck und gab Feuer – keinen Rauch; ein Pianino und anderes modisches Mobiliar füllte den Raum. Dies Zimmer hatte Judith für ihre Einsiedelei erklärt. Niemand durfte es betreten außer Madame Miranes, und diese tat es nicht, weil sie auf alle Launen ihrer Tochter bereitwillig einging – überdas in ihrem eigenen Zimmer denselben Komfort hatte. Es war ein seltsamer Kontrast zu diesem Zimmer und zu Judith selbst, daß sie zuweilen arme Leute, die sich mit Bittschriften an sie gewendet hatten, gerade hier empfing. Sie war sehr wohltätig, ja mehr als das! sie war teilnehmend für fremde Not. Weil sie in Gold schwamm, beklagte sie die tausend Entbehrungen der Armen. Sie machte es nicht wie so viele, welche ihre Gedanken von den Dürftigen abwenden, um nur ja nicht im Vollgenuß des Wohlbehagens durch ein trübes Bild gestört zu werden.

Eines Morgens hatte Judith eine arme Witwe, die traurige Mutter von vier kleinen Kindern, erfreut und getröstet entlassen. Die Frau ging die Nebentreppe hinunter, welche zu diesem Teil der Gemächer führte und stieß am Fuß derselben auf einen Geistlichen, der zu ihr sagte:

»Ich finde keinen Diener, um mich zu melden. Wie komme ich zu der Signora, die hier im ersten Stock wohnt? oder ist es noch zu früh?«

»Zu früh für Diener und Gesellschaft; aber nicht zu früh, wenn Sie ein Anliegen bei der Signora haben. Nur hier hinauf, Signor Abbate! da finden Sie eine Tür; da klopfen Sie an – und die seligste Jungfrau Maria verhelfe Ihnen zu Ihrem Anliegen, wie sie mir zu dem meinen bei der edlen Seele verholfen hat,« entgegnete die Frau und trocknete die Tränen ihrer kummervollen Augen.

Das ist eine gute Vorbedeutung! dachte Hyazinth und folgte der Weisung. Judiths Kammerfrau öffnete die Tür, an die er klopfte, nahm ohne weiteres an, daß jemand, der so früh und in so demütiger Haltung auf diesem Wege vorgelassen zu werden wünsche, ein Bittender sein müsse, führte ihn durch ihr Zimmer, machte eine zweite Türe auf, teilte einen Vorhang von dunkelrotem Damast und hieß ihn eintreten. Judith saß am Kaminfeuer auf einer niedrigen Causeuse. Neben ihr auf einem Tisch von florentinischer Mosaik stand ein wunderschöner Kasten von Schildkrot mit Silberfäden eingelegt und mit weißem Atlas gefüttert, worin sich eine Menge Schmucksachen befanden, welche sie musterte. Sie trug eine weite Jacke von violettem Sammt mit Zobel besetzt, in die sie sich hüllte, denn es war ein kalter Wintertag. Ein starker Arom von allerlei Wohlgerüchen erfüllte dies Zimmer mit einem Duft, welchen die kaum bemerken, die an ihn gewöhnt sind, und welcher anderen oft unerträglich erscheint. War es der Arom, oder eine gewisse orientalische Pracht des ganzen Bildes, oder Judith selbst und das, was er von ihr wußte – und hoffte: genug, Hyazinth dachte unwillkürlich an Maria Magdalena vor ihrer Bekehrung. Er blieb ruhig an der Türe stehen, als Judith sich von der Causeuse erhob und auch ganz ruhig sagte:

»Was wünschen Sie, Signor?«

»Für mich – nichts!« entgegnete er, »aber ....« –

»Ich verstehe!« unterbrach sie ihn freundlich; »für irgend ein Werk der Barmherzigkeit!« und sie schloß ein Schränkchen auf.

»Aber ich bitte für Gott um Ihre Seele, Signora,« sagte Hyazinth.

»Ah, Sie sind von Lelio zu mir gewiesen!« rief Judith und wendete sich rasch ihm zu. »Sein Sie willkommen! .... Sind wir uns schon irgendwo begegnet?« setzte sie hinzu, als sie ihn ins Auge faßte.

»Das kann wohl sein,« entgegnete Hyazinth gelassen. »Ich war neulich in der Kirche Maria della pace, als Sie dort mit Lelio die Sibyllen bewunderten.«

»Aber Sie sind kein Römer?« fragte sie wieder, als müsse sie eine Erinnerung verfolgen.

»Das beweist meine Aussprache zur Genüge,« sagte Hyazinth lächelnd. »Indessen ist die Veranlassung, die mich hierher führt, zu wichtig, als daß sich die Signora bei meiner armseligen Persönlichkeit aufhalten dürften – vorausgesetzt immer, daß Lelio recht hatte.«

»Was sagte Ihnen Lelio, Signor?«

»Sie wünschten die katholische Kirche kennen zu lernen und getauft zu werden.«

»Hauptsächlich aber wünsche ich Gräfin ...« – Sie stockte, deutete Hyazinth an, Platz zu nehmen, setzte sich wieder auf ihre Causeuse und nahm einen großen grünen Tafftfächer mit Stäben von Sandelholz zur Hand, mit dem sie spielte und den sie zuweilen als Schirm gegen die Flamme vor das Gesicht hielt. Sie fühlte sich verlegen und suchte nach Worten. Als sie aber schwieg, sagte Hyazinth nach einer Weile sanft und ruhig: »Sie wünschen Gräfin Windeck zu werden. Lelio hat mich auch davon in Kenntnis gesetzt. Erlauben Sie mir aber zu fragen: weshalb wünschen Sie es?«

»Um glücklich zu werden.«

»Sie wissen also, daß Sie in dieser Verbindung Ihr Glück finden werden?«

»Ich hoffe es.«

»Und worauf gründen Sie diese Hoffnung?«

»Auf die Liebe des Mannes, mit dem ich mich zu verbinden denke.«

»O Arme!« sagte Hyazinth mit dem Ausdruck des tiefsten Schmerzes und des innigsten Mitleides.

»Er ist geprüft und bewährt, Signor! es ist eine jahrelange Neigung – oder Leidenschaft! es ist kein verfliegender Rausch. Mein Leben war von der Art, daß ich den Unterschied wohl kennen gelernt habe und daß nichts mir wünschenswert erscheint, als der Besitz eines treuen Herzen.«

»O Arme!« wiederholte Hyazinth.

»Nicht doch, Signor!« sagte Judith bewegt; »ich bin ja reich. Ich habe ja alles, was Tausende umsonst ersehnen und was sie beneiden: Naturgaben und Vorzüge glänzender Art. Ich werde bewundert, angebetet; wo ich erscheine, erwarten mich Triumphe und Feste; ich versetze große Massen in einen Taumel von Wonne und Entzücken, weil ich die Kunst verstehe, die Saite in der Menschenbrust anzuschlagen, die am stärksten vibriert: die Leidenschaft. Ich herrsche über diese Massen; ich stimme sie auf meinen Ton. Das ist ein großer Genuß. Das ist die Art, wie das Weib am feinsten seine Herrschaft üben kann und herrschen – ist nun einmal eine Wonne! Ich habe auch Gold und bin durch mein Vermögen vollkommen unabhängig. Sie sehen also, daß ich reich bin. Nur macht dieser Reichtum mein Herz nicht glücklich. Das hab ich erkannt in den sieben Jahren meines Kunstlebens und deshalb will ich all' die schimmernde Herrlichkeit verlassen und da mein Glück suchen, wo das Menschenherz es findet – in der Liebe.«

»O Arme!« wiederholte Hyazinth.

»Schweigen Sie, Signor, mit Ihrem entsetzlichen: »o Arme!« rief Judith heftig. »Wenn Sie das sagen mit diesem Blick und diesem Ton: so verwandeln Sie mir die Marmorwände in Tonscherben und Sammt und Seide in Spinnweben – und diese Juwelen in Kieselsteine – und meine Kleider in Lumpen – und meine Hoffnung auf Glück in Fiebertraum – und mich selbst in eine Bettlerin.«

»O Arme!« sagte Hyazinth. –

»Wer ist denn in Ihren Augen reich, Signor?« fragte Judith nach einer Pause des Nachdenkens mit Fassung.

»Wer Gott besitzt.«

»Dann haben Sie ganz Recht, mich arm zu nennen, denn Gott gehört weder zu meinem Reichtum, noch zählt er mit in meinem Glück.«

»Aber Sie glauben an ihn? an einen persönlichen, außerweltlichen Gott?«

»Ich habe einmal gehört,« sagte Judith sinnend, »ein gewisser Fixstern sei so weit von unserem Planeten entfernt, daß sein Licht drei Millionen Jahre brauche, bis, es zu uns komme. Da die Astronomie das berechnet hat, so nehm' ich es als eine ausgemachte Wahrheit an – und glaube es. Allein dieser Fixstern mit seinem drei Millionen Jahre alten Licht ist mir so fern, so fremd, so unerreichbar, daß er mich, wie man zu sagen pflegt, nicht warm noch kalt macht. Ich habe nichts mit ihm zu schaffen noch zu teilen, er hat auf mein Dasein keinen Einfluß, ich denke nie an ihn. Und so ungefähr geht es mir auch mit Gott. Es gibt ja eine Gotteskunde, wie es eine Sternkunde gibt. Ich nehme an, daß auch sie die Wahrheit lehrt und glaube an einen Gott, der außerhalb seiner Schöpfung steht und von ihr unabhängig ist. Aber ich bin so wenig mit ihm in Verbindung, wie mit jenem Fixstern, und die ganze Welt rollt zwischen ihm und mir auf und ab. Versuche ich es, an ihn zu denken, so erlahmt der Geist oder irrt in der Zersplitterung der Gedanken umher. Ich finde keine Leiter, die mich zu ihm führte, keinen Faden, der mich an ihn fesselte. Jeder Aufschwung dazu macht mich mutloser, weil ich auf dem nämlichen Punkt mich immer wiederfinde, und da in meiner Familie von dem religiösen Leben, wie es bei den altgläubigen Israeliten existieren soll, nie eine Spur war, so hab' ich auch nie ein Beispiel vor Augen gehabt, daß es anderen anders gehen könne, als mir.«

»Aber Sie sahen Christen, Signora; und Sie sollten bei denen nie etwas anderes wahrgenommen haben?«

»Signor!« sagte Judith und schlug ihre Augen fest und klar zu ihm auf; »Sie merken gewiß, daß ich mich bemühe, aufrichtig Ihre Fragen zu beantworten. Vergeben Sie mir also, wenn ich etwas sage, das Sie verletzen könnte. Ja, ich habe Christen gesehen, habe immer unter ihnen gelebt und verkehrt. Aber Sie wissen, in dem Weltverkehr und in dem gesellschaftlichen Treiben sucht man Unterhaltung, Zerstreuung, eitle Freuden, auch schlimmeres noch; und was man sucht, findet man. In Ball- und Opernsäle verirrt sich das Glaubensleben nicht hinein, oder – sollte es ausnahmsweise geschehen, so trägt doch jedermann viel zu wohlerzogen die Toilette der großen Welt, um ahnen zu lassen, was in seiner Seele vorgeht. Und so kenne ich denn unter den Christen nur zwei Menschen, in deren Leben Gott wirklich mitzählt – und es sind die beiden einzigen Männer, vor denen ich Achtung habe.«

»Ohne Zweifel ist der eine von ihnen – Graf Windeck und Sie setzen deshalb ein so großes Vertrauen in ihn?« fragte Hyazinth.

»Nein, Signor!« entgegnete Judith gelassen. »Graf Windeck nimmt, vermöge seiner treuen Liebe für mich, einen ganz besonderen Platz ein. Der eine jener Männer ist unser Freund Lelio, der mir von dem Augenblick seiner Bekehrung an so lieb und achtungswert geworden ist, wie ich früher nie geahnt habe, daß er mir sein könne. Der ander ist Ihnen unbekannt und ist auch gänzlich aus meinem äußeren Leben verschwunden. Aber zuweilen, wenn ich recht menschenmüde bin, denke ich an ihn, und das erfrischt meine Seele. Er war der schlichteste, einfachste Mensch von der Welt, kindlich unter seinen grauen Haaren. Ernest hieß er und Maler war er. Ich habe ihn hier im Kapuzinerhabit von fern gesehen. Auf diese beiden Menschen beschränkt sich meine Kenntnis von den Christen, die Ihnen bei Ihrer Frage im Sinn lagen.«

»Und haben Sie nie gewünscht, im Denken und Sein diesen Männern ähnlich zu werden?«

»Ganz außerordentlich,« entgegnete Judith mit feinem Lächeln, »wenn es möglich wäre es zu werden, ohne meine Eigentümlichkeit aufzugeben.«

»Über den Punkt seien Sie außer Sorge, Signora!« sagte Hyazinth lächelnd. »Niemand liebt die Mannigfaltigkeit mehr, als der liebe Gott! das beweist seine Schöpfung im allgemeinen wie im einzelnen – und jede Eigentümlichkeit, das größte Genie, wie die beschränkteste Intelligenz – die begeisterte, wie die nüchterne Seele – das volle schwunghafte, wie das mäßig begabte Herz: alle ohne Ausnahme gelangen zu der ihnen möglichen Stufe der Vollkommenheit nur dadurch, daß sie Gott zum Mittelpunkt ihres Lebens machen.«

»Gelangen viele zu der Stufe von Vollkommenheit, die ihnen erreichbar war?«

»Das kann allein der allwissende Gott entscheiden. Wir wissen nur, daß die Mittel dazu einem jeden zu Gebot stehen.«

»Es werden aber große Opfer verlangt, um sie zu erreichen; und an der Eigentümlichkeit wird so viel geschliffen und gemodelt, daß wenig davon übrig bleiben mag.«

»Signora, ich sehe da in Ihrem Schmuckkasten einige wunderschöne Smaragden. Ehe sie geschliffen waren, mögen sie noch einmal so groß gewesen sein, als sie jetzt sind, und dennoch sind sie jetzt ungleich schöner und kostbarer als zuvor, denn das Licht spiegelt sich in all ihren Facetten und lockt den glühenden Glanz ihrer Farbe funkelnd hervor. So soll von der Eigentümlichkeit des Menschen, von seinem Charakter, seinem geistigen Wesen, welche ihm sein besonderes Gepräge geben, nur das verschwinden, was dessen Schönheit beeinträchtigt und was das Licht hindert, den spielenden Farbenzauber erstrahlen zu lassen.«

Judith hatte die Smaragdnadel in ihre Hand gelegt, betrachtete sie nachdenkend und fragte:

»Aber was ist das für ein Licht, welches dem geistigen Sein des Menschen seine Schönheit gibt?«

»Das ist der menschgewordene Gott, Christus, der Erlöser der Welt. Auf jeder Facette unseres Wesens sollen wir sein Abbild tragen: dann sind wir schön! Da wir aber statt dessen unser eigenes Bild oder die Abbilde der Welt tragen, welche durch die Sünde verzerrt und entstellt sind, so muß das erst abgeschliffen werden, bevor die Spiegelung eintreten kann.«

»Die Sünde!« rief Judith im Ton des Vorwurfes; »aber es begehen doch nicht alle Menschen Sünden, welche den Charakter entstellen und das Herz verderben.«

»Ich weiß nicht, welchen Sünden Sie das Privileg erteilen, Signora, den Charakter zu verderben.«

»Nun, zum Beispiel dem Geiz, der Heuchelei, der Lüge.«

»Nicht wahr, Signora,« fragte Hyazinth mit sanftem Lächeln, »Sie sind großmütig? und Sie sind des Komödienspiels so überdrüssig, daß Sie die Komödie der Welt im Fach der Heuchelei und Lüge nicht mitspielen mögen?«

»Sie können Recht haben, Signor.«

»So macht es der Mensch: diejenigen Fehler und Leidenschaften, die er nicht hat oder die seinen guten Eigenschaften entgegengesetzt sind – nur die nennt er Sünde, Was er aber bei sich selbst findet ....« –

»Nennt er Schwäche, traurige Schwäche, die seiner irdischen Natur anklebt,« unterbrach Judith ihn ruhig. »Und was nennen Sie denn Sünde, Signor?«

»Ich bin nur das Organ der lehrenden Kirche und sie spricht: Die Sünde ist eine Übertretung des göttlichen Gesetzes. Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde mit einer liebenden Seele, welcher die Liebe zu ihrem Urbild innewohnt; aber nicht als Zwang, nur als Neigung, denn die Liebe hat nur dann Wert, wenn sie auf besonnener freier Wahl beruht. Sie ist kein Feuer, das den ersten besten brennbaren Gegenstand ergreifen und verzehren darf; sie soll das suchen, was ihre Flamme dauernd nährt, ohne Zerstörung um sich her zu verbreiten. Gott ließ dem ersten Menschenpaar die Wahl, ob es seiner himmlischen Bestimmung gemäß in der Liebe und Anbetung der göttlichen Schönheit alle Kräfte seines Wesens entfalten und in ihrer Entfaltung selig sein wolle; oder ob es zum Gegenstand seiner Liebe etwas machen wolle, was Gott nicht ist. Wie unsere Stammeltern wählten – das wissen wir! sie mißbrauchten die himmlische Gabe ihrer Freiheit zu einem beweinenswerten Akt ihres Willens, sagten ihrem Schöpfer den Gehorsam auf und wendeten sich dem Bösen zu, das er verboten hat. Darum sagt einer unserer größten heiligsten Kirchenlehrer, St. Augustinus, mit energischer Kürze: Die Sünde ist die Verachtung der Liebe Gottes.«

»Ah, Signor!« rief Judith, »wenn das Sünde ist, ach! dann gibt es viel Sünde auf Erden! denn wer denkt überhaupt an die Liebe Gottes!«

»Bei jedem von uns wiederholt Gott die Prüfung, welcher er unsere Stammeltern unterworfen hat, und wie wir dieselbe bestehen, das kann jeder sich selbst am besten beantworten. Die göttliche Liebe, die uns selig machen will in Ewigkeit, wenn wir mit kindlichem Gehorsam ihr anhangen – sie wird verschmäht und gedankenlos, wie ein um sich fressendes Feuer, werfen wir unsere Liebe auf Dinge, die unserer sinnlichen Natur schmeicheln und ziehen unserem Gott – einen Apfel vor.«

»Das ist gräßlich wahr!« rief Judith und schlug die Hände ineinander. So macht es der Mensch. Aber sind das wirklich seine uranfänglichen Geschicke? sind es nicht Parabeln? nicht Mythen?«

»Und wenn es der poetische Ausdruck für eine allgemeine Wahrheit wäre, so hätte Ihr Ausruf, so gut wie die innere Geschichte jedes Menschen, ihm beigestimmt. Allein Sie werden wohl wissen, Signora, daß es wirklich und wahrhaft die uranfänglichen Geschicke der Menschheit sind, welche in den heiligen Büchern der Offenbarung von dem gotterleuchteten Moses aufgezeichnet wurden. Sie sagten ja vorhin, daß Sie der Gotteskunde Glauben schenkten. Nun, ein solcher Gotteskundiger war Moses gewiß. Kommen Ihnen Zweifel, so ist das nur die Folge der Schwankungen, welche im menschlichen Verstande, in seiner Fassungsgabe und Urteilskraft vor sich gehen. Auf der Höhe der Intelligenz ruhet der Glaube, wie die Krone auf einer Geisterstirn. Bei Ihnen vielleicht erst im Keim, als Glaubensbedürfnis, oder als Wunsch und Verlangen zu glauben; aber der Keim ist vorhanden, wie in jedem Menschen, der mit Vernunft begabt ist. Der Glaube ist das Band zwischen der Seele und ihrer Heimat. Er gibt ihr die Anwartschaft auf ein Bürgerrecht, welches Sie, Signora, gewiß nicht im Staube des ärmlichen Erdenlebens suchen.«

»Wenn wirklich in jeder vernünftigen Seele der Glaubenskeim ruht, warum entwickelt er sich nicht? warum bleibt der Mensch in seinen Zweifeln, in seinen Verneinungen? warum wendet er sich von der göttlichen Offenbarung ab und seinen eigenen Ideen zu, an die er mit Fanatismus glaubt, während sie anderen durchaus verkehrt erscheinen?«

»Weil der Mensch seinen freien Willen hat. Wie er der Liebe eine verkehrte oder rechte Richtung geben kann: so kann er den Glaubenskeim entwickeln oder ersticken. Glaube und Liebe werden ihm nicht wie etwa Seh- und Gehörwerkzeuge ein für allemal äußerlich gegeben. Wenn das wäre – wo bliebe seine sittliche Freiheit? und fehlte ihm die, wo wäre dann seine Würde, seine Tugend? Gab Gott dem Menschen die Vernunft und die Fähigkeit, das göttliche Gesetz mit dem Glauben annehmen und mit der Liebe umfassen zu können: so mußte er es dem Willen des Menschen anheim stellen, beides auch verwerfen zu können. Christus sagt: »Ich stehe vor der Tür und klopfe an.« Diese Türe kann verschlossen bleiben und kann geöffnet werden. Zum Öffnen – treibt die Gnade an; zum Verschließen – die Sünde; oder die Neigung zu ihr.«

»Und wenn wir öffnen, Signor?«

»So tritt Christus bei uns ein, der verheißene Erlöser, und nimmt Wohnung bei uns. Er richtet die gefallene Natur wieder auf, er stellt die Kraft der sündensiechen Seele wieder her, er bringt ein himmlisches Leben da hervor, wo schon der Verwesungsqualm des ewigen Todes brodelte. Er gießt ein übernatürliches Licht dort aus, wo schon die Regionen der ewigen Finsternis herauf dämmerten – und dies Licht erleuchtet und verklärt die Seele, befähigt sie zu hoher Erkenntnis, zu reiner Liebe und zur Beharrlichkeit in der Kindschaft Gottes.«

»Bin ich kein Kind Gottes, Signor?«

»Doch, Signora, denn Sie sind sein Geschöpf – und zu jedem seiner Geschöpfe hat er gesagt durch den Mund des Propheten: Mit ewiger Liebe lieb' ich dich; darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte. Aber er trauert noch um Sie. Sie haben sich noch nicht unter seine schirmenden Flügel geflüchtet, die er ausbreitet, wie eine Henne für ihre Küchlein. Das Licht Christi, die heiligmachende Gnade, ist noch nicht in Ihre Seele eingedrungen und diese ist noch nicht zu gottgefälliger Schönheit gelangt.«

»Und das alles – weil ich Ihren Christus nicht kenne?« rief Judith scharf.

»Mein Christus ist Ihr Christus und der Christus der ganzen Welt,« sagte Hyazinth gelassen. »Was wäre die Erlösung, wenn sie nicht einen erlösenden Einfluß auf die Seele übte, der sie zu teil wird, und sie edler und besser machte, als sie zuvor war! Könnte die gefallene Menschheit ohne den Erlöser zur gottgefälligen Schönheit sich entwickeln und durch ihre natürlichen Gaben und Kräfte sich zum Haß der Sünde und zur Liebe Gottes erheben: so wäre freilich der Erlöser etwas ganz Überflüssiges im Leben der Menschheit. Der moderne Unglaube hat ihn auch dafür erklärt; denn der moderne Unglaube liebt die Sünde, schwimmt in Sünde, trinkt die Sünde wie Wasser und wünscht durchaus nicht mit ihr zu brechen und sich vom Luzifersdienst zur Anbetung Gottes hinzuwenden. Ihm ist Christus unbequem; darum nennt er ihn eine Fiktion, eine Priestererfindung, um die Gewissen zu schrecken und um in seinem Namen die Seelen zu beherrschen. Und etwas der Art ist Ihnen durchs Gedächtnis geflogen, als Sie im Ton des Vorwurfs sagten: Ihr Christus!«

»Wenn Sie sich mit mir vergleichen,« fragte Judith, »halten Sie sich dann nicht für ein unsäglich bevorzugtes Wesen?«

»Was die Gnade betrifft – unsäglich bevorzugt, denn ich bin im Christentum geboren und bei meinem Eintritt ins natürliche Leben empfingen mich alle Gnaden des übernatürlichen Lebens, welche Christus, der menschgewordene, der gekreuzigte, der eucharistische – uns erworben hat, und fort und fort uns spendet. Was aber mein Verdienst betrifft – ach, Signora, da fürchte ich, daß ich, trotz so großer Gnaden, doch keinen Vorzug vor Ihnen habe.«

»Glauben Sie nicht, daß Gott mit besonderem Wohlgefallen auf Sie herabschaut?«

»Wie könnte ich das glauben, Signora! jeder Blick in mein Herz zeigt mir – nach innen ein Gewimmel von bösen und sündhaften Neigungen und nach außen – Fehler und Flecken auf all meinem Tun.«

»Das alles sehen Sie in sich, Signor?« rief Judith staunend; »und ich – ich nehme nichts der Art in mir wahr!« – Sie legte ihr Gesicht in ihre Hände und setzte nach einer Pause hinzu: »Das Licht der heiligmachenden Gnade, wie Sie es nennen, ist mir noch nicht aufgegangen, und ob es geschehen wird, weiß ich nicht! ich fürchte mich.«

»Durch den Mund des Propheten ruft Gott auch Ihnen zu: Fürchte dich nicht, ich bin mit dir. Ich habe dich erlöst und dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.

»Es muß ein entsetzlicher Moment sein, zu entdecken, daß man in sich, gleichsam mit seinem Herzblut, ein Schlangengewimmel nährt, und ich begreife nicht, wie Sie davon so gelassen reden können, Signor. Ich würde darüber verzweifeln. Ich kann es nicht ertragen, den Menschen – sowohl mich selbst als andere – in solcher Erniedrigung zu sehen.«

»Und zu dieser Erniedrigung des gefallenen Menschen hat sich der Erlöser herabgelassen, Signora, hat ihr ins Auge und ins Herz geschaut, hat gesehen, daß er rettungslos unheilbar sei, wenn nicht die Todeswunde des Bösen, welche die Sünde ihm schlug, geschlossen werde; hat im wunderbaren Geheimnis seiner Menschwerdung, der menschlichen Natur die Vereinigung mit der göttlichen – und die Teilnahme an einem göttlichen Leben gebracht und hat der Majestät Gottes gegenüber seine heiligste Menschheit zu einem Sühn- und Schlachtopfer für den Abfall der unheiligen gemacht. Und dieser Christus steht jetzt auch vor Ihrer Tür, Signora, und klopft an und ist bereit. Ihnen die Teilnahme an seinem göttlichen Leben zu gönnen.«

»Was wird aus uns, wenn wir ihn aufnehmen?«

»Der neue Mensch, Signora! Der Mensch ist jetzt nicht mehr in dem Zustand, in welchem er einst aus der Hand Gottes hervorging. Er bringt auf die Welt das Stigma des Sündenfalles mit, in welchen der Stammvater seine ganze Nachkommenschaft bis zum Ende der Zeit verwickelt hat. Das ist die Erbsünde – dies unergründliche Geheimnis, welches das Gemisch von Erhabenheit und Niedrigkeit in jedem Menschen erklärt. Er hat etwas vom Engel und etwas vom Tier: Himmelssehnsucht und gemeine Begierden, einen erhabenen und einen groben Instinkt, edle und brutale Neigungen. Er trägt das Ebenbild Gottes an der Seele – und dem Leibe nach, von Staub und Asche, von Fleisch und Blut, steht er in einer Reihe mit den unvernünftigen Kreaturen. Daraus entspringt eine zwiefache Sympathie, die von zwiefachem Gesetz angezogen wird; die eine – für das Schöne, das Geistige, das Ewige, das Unsterbliche; die andere – für Sinnliches und für rohen Genuß. Das göttliche Gesetz begehrt vom Menschen Gehorsam und Unterwerfung, Das Gesetz der gefallenen Natur macht denselben Anspruch und die böse Begier bäumt sich gegen Gott auf. Folgt ihr der Mensch, so begeht er eine Sünde – und je mehr er ihr folgt, desto schwächer wird seine Kraft für das Gute und für den Widerstand gegen die böse Begier. Welche Kämpfe aus dieser Doppelrichtung, aus diesem Streit von zwei entgegengesetzten Elementen, welche in der menschlichen Natur begründet sind – für jeden Menschen hervorgehen, welche Niederlagen er leidet, mit welchen Anstrengungen er sich aufrichtet, wie er sich verzweiflungsvoll zu einer Bahn gedrängt fühlt, die er verabscheut, wie er sehnsuchtsvoll nach lichter Schönheit verlangt, die ihm in den Höhen vorschwebt und zu der er sich nicht zu erheben vermag: das hat der Apostel Paulus in den zwei Worten ausgedrückt: Das Gute, das ich will – tue ich nicht, und das Böse, das ich nicht will – das tue ich. Unser himmlischer Instinkt ist nicht stark genug, um die Neigung der sündigen Natur zu den Dingen der Erde zu besiegen; das lehrt uns jeder unbefangene Blick, den wir in uns selbst werfen. Er sollte triumphieren, aber ach! er wird von ihr erstickt, wenn die Gnade ihm nicht zu Hilfe kommt und ihn in Tugend verwandelt, indem sie ihn zur Richtung des Willens auf das Gute, auf Gott, macht. Hinter der starren, rauhen Rinde eines Baumes steigt ein wunderbarer Lebenstrieb auf und ab, der ihn mit überraschender Schönheit, mit Laub, Blüten und Früchten schmückt. So steht die himmlische Pflanze des übernatürlichen Menschen hinter der groben Rinde der gefallenen Natur, und Christus muß kommen und den übernatürlichen Menschen in seinem Blut baden, mit seinem Fleisch nähren, mit seinem Licht erleuchten, mit seinem Geist heiligen, so daß dieser nicht mehr von der groben Rinde sich überwuchern läßt, sondern in Blüten des Lichtes und Früchten der Gnade ausbricht. Das Leben Christi in uns ist der neue Mensch; der zweite Mensch – wie der Apostel Paulus mit großartigem Ausdruck sagt. Der erste Mensch ist der gefallene Stammvater, der die Menschheit mit sich abwärts reißt und ihr Repräsentant ist. Der zweite Mensch ist der Erlöser, der die Menschheit in die Gnadenordnung einführt und sich zu ihrem Stellvertreter macht.«

»Nun weiß ich, was mit Lelio vorgegangen ist!« rief Judith. »Die Gnade hat die sündige Natur überwunden und deren Übermacht von dem himmlischen Menschen hinweggenommen, der in ihr schmachtend gefangen lag. Christus ist in geheimnisvoller Weise in ihn eingegangen und lebt geheimnisvoll in ihm fort. Lelio ist ein Christusträger geworden, ein Christ geworden! .... denn Christ und übernatürlicher Mensch ist ja eins und dasselbe – wenn ich Sie recht verstehe, Signor?«

»Ganz recht, Signora,« entgegnete Hyazinth, »und all unser Elend rührt daher, daß die Christen das Christentum als etwas äußerliches betrachten und ihre Verpflichtung vergessen, so zu leben, wie es sich für Christusträger – um Ihren Ausdruck zu brauchen – geziemt. Sich zur Ebenbildlichkeit Gottes in der praktischen Nachfolge Jesu auszuleben: das soll das Charakteristische, das Wesentliche des Christen sein; dazu empfängt er die Gnade durch die heiligen Sakramente, die wie unsichtbare Kanäle durch die übernatürliche Welt laufen und seiner Seele das Blut Jesu zuführen, worin sie den Quell und die Kräftigung ihres Lebens findet. So verstanden es die ersten Christen alle. Sie waren bekehrte Heiden und Juden. Sie waren aufs tiefste von der Überzeugung durchdrungen, daß ihre Bekehrung zum Christentum keine andere Folge haben dürfe, als die: sich nach dem Beispiel ihres Erlösers ganz und ohne Rückhalt Gott hinzugeben. Sie betrachteten den Christen als einen himmlischen Menschen, der wie ein wandernder Fremdling auf Erden weilt; dem es zwar gestattet ist, sich Hütten zu bauen und sich darin niederzulassen mit denen, die Gott ihm ans Herz gelegt hat und die er die Seinen nennt – der aber bereit sein soll, von den Ansiedelungen seines Glückes zu scheiden, wenn der Wille Gottes es verlangt, oder wenn höhere Fügungen es gebieten; als einen himmlischen Menschen, der zwar zu seiner heilsamen Demütigung und täglichen Prüfung mit seiner sündigen Natur und deren Trieben und Begierden verbunden bleibt, aber nicht mehr auf sie hören und noch weniger ihnen folgen darf; der sich hingegen ganz den Anregungen der Gnade hingibt, ganz sich leiten läßt vom Geist Gottes, ganz sein Leben gestaltet, seine Ansichten bildet, sein Urteil bestimmt, seinen Maßstab der Dinge führt nach übernatürlichen Grundsätzen, welche die christliche Glaubenslehre ihm darbietet. Für die ersten Christen war die Taufe eine ewige Scheidung zwischen ihnen und Welt und Teufel, eine unbedingte Aufopferung an Gott und Verzichtung auf ihr Ich, ein unwiderrufliches Bündnis mit dem übernatürlichen Leben, das ebenso unwiderruflich die Abwendung von der Sünde in sich schloß; eine Liebesvereinigung mit Christus. So gingen sie aus der Taufe hervor, und in dieser Reinheit des Gewissens und der Absicht suchten sie sich zu erhalten durch großen Eifer zum Gebet, zum Empfang der Sakramente, zum Anhören der Auslegung des Evangeliums, zur pünktlichen Ausübung aller christlichen Tugenden. Kam dann der Tod, gleichviel in welcher Gestalt – ob in den Martern der Verfolgung, ob in dem bekannten Kleide von Alter und Krankheit – so schieden diese, den Genüssen der Welt und den Leidenschaften des Herzens abgetöteten Menschen freudig von einer Erde, die ihnen nichts gewesen war, als eine Schranke, welche sie von dem Gegenstande ihrer einzigen Liebe – von Gott trennte.«

»Und dies Geschlecht ist ausgestorben?« fragte Judith traurig.

»Nein, Signora,« entgegnete Hyazinth, »das stirbt nicht aus! das Blut Jesu hat nicht seine reinigende und heiligende Kraft verloren. Nur kamen damals seine Wirkungen in gedrängter Fülle in dem, verhältnismäßig zur Jetztwelt, kleinen Häuflein der Christen und bei den Bekehrten zum Vorschein, die mit vollem Bewußtsein das Christentum als die höchste, die göttlichste Gabe empfingen; während jetzt, wo es über die ganze Erde ausgebreitet und durch beweinenswerte Irrlehren vielfach gefälscht ist, der Weltgeist sich auch vielfach hinein gedrängt und die Menschen stumpf gemacht hat für das eigentliche innerste Wesen des Christentums. Wer Gott Dank! es fehlt auch nicht an Seelen, denen es sich in seiner himmlischen Schönheit erschließt und die mit dem Apostel Paulus verlangen, sich selbst abzusterben, um in Gott wieder aufzuleben.«

»Dies Verlangen also ist eine unerläßliche Bedingung, Signor, um nicht dem Namen – sondern dem Wesen nach ein guter Christ zu sein?«

»Eine unerläßliche, um den Weg der christlichen Vollkommenheit zu betreten und auf demselben fortzuschreiten.«

»Und davor soll sich das Menschenherz nicht fürchten? vor dieser Bedingung kein Grauen empfinden? Seine Wünsche, Neigungen, Bestrebungen, seine Liebe, seine Hoffnungen, sein innerstes Eigentum – alles soll es opfern, um zu einer geheimnisvollen Lebensgemeinschaft mit diesem, wenn auch nicht unbekannten, so doch verborgenen Gott zu gelangen, der nicht seines Gleichen ist und der in seiner seligen unzerstörbaren Ruhe folglich auch nicht den tausend Aspirationen des warmen und beweglichen Menschenherzens entsprechen kann! Nein, Signor! das ist zu viel begehrt. Eine aufrichtige Seele darf keine Verbindlichkeit eingehen, bei der sie die Überzeugung hat, ihre Verpflichtungen nicht erfüllen zu können.«

»Das ist, vom natürlichen Standpunkt aus, eine ganz begreifliche Verzagtheit;« erwiderte Hyazinth. »Aber Sie vergessen, daß in Ihnen, unter all dem Schutt, der sich in Ihrem Herzen angehäuft hat, in Folge seiner abgestorbenen Wünsche, Hoffnungen und Liebe – der himmlische Mensch auferstehen soll, wie ein verschüttetes Götterbild zwischen Tempelruinen. Und dieser aus dem Blut Gottes geborene, vom Lebensatem Gottes durchseelte, in die Liebe Gottes untergetauchte Mensch – ist dem Gott nicht fremd, der sich durch seine Menschwerdung zum Bruder – durch sein Leiden und Sterben zum Opfer – durch seine eucharistische Gegenwart zum Liebhaber jeder menschlichen Seele gemacht, und ihr für niedrige Entsagung einen überaus prächtigen Ersatz, für vergängliche und dürftige Freuden eine grenzen- und endlose Wonne verheißen hat. Nicht müde werden die Propheten Ihres Volkes, diese Verheißung in immer neuen Wendungen zu wiederholen. Bald spricht der Prophet im Namen Gottes: »Ich, ich Selbst will euch trösten!« Bald verkündet er: »Ruhe wird dir geben der Herr auf immer und deine Seele mit Glanz erfüllen.« Oder er spricht: »Nicht wird fortan deine Sonne untergehen und dein Mond nicht mehr abnehmen; denn der Herr wird dein ewiges Licht sein;« und weiter sagt er: »Wie der Bräutigam sich freuet seiner Braut, so wird sich freuen dein Gott über dich.« Sind das nicht prachtvolle Verheißungen? Durchweht sie nicht die Luft von den Höhen der Ewigkeit? Breiten sie nicht einen immerblühenden Liebesfrühling vor dem liebedürstenden Auge aus? Umwogen sie nicht mit leuchtenden Wellen das Herz, das ihnen vertraut, um es durch einen Ozean der Liebe hinüber an das Gottesherz zu tragen?«

»Signor!« rief Judith und stand lebhaft auf, »ich kann das nicht ertragen! ich habe nicht gewußt, daß Gott mich so liebt. Versenke ich mich in diese Bilder, die keine bemalte Leinwand, sondern Gottesverheißungen, sondern Offenbarung göttlicher Wahrheit sind, so schreit mein Herz auf: Das ist's! das hab' ich gewollt, das hab' ich ersehnt, danach verlangt meine Seele! das ist die Liebe ohne Grenzen, ohne Wechsel, ohne Ebbe und Flut, immer gleich und doch immer neu, die das Geschöpf mir nicht zu bieten vermag, weil es selbst begrenzt und wandelbar ist. Daß ich von dieser Liebe geträumt, oder sie geahnt hätte – ich kann's nicht behaupten, obwohl es gewiß ist, daß ich mich immer mit der Liebe wenigstens für eine irdische Ewigkeit einzurichten suchte, und jede andere als einen Irrtum beweinte. Aber Signor! während Sie eben von den Liebestaten und Liebesverheißungen Gottes sprachen, da war es mir, als sei das verschüttete Götterbild in meinem Herzen nichts anderes, als die im Wust der Irdischkeit begrabene Liebe der Seele zu Gott.«

»Und was nun weiter, Signora?« fragte Hyazinth immer in demselben Ton sanfter Milde, mit dem er das Gespräch begonnen hatte; »werden Sie dem Gott, dem König der Ewigkeit, der wie ein Bettler vor Ihrer Tür steht und um nichts bittet, als um Ihre Seele – werden Sie ihm Ihre Liebe schenken? Unsere Liebe ist unser Wesen. Unserer Liebe folgt unsere Seele, unser Herz, unser ganzer innerer Mensch nach.«

»Weil das so wahr ist, Signor, so muß ich mich besinnen!« entgegnete Judith. »Ich weiß nicht, ob nicht die Liebe für das Geschöpf zu kurz kommt, wenn man sich mit ganzer Seele in die göttliche Liebe versenkt. Und das darf nicht sein. Ich will auch das Geschöpf lieben.«

»O, Sie sollen es auch lieben!« rief Hyazinth. »Auch diese Liebe soll in den Strahl der Gnadensonne hineintreten, die bereit ist, über Ihnen aufzugehen, und soll daraus eine Kraft und eine Reinheit schöpfen, die jeder natürlichen Empfindung eine höhere Weihe gibt.«

»Das beruhigt mich – denn Graf Orest hat mein Wort, und ein Wort ist heilig; nicht wahr, Signor?«

»Ein Wort, das mit voller Erkenntnis und Freiheit in einer gottgefälligen Sache gegeben ist – ist heilig; von seiner Seite sowohl, als von der Ihren, Signora.«

»Wohlan, dies ist gewiß eine sehr gottgefällige Sache. Eine solche Treue verdient ihren Lohn und das Wort, das ich dem Grafen seit Jahren wiederholt habe: Alles für alles! soll endlich zur Tat werden. Nur muß ich Zeit haben, mich zu besinnen, meine Gedanken zu ordnen, meine Verpflichtungen als Christin zu überlegen« ....–

»Zeit haben, um ein wenig zu beten,« setzte Hyazinth hinzu; »beten um den Beistand des heiligen Geistes, daß er Sie erleuchte; beten um treue Befolgung dessen, wozu die Gnade treibt; beten um großes Verlangen, die unendliche Liebe Gottes zu erkennen.«

»Ach, Signor!« unterbrach Judith ihn traurig, »ich verstehe nicht einmal, an so hohe Dinge zu denken; wie könnte ich Worte finden, um sie zu erbitten?«

»Es war einmal in den ersten Jahrhunderten des Christentums eine Tochter Babylon's, die Thaïs hieß, und die sich auf die dringenden Vorstellungen eines heiligen Greises von der Welt zu Gott bekehrte. Sie hatte ihm gesagt, sie verstehe nicht zu beten. Da riet der Greis ihr, weiter nichts zu sagen, als: »O Herr, der du mich erschaffen hast, erbarme dich meiner!« Das tat sie mit solcher inbrünstigen, demütigen, vertrauensvollen, reuigen Gesinnung, daß sie in dem Maß, wie sie zuvor Gott verachtet hatte, nun ihn lieben lernte und unter den großen heiligen Büßern der alten Tage ihren Platz einnimmt. Ohne Sie in irgend einer Weise, weder vor noch nach Ihrer Bekehrung mit der heil. Thaïs zu vergleichen, könnten Sie doch auch beten mit wenigen Worten und mit um so größerer Inbrunst.«

Judith ging unruhig im Zimmer auf und nieder, während Hyazinth sprach. Endlich blieb sie vor ihm stehen und rief:

»Sie haben große Dinge in der kurzen Zeit gesagt – größere, als ich je im Leben gehört habe. In den wunderbaren Geheimnissen von der Liebe Gottes zu seinem Geschöpf, die ihn antreibt, sich mit dem Menschengebilde von Staub und Asche zu vereinigen und in die Erniedrigung einzugehen, um diesem armseligen Menschengeschlecht ein etwas von seiner göttlichen Natur mitzuteilen und ihm die verlorene Anwartschaft auf das ewige selige Leben zurückzubringen: darin öffnet sich mir die Perspektive in eine ganz neue Welt. Aber Signor, wer sind Sie denn, daß ich Ihnen Glauben schenke?«

»Ich bin ein ganz geringer und unbedeutender Priester, noch jung, wie Sie sehen, Signora, und ohne irgend ein Verdienst, so daß meine Persönlichkeit nicht geeignet sein kann, Ihnen das mindeste Vertrauen einzuflößen; das ist in der Ordnung. Aber als ein Priester der heiligen katholischen, von Christus Selbst auf den Felsen Petri gegründeten und von den Aposteln ausgebreiteten Kirche, habe ich, trotz meiner Unwürdigkeit, die Gnade, das Glück und die Ehre, zu den Nachfolgern und Mitarbeitern der Apostel bei der Verkündigung des Evangeliums zu gehören, denn ich habe die Weihe und die Sendung zum Priester und zum Lehramt vom rechtmäßigen Oberhaupt der Kirche, auf meinen Bischof übertragen, erhalten – und bin Ihnen Bürge mit dem ganzen Priesterstande der heiligen katholischen Kirche, daß jedes meiner Worte, insofern es die Lehre des Evangeliums betrifft, Ihren vollen Glauben in Anspruch nehmen darf und muß, weil es die volle, ungefälschte, göttliche Offenbarung verkündet, an der, in ihrer ewigen, objektiven Wahrheit, kein Deuteln und kein Feilschen gestattet ist. Lassen Sie sich von zehn verschiedenen Nationen und Zungen Priester rufen, und befragen Sie dieselben über ein beliebiges Dogma: alle Zehn werden Ihnen dieselbe Antwort geben, denn alle sprechen nicht ihre Ansicht oder Meinung oder Erklärung – sondern die Lehre der Kirche aus, diese wunderbare Lehre, die der heilige Geist hoch über alle Schwankungen und Verirrungen des menschlichen Geistes, für alle Zeiten der Welt in ungetrübter, göttlicher Reinheit erhält.«

»O wie hat Lelio die Kirche so richtig das Auge der Welt genannt,« rief Judith. »Wie von allen Gliedern des Körpers nur das Auge das Licht schaut, besitzt, umschließt: so besitzt die Kirche ganz allein auf Erden die Fülle der göttlichen Wahrheit und teilt dies himmlische Licht allen denen mit, die sich aus ihrer Finsternis zu ihr hintappen und Erleuchtung begehren!«

»In der Religionslehre der alten Parsen kommen, wie mehr oder minder bei allen orientalischen Völkern, neben gräulichen Karikaturen ganz wunderbar schöne Anklänge einer höheren Offenbarung, wie eine halbverschollene himmlische Sage oder wie ein Bruchstück der Tradition, die aus dem Paradiese stammt, vor;« sagte Hyazinth. »Sie lehrten ein Lichtreich, in dem das Gute und Schöne ein Reich der Finsternis, in dem das Böse und Häßliche heimisch sei. Jeder Sieg des einzelnen Menschen über das Böse verstärkte das Lichtreich und jede Niederlage des Guten minderte es; und je nachdem sich der Mensch zu Ormuz oder Ahriman gehalten hatte, ging er im Tode mit diesem in das finstere – und mit jenem in das lichte Reich ein. Drum nannten sie das menschliche Leben: den Weg zu beiden Schicksalen. Jeder hatte die Wahl, welchem Gott und welchem Schicksal er folgen wollte. Es treten Momente ein, wo auch im christlichen Sinn für jeden von uns das Leben vor uns liegt, als der Weg zu beiden Schicksalen, und ein solcher Moment ist für Sie gekommen. Die Nacht dämmert, das Licht bricht an.«

»Möge es Tag werden!« rief Judith feurig. Dann setzte sie mit ernster Fassung hinzu: »Genug für heute, Signor! ich danke Ihnen. Ich muß jetzt in die Alltagswelt hinabsteigen. Lelio wird Sie in meinem Namen bitten, Sich später wieder einmal zu mir zu bemühen.« –

Auf demselben Wege, wie Hyazinth zu Judith gekommen war, verließ er sie und sein nächster Gang war in die nächste Kirche, um vor dem Tabernakel den verborgenen Gott anzuflehen, Sein begonnenes Werk der Gnade in Judiths Seele zu vollenden. Denn eine Bekehrung ist eine geistige Schöpfung; ein geistiges Leben bricht aus dem geistigen Tode hervor; der verwesende Lazarus erhebt sich lebendig aus seinem Grabe; das ist eine Gottestat. Und davon war Hyazinth so fest durchdrungen, daß er jeden Blick auf sich selbst – den verzagten sowohl als den selbstgefälligen – gänzlich aus dem Auge verlor und sich hingebend versenkte in die unendliche Liebe des Gottes, der von sich gesagt hat: Er gehe als ein guter Hirt jedem verirrten Schäflein nach. War Judith gewonnen, so konnte auch Orest gerettet werden.

Durch Judith's Seele brausten heftige Stürme. Sie hatten es so leicht und so gleichgültig genommen, sich taufen zu lassen; so gar nicht geahnt, daß ihr innerstes Wesen dadurch erschüttert werden könne, daß ihre Auffassung von Welt und Leben, von Bestimmung und Ziel eine Veränderung erleiden würden. Und jetzt? Sie saß unbeweglich in ihrer Causeuse, mit geschlossenen Augen, die Stirne in die aufgestützte Hand gelegt. So nahe ist mir das Göttliche, sprach sie zu sich selbst, und in das Menschliche hab' ich mich vertieft und verloren. So weit bin ich abgeirrt von meinem Ziel. Nun verstehe ich, weshalb das Leben mir als eine Sphynx erschien, deren Räthsel ich nicht zu deuten vermochte und an dem ich mich müde riet: die göttliche Offenbarung ist der Schlüssel zu dieser Hieroglyphe. Der Abfall des ersten Menschen – die Erbsünde, welche das Ebenbild Gottes in unserer Seele verletzt – die eigene Sünde, welche es zerstörend verwüstet und dem Bösen in uns die Oberhand gibt – der gräßliche Zwiespalt zwischen der erstrebenden höheren Natur und der niederen, welche über sie triumphiert – das Erbarmen der göttlichen Liebe, die sich demütigt, um das Niedrige wieder zu sich zu erheben, die himmlischen Arzneien und himmlischen Bande in göttlich geheimnisvoller Weise bereitet, um die siechen, hinsinkenden Seelen zu heilen und zu fesseln – und die nichts begehrt, als die Gegenliebe der Geretteten – eine Liebe, die den Haß des Bösen und die Widersagung der Sünde in sich schließt, und das verwüstete Ebenbild Gottes wieder rein und klar zu machen sucht – o wie ist das verständlich, wie ist das einfach! Wie befriedigt das alle Fragen, welche rastlos in der höheren Natur kommen und wiederkommen; Fragen, welche sie zuweilen in den Regionen der niederen Natur sich beantworten läßt, wenn sie nicht fest an der göttlichen Offenbarung hält; Fragen von jener furchtbaren Wichtigkeit, wie jene sind, um die sich das Menschenleben bewegt und entfaltet, ja – die Lebensfragen für jeden Menschen sind: Was ist die Liebe? .... Was ist das Glück? Was ist Wahrheit? .... Klar wie der Tag wird mir das alles, wenn ich glaube, daß die göttliche Offenbarung, welche Christus vom Himmel gebracht und der katholischen Kirche zur Verkündigung und Aufbewahrung anvertraut hat, all' diese tausend Fragen mit einer himmlischen Entschiedenheit löst, welcher die Fähigkeiten meiner höheren Natur beistimmen. Daß die niedere Widerspruch erhebt, ist ein Beweis mehr für die göttliche Wahrheit der Offenbarung: die niedere Natur fühlt sich gerichtet und zum Tode verurteilt; sie will nicht sterben, sie wehrt sich, sie verleumdet die Offenbarung und nennt die göttliche Wahrheit – Lüge! .... Weshalb? .... Um das Lügengewebe der Sinnlichkeit und der Leidenschaft, welches die Wahrheit zu zerreißen trachtet, ungestört fortzuspinnen. Wollte ich mich ihr hingeben, so würde auch ich die Offenbarung verwerfen und an der Liebe Gottes, die sich in ihr kund gibt, verachtend vorüber gehen. So macht es der Unglaube. Da liegt für jeden Menschen die Gefahr, die Versuchung, die Lockung zum Abfall; da – sein unvergänglicher Kampf; da – der Punkt, auf dem der Weg zu beiden Schicksalen sich spaltet. –

Die Zeit verging; sie achtete es nicht. Mehrmals hatte ihr Diener an die Tür geklopft, die in den Salon führte, zum Zeichen, daß man sie zu sprechen wünsche; sie hörte es nicht. Rasche Schritte eilten jetzt durch das Zimmer ihrer Kammerfrau; sie bemerkte es nicht. Die Tür flog auf, der Vorhang zurück – Orest erschien auf der Schwelle und rief, als er sie ins Auge faßte:

»Judith! aber Judith, was ist geschehen!«

Und er lag zu ihren Füßen und bedeckte ihre Hände mit Küssen, um sie zu wecken aus ihrem Traum, ihrer Ohnmacht, ihrer Meditation. Er wiederholte:

»Aber was ist geschehen? was ist Ihnen widerfahren? warum sperren Sie sich ab zu dieser Stunde, wo man gewohnt ist, Sie zu sehen? woher diese krankhafte Blässe? was beschäftigt Sie? woran denken Sie? – Sehen Sie mich an!« rief er herrisch.

Judith zog ihre Hände aus den seinen und legte sie auf seine Schultern, schaute ihn an mit dem tiefen ernsten Blick ihres dunkeln Auges und fragte:

»Sind Sie ein guter Christ, Graf Orestes?«

»Wenigstens ein besserer als Sie!« rief er.

»Ich habe soeben ernsthaft daran gedacht, es zu werden und mich taufen zu lassen, damit meinerseits dasjenige geschehen sei, was unsere Verbindung beschleunigt. Da dürfen Sie sich nicht wundern, wenn ich mich in Nachsinnen versenke. Die Komödie meines Lebens hört auf – die Wahrheit beginnt.«

»O daß es so weit wäre!« rief Orest; »daß endlich! endlich! der Wonnetag anbrechen, die Stunde des Glückes schlagen möge, die uns auf ewig verbindet, auf ewig in Liebe aneinander knüpft! O Judith! ich reibe mich auf an, der Kette, die mich an ein anderes Weib fesselt, und wenn ich sie auch zerreiße, so wird es doch noch lange währen, bis ich deren Bruchstücke abgestreift habe, die ich vorderhand mit mir umherschleppen muß. Deshalb, Judith, wollen wir uns in nächster Zeit vor all' dem Wirrwarr flüchten und in der Einsamkeit, fern von der Welt, unserer Liebe leben. Nach dem Orient wollen wir gehen, nach Damaskus! da ist das Dasein leicht und lieblich, da verfliegt nicht die schönste Zeit im Tretrad europäischer Konvenienz und Langweil! da wollen wir in ungestörter Ruhe das Glück genießen, nach dem wir uns schon so lange sehnen und das wir nur da finden können, wo uns keine Erinnerung an frühere Verhältnisse stört. O Judith, zu flüchtig ist die Jugend, zu kurz ist das Menschenleben, um Tag auf Tag mit nichts anderem auszufüllen, als mit der Hoffnung.«

»Gerade so denke auch ich!« entgegnete Judith. »Es muß im Dasein einen Inhalt, einen Kern, eine Wahrheit geben, welche Ersatz gewähren für die unsägliche Leere, welche die glänzendste Existenz elend macht, sobald sie eine liebelose ist. Ja, Orest, nach dem Orient wollen wir gehen und in dem »paradiesesduftenden Damaskus« – wie die orientalischen Dichter es nennen, in den Feenhäusern von Marmormosaik und vergoldetem Cedernholz, welche von den Reisenden so bezaubernd dargestellt werden, unter Citronenbäumen am plätschernden Springbrunnen, in süßen Gefühlen und großen Gedanken unser Leben zu seinem Ziel führen.«

»O Geliebte!« rief Orest beseligt, »laß uns fliehen, jetzt! gleich! O glaube mir, die verhaßte Kette wird leichter gesprengt durch einen so energischen Schritt, der zugleich eine unausfüllbare Kluft zwischen der Vergangenheit und Gegenwart reißt, als durch tausend Schritte, die wir hier unter zahllosen Hemmnissen und Störungen tun könnten. O komm! o vertraue meiner Liebe!«

»So nahe dem Ziel – und die alte Torheit sollte uns besiegen?« sagte Judith traurig. »Nein, Orest! ich glaube, daß weder Ihre Empfindungen, noch Ihre Absichten hinsichtlich meiner dadurch eine Änderung erleiden würden. Aber ich kann diesen Schritt nicht tun! Judith Miranes, die Jüdin, kann nicht den Grafen Orest Windeck auf seinen orientalischen Streifzug begleiten, ohne durch eine so verkehrte Nachgiebigkeit sich in seinen Augen herabzusetzen. Und merken Sie es wohl, Graf Orest: es mag nicht schwer sein, die Mißachtung einer Welt zu tragen, die durchaus keinen Maßstab hat und gibt für das, was zu achten und zu verachten ist und deren Beifall man ganz geschwind wieder erkaufen kann durch eine Gänseleberpastete und ein Paar Flaschen Champagner. Aber schwer, ja unerträglich wäre es, die Mißachtung eines geliebten Mannes ertragen zu müssen. Sie wollen auffahren, Sie wollen Beteuerungen machen! armer Orest, was sind Ihre gutgemeinten Worte gegen die Tatsache der Erfahrung! Ich kenne das Menschenherz: es will eine Glorie um seine Liebe sehen. Je heller die – um desto seliger ist es, wenn es auch mit Schmerzen und Nöten zu kämpfen hat.«

»Judith, meine Göttin, Du bist in der Glorie!« rief Orest. »Nun so bleibe darin, Du unvergleichliches Geschöpf! .... Ich will jetzt einen anderen energischen Schritt tun.« –

Er stürmte fort und zu Corona. Sie war nicht daheim. Sie war nach St. Peter gefahren. –

Es gibt Menschen – versteht sich, höchst selten, hie und da einmal einer! die sind von so wundervoller Vollkommenheit, daß man dieselbe gar nicht recht gewahr wird und ganz treuherzig wähnt, das sei ein Mensch wie unsereiner, bis man allmälig im näheren Umgang und nach längerer Beobachtung herausbringt, dem sei nicht so; ihre Vollkommenheit falle nur nicht in's Auge, weil ein wunderschönes Gleichgewicht sie nach Innen harmonisch ordne und ihnen nach Außen das Gepräge friedlicher Einfachheit, ohne hervorstechende Züge, verleihe. So ungefähr ist es mit der St. Peterskirche zu Rom. Ihre Verhältnisse sind von so herrlicher Harmonie, daß man durch ihre ungeheuere Größe anfangs gar nicht frappiert wird und nur nach und nach, wenn man in ihr auf Entdeckungen ausgeht, das Riesenhafte des Baues erkennt, anstaunt und bewundert. Die Engelchen, welche die Weihwasserschalen halten, sind sechs Fuß lang; der Hochaltar ist so hoch wie der Palast Farnese – einer der großartigsten in Rom; die Gemälde über den Altären sind alle in Mosaik und über Lebensgröße ausgeführt, ohne daß man es bemerkt. Man muß manchen Besuch in St. Peter wiederholen, bis man sich in seiner Welt von Kunst und Schmuck, von Reichtum und Größe, von Grabmalen und historischen Erinnerungen heimisch fühlt. Wie immer und überall, so hat auch da die Andacht es am besten und leichtesten. Die geht vor bis zu der Balustrade, welche den Einblick in die Krypta umschließt, kniet nieder und betet. Denn da ruhen die Reliquien eines Menschen, an dem Gott die Wundertaten seiner Gnaden seit achtzehnhundert Jahren in einem Maß aufleuchten ließ und läßt, wie an keinem anderen Staubgeborenen: Petrus, der Fischersmann aus Galiläa, der Hirt, dem Christus Selbst die Führung seiner Heerde anvertraut hat, der Nachfolger des Gottessohnes in diesem heiligsten Amt, der Stammvater aller Stellvertreter des Herrn als Oberhaupt der Kirche auf Erden: Petrus ruht da.

Corona's Lieblingsausflug war immer nach St. Peter und ihr Lieblingsplatz dort war am untersten Pfeiler des linken Seitenschiffes, nächst dem Eingang; denn von dort blickt man gerade auf Rafaels Transfiguration, die in einer Mosaikkopie über dem Altar des Kreuzschiffes sich erhebt. Die hohe majestätische Marmorhalle bildet eine lange Perspektive vor dem großartigen Gemälde, in welchem Rafaels Genie allen Jammer der Erde und alle Seligkeit des Himmels wie in einer wunderbaren Vision zusammengestellt hat. Während sich der göttliche Heiland auf dem Tabor vor seinen drei auserwählten Jüngern in himmlischer Verklärung zeigt, leuchtend, schwebend, strahlend, Mittelpunkt und Spitze eines überirdischen Lichtglanzes, angebetet von Moses und Elias, die in einer niedrigeren Region schweben; stehen am Fuß des Berges die übrigen Jünger ratlos, angsthaft und niedergeschlagen dem trostlosen Vater gegenüber, der den besessenen Knaben in seinen Armen hält, der verzweiflungsvollen Mutter gegenüber, die ihnen zürnend vorwirft, daß sie ihr Kind, ihr einziges, ihr vielgeliebtes, nicht retten können, dem Volk gegenüber, das von ihnen dieselben Wunderheilungen wie von ihrem Meister verlangt. Aber der Meister ist nicht bei ihnen und deshalb vermögen sie nichts! ohne Christus keine Rettung, keine Heilung, kein Trost, kein Sieg über den Geist des Bösen. Ohne Glaube ist der Mensch tot in sich und unbrauchbar zum Gnadenwerk. Aber hoffet nur, ihr Geplagten, ihr Leidenden, ihr Hilflosen! der Herr ist nah. Glaubet nur! er selbst steigt aus seiner Verklärung, von seinen übernatürlichen Taborshöhen in eure Finsternis und euer Elend herab. Glaubet nur! bittet nur! Er kommt, um euch zu retten und euch von der Übermacht des bösen Geistes zu befreien! Ein göttliches Bild, jeder Menschenseele verständlich! aber für Corona ganz voll lebendigster Anklänge, für die jammervolle Gegenwart sowohl, als für die Hoffnung, die der göttlichen Barmherzigkeit vertraut, und umsomehr, wenn die Menschen ratlos sind, welche man sonst als gute Ratgeber kennt. Corona brachte immer einen Strahl des Trostes in ihrer Seele von der Transfiguration zurück. So war es auch heute – und sie konnte ihn brauchen.

Als Orest ihren Wagen über den Platz fahren sah, eilte er hinab, hinderte sie auszusteigen, während er Felicitas, die ihre Mutter immer in Obhut ihrer Bonne begleitete, schnell aus dem Wagen hob und dabei zu Corona sagte:

»Man kann hier im Hause keinen Augenblick vor Störung sicher sein, bald kommt der Papa, bald Hyazinth – also laß uns nach der Villa Borghese fahren; ich habe verschiedenes mit Dir zu sprechen.«

Er setzte sich zu ihr und sie fuhren der porta del popolo und dem großartigen Park zu, den der Fürst Borghese dem Publikum geöffnet hat. Seit jenem traurigen Gespräch am ersten Morgen ihrer Anwesenheit in Rom war Corona nur auf Augenblicke mit Orest allein gewesen, da er jedes besondere Gespräch mit ihr vermied. Aber die Erinnerung an jenen Morgen war so lebhaft in ihr, daß ihr Herz unwillkürlich erbebte bei dem Gedanken, dies könne vielleicht dessen Fortsetzung sein.

Sie faltete ihre Hände unter der Mantille und bat um den Beistand des heiligen Geistes, daß er sie stark zum Hören und sanft zum Reden machen möge. Sie harrte schweigend auf das, was ihr Mann ihr sagen werde. Er sah finster aus und wurde es noch mehr, als er anhub:

»Bei Deiner Ankunft in Rom hab' ich Dich gebeten, Corona, mir behilflich zu sein, unsere Ehe für null und nichtig erklären zu lassen, indem ich voraussetzte, es müsse dem weiblichen Zartgefühl willkommen sein, aus einem Verhältnis herauszutreten, in welchem zwei Herzen keine Befriedigung finden. Ich habe mich aber in dieser Voraussetzung getäuscht. Dadurch hast Du mich zu einer anderen Maßregel gezwungen. Damals bat ich um Deine Zustimmung, Deine Mitwirkung; jetzt zeig ich Dir nun meinen Entschluß an. Ich werde mich einem protestantischen Bekenntnis anschließen. Da sind Ehescheidungen nichts seltenes, weil man nicht die wahnwitzige katholische Idee hat, aus dem Ehebund ein unauflösliches Sakrament zu machen. Man betrachtet ihn als einen bürgerlichen Vertrag, der seine Gültigkeit verliert, wenn die Herzen erkalten, und man kann sich ohne Umstände zwei-, dreimal wieder verheiraten. Übrigens sind ja die Protestanten ebensogut Christen wie die Katholiken und so steht mein Entschluß unwiderruflich fest: ich werde protestantisch, verlange die Ehescheidung und heirate Judith Miranes, die aus ihrem jüdischen Glauben oder Unglauben zum Christentum übertritt. Auf diese Weise ordnet sich alles und drei Menschen – Du selbst bist mit einbegriffen – finden ihren Frieden und ihr Glück.«

Orest sprach mit eisiger Ruhe, wie jemand, der entschlossen ist, sich mit seinem Gewissen abzufinden.

Das fühlte Corona. Ihr Schmerz war zu groß, um Worte oder Tränen zu finden: Orest wollte seinen Fall durch seinen Abfall krönen und besiegeln! es war unmöglich, tiefer zu sinken, unmöglich, mit der Leidenschaft einen höheren Götzendienst zu treiben.

»Du bist überrascht, wie es scheint,« nahm er nach einer Pause das Wort; »denn Du kennst die Liebe nicht! Du hast keine Ahnung, mit welcher Gewalt sie den Menschen ergreift und antreibt, all' die Schranken von Menschenmachwerk zu durchbrechen. Ich kann nicht anders, ich habe jahrelang gekämpft und gelitten! ich halte das nicht mehr aus. Einen anderen Ausweg finde ich nicht – ich wende mich dahin, wo ich Rettung sehe.«

»Und glaubst Du wirklich,« fragte Corona bebend, »treulos allen Pflichten gegen Deinen Schöpfer und seine Geschöpfe – und dennoch glücklich sein zu können?«

»Die Treue folgt der Liebe nach. Dem geliebten Weibe bin ich treu.«

»Und Gott? .... und seine Heilsanstalt, die heilige katholische Kirche?«

»Vor deren Übertreibungen hatte ich immer einen Abscheu! umsomehr jetzt, da mir die Unmöglichkeit klar geworden ist, ihre Forderungen zu erfüllen. Die Überspanntheit stößt zurück; nennst Du das treulos sein?«

Corona barg ihr Gesicht in den Händen, so grenzenlos fühlte sie sich niedergebeugt und beschämt, daß Orest zu einer solchen Gesinnung habe herabsinken – so ganz aus dem Gnadenleben habe heraustreten können. Aber wo kein Glaube ist, da ist auch keine Gnade; da ist der Mensch der sündigen Macht seines von Gott abgelösten und dem Wirbelwind der Leidenschaften preisgegebenen Herzens elend unterworfen; da wird er für alles höhere und namentlich für die Pflichterfüllung, die ja immer mehr oder minder ein Opfer ist, dermaßen abgestumpft, daß er keine andere Pflicht mehr anerkennt, als die – der Selbsterhaltung, wenn nicht leiblicher, so doch geistiger Weise, und auf deren Rechnung die Befriedigung all' seiner Neigungen schreibt; da heißt sein Programm fürs Leben kurz und bündig: mein Ich soll glücklich sein! Corona fragte mit mühsam erzwungener Fassung:

»Lieber Orest, solltest Du wirklich so abgestumpft sein, um keine Ahnung von der Schmach zu haben, welche Du auf Dich, auf Deine Familie, auf Deinen Namen herabziehst, wenn Du einer jüdischen Sängerin zuliebe die heiligsten Bande mit Füßen trittst und Dich zugleich vom Glauben und von Weib und Kind lossagst?«

»Für den Augenblick wird die Sache allerdings einiges Aufsehen machen und für ein Jahr oder zwei wird meine oder Judiths Stellung in der Gesellschaft nicht eben angenehm sein. Das hab' ich wohl erwogen und deshalb beschlossen, mich mit ihr für einige Zeit in weiter Ferne niederzulassen. Aber die Welt vergißt schnell und ist zur Nachsicht geneigt für alles, was Liebesverhältnisse betrifft; denn sie besteht aus Individuen, die sehr wohl wissen, daß ihnen in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft ähnliche Nachsicht willkommen war, ist, oder sein wird. Deshalb ist nach einigen Jahren alles vergessen und vergeben und meine Stellung in der Welt ganz die alte. Auch meine Familie wird sich versöhnen lassen; denn wozu wäret Ihr alle so enorm fromm, wenn Ihr Euch nicht mit dem Gedanken vertraut machen könntet, daß Gott mir andere Wege zugewiesen hat als Euch.«

»Keine Gotteslästerung, Orest! die will ich nicht hören!« rief Corona lebhaft, »Du hast, was wir haben: Gottes Gnade und Deinen freien Willen. Stürzest Du Dich ins ewige Verderben, indem Du göttliche Gesetze verachtest, um den Gesetzen Deiner sündhaften Natur zu folgen, so ist das nicht Gottes Fügung, sondern Dein Widerspruch gegen seine Fügungen, sondern derselbe Ungehorsam, der einst Luzifer aus dem Himmel und Adam aus dem Paradiese stürzte. Und mit der entsetzlichen Vorstellung, Dich in der Feindschaft Gottes, Dich auf dem Wege zum ewigen Tode, Dich ausgeschlossen von Gottes Gnade und Herrlichkeit zu wissen, darf und wird Deine Familie sich nie versöhnen. Sie muß darüber untröstlich sein und bleiben. Was die Gesellschaft betrifft, und ob sie die niedrigen Ansichten hat, die Du ihr zuschreibst – bleibe dahingestellt. Eines aber weiß ich: hat sie allzu große Nachsicht mit sträflichen Liebesverhältnissen, so ist sie doch unerbittlich in Bezug auf diejenigen Ehebündnisse, welche nur geschlossen werden konnten, indem ein Teil oder beide vom katholischen Glauben abfielen. Diese sind für immer von der Gesellschaft – ich spreche von der katholischen – ausgeschlossen und tragen das Brandmal der Bigamie. Bei jedem strafbaren Liebesverhältnis darf man die Hoffnung hegen, daß die Beteiligten zur Besinnung kommen, von ihrer Schwäche sich aufraffen und die entsetzliche Gottesbeleidigung, die sie sich zu Schulden kommen lassen, erkennen, bereuen und sich zu ihrer Pflicht bekehren werden. Ist aber der Abfall vom Glauben geschehen, um das Eheband, das sie als ein unauflösliches kennen, scheinbar zu beseitigen und scheinbar ein neues zu knüpfen, so beweist dieser Schritt, daß sie sich mit Besonnenheit und Überlegung entschlossen haben, für's Leben der Zeit und der Ewigkeit in der Trennung von Gott, welche durch die Todsünde bewirkt wird, zu verharren.«

»Die protestantische Welt ist vernünftiger!« erwiederte Orest gelassen.

»Hast Du Achtung vor ihrer Auffassung der Ehe?«

»O, das ist gar nicht nötig! ich will, daß sie vor mir Achtung habe und Judith als meine rechtmäßige Frau anerkenne. Und das tut sie, wenn ich protestantisch werde. Mehr verlang' ich nicht. Sie öffnet mir die Arme; Ihr sprecht Bann und Interdikt wider mich: da ist es ganz natürlich, wenn ich mich dahin wende, wo ich liebevoll aufgenommen werde.«

»Ja!« sagte Corona grenzenlos traurig, »so macht es die gefallene Natur: sie wendet sich dahin, wo ihr geschmeichelt, wo ihr der herbe Kampf der Selbstverläugnung erspart wird. Das ist gerade so, wie wenn ein Kind das Vaterhaus verließe, um sich leichtsinnigen Kameraden anzuschließen, und dann behauptete, diese meinten es besser mit ihm, als seine Eltern, denn sie hießen seine Torheiten gut, hingegen wollten die Eltern sie nicht dulden.«

»Es gibt unter den Protestanten höchst rechtschaffene und vortreffliche Menschen,« sagte Orest.

»Das ist kein Grund, um vom Glauben abzufallen, entgegnete Corona, »denn wenn er gültig wäre, so könnte man auf denselben Grund hin ein Renegat des Christentums werden: es soll unter den Muhamedanern ebenfalls sehr rechtschaffene Menschen geben.«

»Daraus geht hervor, daß alle Religionsformen vollkommen gleichgültig sind,« sagte Orest. »Da der Christ nichts voraus hat vor dem Muselman und dem Buddhisten – wie könnte dann wohl im Christentum selbst die eine Konfession sich über die andere erheben wollen?«

»Lieber Orest,« sagte Corona, »bedenk' es wohl! Es ist jetzt mit Dir dahin gekommen, daß Du die göttliche Offenbarung der christlichen Glaubenslehre, auf welcher die christliche Sittenlehre beruht, verwirfst – und zwar deshalb, weil dies himmlische Sittengesetz, das den Menschen zur Heiligkeit führen soll, in der katholischen Kirche gelehrt und aufrecht gehalten wird, während sie zugleich die Mittel der Gnade aufbewahrt und spendet, die den Fortschritt zu diesem Ziel ermöglichen. Du hast Dich von demselben abgewendet; Du entsagst dem Streben nach himmlischen Gütern, dem Kampf für Pflicht und Tugend; Du verwirfst die erhabene Glaubenslehre, welche Dir in dem Streit Zwischen Gutem und Bösem, der in keiner Menschenbrust rastet, übernatürliche Waffen bietet; Du läßt Dich besiegen von irdischer Leidenschaft; und dann sprichst Du von rechtschaffenen Menschen außerhalb der Kirche, als ob Du nach einer Vortrefflichkeit strebtest, die innerhalb derselben nicht zu finden wäre – und fast in einem Atem von der Gleichgültigkeit aller Regionen. Kannst Du bei einer solchen inneren Verwirrung denn überhaupt einen Entschluß fassen wollen?«

»Du machst mich verwirrt mit Deinen Widersprüchen und Einwürfen!« rief Orest zürnend. »Ich weiß, was ich' tun will und Du weißt es jetzt auch. Hättest Du mir die Hand geboten zur friedlichen Lösung unseres traurigen Verhältnisses, so hättest Du mir einen Gewaltschritt erspart. Der komme auf Dein Gewissen. Du treibst mich in die Arme des Protestantismus!«

»Gerade so, wie Gott Dich auf den Weg des Verderbens führt – nicht wahr?« sagte Corona mit trübem Lächeln. »Das gehört zusammen! Gott und der Nächste müssen unsere Schuld tragen, wenn wir anders nicht mit ihr fertig werden können.«

»Willst Du die Verantwortung nicht übernehmen,« rief er, »wohlan! so bleibe sie mir! Ich fürchte mich nicht davor. All' diesen kirchlichen Gesetzen gegenüber hat das Menschenherz seine unverlierbaren Rechte; die nehme ich in Anspruch – und mit ihnen werde ich mich vor Himmel und Erde ohne Scheu verantworten.«

»Orest!« rief Corona stehend, »erbarme Dich Deiner Seele! Du wirfst die Religion von Dir, wie eine lästige Kette, weil sie Deine bösen Leidenschaften in Fesseln halten will. Ach, Orest! Du wirst untergehen als das Opfer dieser Leidenschaften, denen Du den Zügel schießen lassen willst.«

»Bah! untergehen! .... Das könnte mir in dem verzweiflungsvollen Druck der Gegenwart geschehen; aber nie in meiner Freiheit!« rief Orest. Plötzlich fetzte er hinzu: »Adieu!« sprang über den Wagenschlag hinweg, ohne sich Zeit zu nehmen halten zu lassen, und eilte einem Seitenwege zu, weil er in der einsamen Frauengestalt, die dort wandelte – Judith zu erkennen glaubte. Corona erschauerte vor einer solchen Gefangenschaft aller höheren Seelenkräfte. »Er ist ja willenlos gebannt an diese Judith!« seufzte sie und ließ den Heimweg einschlagen. »Ob sie auch eine solche Leidenschaft für ihn hat? ob sie sich aus Überzeugung taufen läßt? und wenn das sein sollte – könnte sie nicht dahin gebracht werden, ihm als Christin zu entsagen?« –


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