Ida Gräfin Hahn-Hahn
Maria Regina. Zweiter Band
Ida Gräfin Hahn-Hahn

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Himmelspforten.

Es war die schöne, heilig-stille Adventzeit – dieser Vorfrühling im übernatürlichen Jahr, welches die Kirche durchlebt; der Vorfrühling unserer Erlösung. Uriel hielt sich noch immer in Windeck auf. Was sollte er in Rom? was überhaupt in der Welt? Die Baronin Isabelle quälte ihn ein wenig mit ihren verschiedenen Ratschlagen, was er alles versuchen und unternehmen könne; und mit ihrem leisen Bedauern, daß er nicht Herr auf Stamberg geblieben sei. Er nahm es ruhig hin und sagte:

»Liebe Tante, dieser Entschluß war eine höhere Fügung und ich harre jetzt wieder auf eine solche.«

»Aber, lieber Uriel,« erwiderte sie, »man muß dem lieben Gott doch gewissermaßen Vorschläge machen und Spielraum geben, damit seine Fügungen irgend einen festen Boden vorfinden.«

»Ich wüßte ihm in der Tat keinen Vorschlag zu machen,« entgegnete Uriel lächelnd.

»Nun, zum Beispiel!« rief sie; »laß Dich auf Jochhausen nieder, wo Deine guten Eltern gelebt haben. Das wäre so eine Art von Andeutung, welche der liebe Gott verstehen und Dir häusliches Glück schicken würde.«

Uriel lachte und sagte: »Das wäre eine entsetzliche Überraschung! Hätte ich das gesucht, liebe Tante, so wär' es allerdings vernünftiger gewesen, auf Stamberg zu bleiben – und daß ich dies nicht tat, betrachte ich eben als eine höhere Fügung.«

Sie schüttelte zweifelnd den Kopf und entgegnete:

»Ich bitte dich, Uriel, sei vorsichtig! Du stehst in einem bedenklichen Lebensalter.«

»Doch weniger als vor zehn Jahren, sollt' ich meinen!« entgegnete er immer noch lachend.

»Ach, Kind!« rief sie, »lache nicht; es ist sehr ernsthaft! Sieh': ist ein Mann über dreißig Jahre alt geworden und unverheiratet – ja sogar ohne den Wunsch und Willen zu heiraten, geblieben, da er es in seiner Lage doch könnte, so droht ihm von Tag zu Tag immer mehr die Gefahr, in Verhältnisse zu geraten, in Schlingen sich zu verwickeln, die ihn nicht glücklich und nicht gut machen, in die er aus Langeweile fällt und in denen er aus Trägheit bleibt – zuweilen für immer, zuweilen lange Jahre. Es gibt Frauen genug, deren Eitelkeit es schmeichelt, einen solchen Gefangenen mit sich durch's Leben zu führen; und Männer genug, die sich so mitführen lassen, weil sie dabei gehätschelt und verzogen werden – bis sie alte Hagestolzen und vollkommen unerträglich sind.«

»Eine furchtbare Perspektive, liebe Tante!« sagte Uriel scherzend, »und ich begreife,« setzte er ernst und liebevoll hinzu, »daß Dein wahrhaft mütterliches Auge sie für mich nicht ertragen kann. In ein solches Verhältnis gerät man, wenn man niemand liebt und doch gern geliebt sein möchte. Bei mir ist es aber gerade umgekehrt: ich liebe jemand – und will von niemand sonst geliebt sein.«

»Ach!« seufzte die Baronin, »wie konfus ist das Leben mit all' seinen Erscheinungen! Hört man von der Treulosigkeit der Männer, so seufzt man. Und findet man einmal die Treue – so seufzt man auch.« –

Am anderen Morgen erschien Uriel nicht zum Frühstück und Levin sagte der Baronin, daß er nach Himmelspforten gefahren sei.

»Und Sie hielten ihn nicht zurück?« rief sie.

»Er hat mich nicht gefragt, sondern nur gesagt, er gehe. Warum sollte er aber auch nicht gehen?«

»Warum? nein Gott, warum will er denn durchaus in Regina's Nähe kommen, da es nur seinen Schmerz erneuert! Ich interessiere mich lebhaft für alle liebende Herzen, aber nicht für ihre Torheiten.«

»Das ist doch recht schwer zu trennen,« antwortete Levin heiter, »Leidenschaft ist Torheit. Nun, wer weiß, ob Regina ihm nicht die Pforte des Himmels aufschließt, die enge Pforte, durch welche wenige gehen.«

»Dann wäre es freilich eine höhere Fügung – und nach einer solchen verlangt er,« sagte die Baronin. –

Uriel hatte lange mit sich selbst gekämpft, ob er Regina aufsuchen solle – oder nicht. Er fürchtete nicht die Aufregung des Schmerzes; aber sehr, den Stachel von Bitterkeit gegen Gott und Menschen, der ihm so viel zu schaffen gemacht hatte und dessen er sich noch immer nicht ganz erwehren konnte. Doch vielleicht nimmt sie mir gerade diesen Stachel aus dem Herzen, sprach er zu sich selbst; wer weiß, welche Gnaden eine solche Seele mitteilen kann.

Zur Stunde der Vesper war er in Kloster Himmelspforten und ging in die Kapelle, die geöffnet – jedoch hinter dem Altar durch Gitter und Laden abgeschlossen gegen den Chor, war, in welchem die Ordensfrauen gemeinschaftlich die kanonischen Stunden beteten. Es war ein grauer milder Nachmittag, die Luft so seltsam lau, wie sie zuweilen im Dezember auf ein Paar Tage oder Stunden eintritt; man denkt dabei an erfrorene Rosen. In der Kapelle herrschte schon die Dämmerung des Abends und die Vesper hatte begonnen, als Uriel eintrat. Also hier in diesem trüben, frostigen Dunkel verblüht die leuchtende Lilie! sprach er zu sich selbst; in dieser Schattenwelt ist ihr energisches Leben untergegangen, in dieser Grotte des Karmels ihr Herz eingesargt! Ein namenloses Weh zerschnitt ihm die Seele; das Weh, welches jeder empfindet, der in der Opferflamme des Altars ein blutendes Menschenherz langsam verzehren sieht und nicht weiß, daß es darin auf der Hand Gottes liegt. Er horchte auf die betenden Stimmen; sie waren zu einem und demselben Ton eingeübt: er konnte nicht Regina herausfinden. Begraben! begraben! jammerte sein Herz. Er hoffte auf die Antiphone; es war ja unmöglich, die Singstimme ganz ihres eigentümlichen Gepräges zu entäußern. Die Antiphone des Advents »Alma redemptoris« wurde gesungen; aber ohne Regina. Er hätte ihre Stimme mit dem ihr eigenen seeleninnigen Klang unter Tausenden erkannt. Begraben! begraben! jammerte sein Herz; und wie es so jammerte, fiel ihm ein, dies sei vielleicht keine figürliche Redensart und sie sei in der Tat tot oder sterbend. Er floh aus der Kapelle, eilte zur Klosterpforte und schellte hastig. Die Pförtnerin erschien am kleinen Fenster und mit stockendem Atem sagte Uriel:

»Ich wünsche die Schwester Therese vom Lamm Gottes zu sprechen.« dies war Regina's vollständiger Klostername; es konnte jetzt keine Verwechselung mit irgend einer anderen Schwester Therese vorfallen.

»Sie ist im Chor,« sagte die Pförtnerin, und setzte ein paar Worte hinzu, welche bescheiden andeuteten, daß die spätes Stunde ungelegen sei.

»Also komme ich morgen vormittag,« erwiderte Uriel und ging ruhiger in die Kapelle zurück, die ihm plötzlich nicht mehr so finster und frostig vorkam, denn – sie war im Chor und wo sie war, da wurde es sonnenhell und sonnenwarm. Er fühlte sich beglückt, in ihrer Nahe zu atmen, von denselben Mauern umschlossen, von demselben Dach beschirmt zu sein. Nichts trennte sie – als der Altar mit dem Tabernakel; als Gott! Und trennt denn Gott die Seelen? fragte er sich heimlich. Sind sie nicht süß und fest geheimnisvoll in ihm verbunden? .... viel sicherer, viel unzertrennlicher in dieser göttlichen Lebensgemeinschaft, als in einer irdischen? .... Und doch! und doch! das Menschenherz hat nicht sein Genügen in ihr! – Und er dachte mit einer so unerhörten Freude, daß ihm die Brust davon beklemmt wurde: morgen werde ich sie sehen, sie hören, mit ihr sprechen! und dann? .... – Ihm war zu Mute, als ob dann sein Herz still stehen werde.

Es war ganz dunkel geworden, nur das ewige Licht verbreitete seinen ruhigen Schimmer durch die Kapelle und stimmte ihn friedlich. Er schlug das Auge zur Lampe auf und sagte leise: So zu leuchten im Heiligtum, und vor Gott und für Gott, das Los hat Regina sich gewählt und vielleicht ist es das süßeste, welches uns hienieden zu Teil wird, weil es über dem Wechsel und dem Wandelbaren ist. Dies Schwanken zwischen Wonnen und Qualen, dieser Wechselgesang von Lust und von Weh, diese zitternde Sehnsucht und dies trostlose Ungenügen, diese himmelstürmenden Wünsche und diese gräßliche Nichtigkeit in ihrer Erfüllung: dies Alles, das draußen liegt, außerhalb des Gottesfriedens – ist's eine Entbehrung, wenn man es nicht kennt? ist's ein Verlust, wenn man es aufgibt? – – – Da hub das Angelusgeläute an. Ihm war, als bewege die Glocke sein Herz. Er kniete nieder, barg das Gesicht in den Händen und betete: Mutter Gottes, bitte für uns arme Sünder! – Dann klirrten Schlüssel in seiner Nähe. Er entwich wie ein Schatten aus der Kapelle, deren Türe hinter ihm geschlossen wurde, und ging nach der Stadt zurück.

Die Nacht verging wie alle Nächte. Für Uriel aber hatte sie hundert Stunden und jede Stunde hundert Minuten. Er ging wieder zum Kloster. Der helle frische Wintermorgen mit dem stillen blauen Himmel und der feinen weißen Decke, welche der nächtliche Schnee über die Erde gebreitet hatte, tat ihm wohl und kühlte den Scirocco, der ihm durch den Kopf und die Brust ging. Ist das denn Freude? fragte er sich selbst. Ich freue mich – und die vorherrschende Empfindung ist – Qual! An der Pforte fragte er, ob die Schwester Therese jetzt zu sprechen sei. Es wurde bejahet und er in das Sprachzimmer gewiesen. Es war von äußerster Einfachheit: weiße Wände, einige hölzerne Stühle, ein schwarzes Gitter, hinter welchem sich ein geschlossener Laden befand, und dem Gitter gegenüber ein großes schönes Kruzifix. Nach seinem Namen war er nicht gefragt worden und er hatte ihn nicht genannt. Als ein Unbekannter, ein Namenloser sollte er vor sie treten! Jenseits des Gitters lag das innere Sprachzimmer. Es währte nicht lange, so öffnete sich eine innere Tür. Es trat jemand ein und sagte, zum Gitter vorgehend: »Gelobt sei Jesus Christus.«

»In Ewigkeit, Amen!« erwiderte Uriel mit versagender Stimme – denn das war Regina!

»Uriel! grüß Dich Gott!« sagte sie so herzlich, als ob sie beide in Windeck wären.

»Weißt Du denn noch von mir? Hast Du mich nicht vergessen?« rief er überwältigt.

»Wähnst Du, wir vergäßen die Unseren?« fragte sie zurück. »Das wäre ja treulos, herzlos. Gott zerreißt keine Bande des Herzens: er heiligt und verklärt sie.«

»Ja, das ist Regina!« sagte er seufzend.

»Wie kommst denn Du zu unserem Karmel?« fiel sie ein.

»Ich möchte von Dir wissen, ob Du glücklich bist,« entgegnete er. »Du wirst es bejahen; das weiß ich! Hat der Mensch sich ein ungewöhnliches Schicksal mit freiem Willen bereitet, so ist er oft zu stolz, um später zu gestehen, daß es mit seinem geträumten Glück kaum mittelmäßig beschaffen sei. Darum bitte ich Dich, mir zu sagen, warum oder wodurch Du glücklich bist; das gibt mir vielleicht einen richtigeren Maßstab, und ich werde Dein Leben besser verstehen.«

»Ich bin glücklich, weil ich das höchste Gut liebe und gemäß dem Drang dieser Liebe leben darf.«

»Und wohin drängt diese Liebe Dich?«

»Zum Opfer, Uriel. Ich bin glücklich, weil ich mich in jedem Augenblick und mit jedem Atemzug in gottgefälliger Weise der göttlichen Liebe opfern kann.«

»Woher weißt Du, daß sie gottgefällig ist?«

»Weil sie auf den evangelischen Räten beruht, welche durch die drei Gelübde besiegelt werden. Das ist die höchste Gnade, welche dem Menschen zu Teil werden kann. Wie gern folgt man nicht in weltlichen Verhältnissen dem Wunsch, dem Wink eines geliebten Wesens, ohne im mindesten zu betrachten, ob sich eine solche Folgsamkeit rechtfertigen lasse vor der Vernunft und der Wahrheit und ob man sie nicht dereinst bereuen werde. Wir aber sind sicher vor solcher Täuschung. Wir folgen einem Wink, der so zart ist, daß Millionen ihn nicht verstehen, und wissen dennoch, daß wir keinem selbstgeschaffenen Wolkengebilde folgen, denn der menschgewordene Gott Selbst winkt uns zur Nachfolge.«

»Und worin besteht diese Nachfolge?«

»Im Leiden aus Liebe.«

»Leidest auch Du, Regina?«

»Wer die drei Gelübde abgelegt hat und treu zu erfüllen sucht, ist gleichsam durch die drei Nägel Jesu mit ihm an das Kreuz geheftet, denn Armut, Entsagung und Gehorsam allzeit geübt, kreuzigen den natürlichen Menschen auch allzeit. Das tut freilich weh, aber dem göttlichen Heiland haben auch die Nägel weh getan, als er an ihnen in seinen Wunden hing.«

»Wie fängst Du es aber an, um dies Bild so fest Dir einzuprägen, daß es Dein Vorbild wird?«

»Man denkt an ihn.«

Uriel hätte fast gelächelt über diese Antwort.

»Darin liegt eben das Schwierige,« sagte er.

»In der bunten, lauten, zerstreuenden Welt – ja!« antwortete Regina. »Da hat man weder Zeit noch Lust noch Aufforderung, anders als ruck- und stoßweise an den göttlichen Geliebten zu denken – wenn's überhaupt geschieht! Aber für uns heißt es: Was droben ist, habet im Sinn, nicht was hienieden. Wir sind ja da, um uns in die Betrachtung seines Lebens und Leidens, seines Todes und seiner Herrlichkeit, seiner Lehre und seiner Liebe zu versenken; sind ja da, um es nach unseren Kräften mitfühlend nachzuleben; sind ja da, um ihm zu sagen, daß wir ihn lieben; daß wir verlangen, ihn so zu lieben, wie er geliebt sein soll und sein will; daß wir wünschen, der ganze Erdkreis möchte ihn erkennen und lieben; daß wir begehren, jeden Blutstropfen zu vergießen, jeden Atemzug zu verhauchen, um zu bewirken, daß sein Name verherrlicht und sein Reich verbreitet werde. Er will hören, daß sein Geschöpf ihn liebe. Zwischen den Millionen von Worten, die eine armselige Liebe verherrlichen, und zwischen den Millionen von Beleidigungen, welche sein göttliches Herz durch sündige Liebe empfängt, will er doch auch ein Paar Worte hören, die zu ihm allein von Liebe sprechen und denen der Beweis nachfolgt, daß es keine leeren Versicherungen sind. Dazu sind wir da; das ist die Bestimmung unseres mystischen Karmels. Uns erwartet nicht ein großer Kreis von frommer Tätigkeit, der anderen Orden zugewiesen ist; nicht die unmittelbare Wirksamkeit auf die Seelen, welche man in der Armen-, Kinder-, Gefangenen- und Krankenpflege übt. Wir sind nur da, um den göttlichen Liebhaber der Seelen zu lieben und es ihm zu sagen – betend, leidend. Wer das will – der denkt an ihn! und wer einmal angefangen hat, an ihn zu denken – o, der findet das nicht mehr so schwierig, wie es Dir erscheint. Aber anfangen mußt Du! Du mußt an ihn denken wollen, ihn lieben wollen.«

»Ich will aber nicht Karmelit werden!« versicherte Uriel eifrig.

»Was soll denn eigentlich aus Dir werden?« fragte sie, als habe sie seine innere Unruhe erkannt.

»Ich weiß es nicht!« brach Uriel aus. »Ich weiß nur dies: ich kann nicht mein Herz der Welt vor die Füße werfen; nicht lieben, wie sie liebt; nicht begehren, was sie begehrt; nicht dienen, wem sie dient! ich kann in nichts mit ihr Schritt halten.«

»Gott Dank!« rief Regina; »ist das Herz gründlich von der Welt abgewendet, so kehrt es sich leicht dem Himmlischen zu. Aber, Uriel, zur Welt gehört auch die Welt Deines Ichs; und der Abschied von ihr ist nicht so leicht, als von der äußeren Welt.«

»Ich meine,« entgegnete Uriel, »ich hätte auch die verabschiedet.«

»Suchst Du kein Glück irgend einer Art zu erringen und zu genießen?«

»Doch!« rief er lebhaft; »die Seele ringt nach Glück. Allein sie will nur ein übernatürliches genießen.«

»Sieh! das ist noch Welt, Uriel: Genuß finden wollen im übernatürlichen Leben! Begehrst Du den, so bist Du ja gleichsam ein Lohndiener. Als der göttliche Heiland am Kreuz hing, durchströmte ihn ohne Zweifel eine unbegreifliche Seligkeit, das Werk der Erlösung vollbracht zu haben; allein er empfand so gar nicht den Trost, der doch in überschwänglicher Weise daraus hervor hätte strömen müssen, daß er wehklagte: Mein Gott, warum hast du mich verlassen! So müssen auch wir unser Glück einzig und allein in der vollkommenen Hingebung an den Willen Gottes – ohne Beimischung von Genuß und Trost suchen.«

»Ich bin aber nicht so vollkommen!« rief Uriel.

»Ich auch nicht!« entgegnete Regina. »Daß wir es werden, ist Gnadensache; daß wir uns alles Ernstes daran machen, es werden zu wollen, ist unsere Sache. Übrigens bleibt Dir keine Wahl! da Du dein Herz nicht der Welt vor die Füße werfen willst, mußt Du es an's Kreuz heften. Eine Zwischenstation gibt es nicht.«

»Allein es gibt ein Maß in der Kreuzigung, Regina! Du hast immer das Leben nach den evangelischen Räten mit seinen drei entsetzlichen Nägeln im Sinn.«

»O,« fiel sie lebhaft ein, »Du nennst sie entsetzlich; ich nenne sie unser Brautgeschmeide. Mit ihrem Schmuck sind wir des Bräutigams wert, denn sie verähnlichen uns ihm. Schlagen sie den natürlichen Menschen an's Kreuz, so heben sie dafür den übernatürlichen zum Himmel hinauf. Sie machen es ihm möglich, seinen Reichtum in Gott allein, seine Freuden in Gott allein, seinen Willen in Gott allein zu suchen und zu finden. Ja, nur sie machen ihm die vollkommene, die Christus ähnliche Hingebung an Gott möglich. Unter dem Gelübde des Gehorsams, welches die beiden anderen sicher stellt, führt der Mensch ein Abbild vom Leben des Gottessohnes, der dreißig Jahre lang in der Hütte und der Werkstatt von Nazareth sterblichen Menschen Untertan war. Nein, Uriel! göttlich ist das ganze Evangelium! aber die drei Nägel sind seine Krone und seine Glorie. Die bilden büßende Seelen, jungfräuliche Seelen, Martyrerseelen. Nimm diese hinweg – was bleibt übrig im Leben des Christentums? nur die Gebote, nur das Alltagsbrot, während das himmlische Manna verschwindet. Den Vater behalten wir, aber den Bräutigam verlieren wir. Die evangelischen Räte sind das eigenste Eigen des Christentums, Das Jesukindchen hat ste vom Himmel herunter gebracht; um die Krippe von Bethlehem sind sie aufgeblüht. Und weil sie diese wundervolle Abkunft haben, deshalb sind sie so edel, daß sie mit Geld und Gut und irgend einem Besitz von geschaffenen Dingen sich nicht vertragen! so geistig, daß sie die innerste Freiheit von jeder Kreatur, die Trennung von dem Liebsten auf Erden, die Losschälung der feinsten Bande von Fleisch und Blut begehren; so erhaben, daß sie mit den gewöhnlichen Wegen der Menschen nichts zu schaffen haben und nur den Weg gehen, den sie vom Jesukind gelernt haben »gehorsam bis zum Tode am Kreuz.« Uriel! ein einziger Mensch, der in der Vollkommenheit nach den evangelischen Räten lebt – und aus ihnen drei Nägel macht, mit denen er sich an das Kreuz des Herrn heftet, überwiegt weit alle Größe aller Menschen zusammen genommen, welche die Welt groß nennt; denn der himmlische, nach Christus gebildete Mensch ist größer in ihm. Und davor grauet Dir? und das flößt Dir Entsetzen ein? Ach, Uriel! ich will Dir sagen, woher das kommt: Du denkst nicht an die Menschwerdung Gottes, an dieses süße, liebeselige Geheimnis, welches die Kirche jetzt im Advent andächtig betrachtet und welches gleichsam der immerblühende Rosenstrauch ist, aus dem sich fort und fort alle anderen heiligen Glaubensgeheimnisse wie göttliche Rosen entwickeln. Dem Gottessohn, der sich liebebesiegt durch unser Elend, zum Sohn der seligsten Jungfrau macht, und als das gebenedeite Jesukindchen zu Bethlehem auf unserer armen Erde erscheint: dem müssen wir zuerst, zum gerührten Dank für eine so göttliche Liebe, unser Herz schenken – und ist das geschehen, ach! wie weiß er es dann festzuhalten, und wieder zu gewinnen, und sich darum zu bewerben, und es an sich zu ziehen, und es zu berauschen mit seinen Myrrhen und seinem Blut, so daß sich das Herz endlich auch liebebesiegt ihm anschmiegt und dann sein Genügen hat – für die Ewigkeit.«

»Dazu muß das Herz besonders begnadet sein, Regina!« wendete Uriel ein.

Das Herz bildet sich allmälig um nach seiner Liebe; das ist deren Gesetz, so mächtig ist sie. Liebt der Mensch irdisches Gut, so wird er irdisch. Liebt er gemeine Genüsse, so wird er gemein. Liebt er Schlechtes an Menschen und Dingen, so verschlechtert er sich und wird mehr und mehr unfähig zum Guten. Liebt er Gott, so vergöttlicht er sich, so geht aus dem trauten und beständigen Umgang mit dem unendlich Schönen und Guten auch etwas Gutes und Schönes in seine Gedanken, Gefühle, Bestrebungen und Handlungen über. Je besser das Herz wird, um so mehr liebt es Gott, und je mehr es ihn liebt, desto größere Gnaden empfängt es. Er ist ein Herr von unendlicher Milde und Großmut und kommt der leisesten Liebesregung zärtlich entgegen.«

»Dennoch, Regina, muß das Herz besonders begnadet sein, um sich innerlich und vollständig von allen Geschöpfen – und von dem Glück und den Freuden, welche sie bringen, abzutrennen. Es gibt sündlose Freuden und Verhältnisse voll geheiligtem Glück.«

»Gewiß!« entgegnete sie lebhaft. »Nicht Jeden beruft Gott zum vollkommenen Aufgeben des Irdischen; allein er verlangt von jedem, daß dasjenige, was in dem sündlosen Glück und den erlaubten Freuden irdisch ist, durch Beziehung auf Gott mehr und mehr gereinigt und verklärt werde. Willst Du also Irdisches besitzen und in Deiner Freude darüber das rechte Maß inne halten und Dich nicht besinnungslos darin verlieren; willst Du Menschen lieben und in ihnen Dein Glück finden: so darfst Du es doch nur als etwas von Gott Geliehenes besitzen, das Du allzeit bereit bist, mit Gleichmut ihm zurück zu geben. Tust Du das nicht, so wirfst Du dein Herz der Irdischkeit zu Füßen. Tust Du es aber, so lebst Du gewissermaßen auch nach den evangelischen Räten, arm im Geiste, bereit zur Entsagung, willig zum Gehorsam – und in dieser Weise heiligen sich unzählige Seelen.«

»Und warum, Regina, hast Du diesen leichteren Weg nicht gewählt?«

»Weil ich ihn für einen gefährlichen und mühseligen Umweg halte. – Mein Ziel ist Gott: danach verlange ich. Mein Ende ist Gott: darüber frohlocke ich. Weshalb sollte ich bei der Kreatur mich aufhalten? Überdas setzt es ein Streben nach höherer Vollkommenheit voraus, wenn man den Entschluß nach den evangelischen Räten zu leben, durch die Klostergelübde besiegelt und sich durch sie, an Hand und Fuß himmlischer Weise gebunden, wehrlos das süße Joch und die sanfte Bürde Jesu auflegen läßt.«

»Immer der alte, hohe, energische Schwung!« rief Uriel.

Sie unterbrach ihn, wie sie jedesmal tat, wenn sie fürchtete, daß er von Lob oder von Liebe sprechen wolle, und fragte:

»Bist Du denn wirklich all diese Jahre in der Welt umher geschweift?«

»Ja!« erwiderte Uriel. »Ich wollte die eine Liebe vergessen und eine andere finden; dazu braucht man Zeit und allerhand Kenntnis.«

»Im Grunde nur – Erkenntnis!« sagte Regina. »Nun, wohin bist Du denn mit Deinen Kenntnissen gelangt?«

»Daß ich nichts habe finden können, das größer als mein Herz und folglich meiner Liebe würdig wäre. Die Höhen des Tschimborasso, und die Weiten der Wüste und die Tiefen des Ozeans und der Donnersturz des Niagara füllen die Abgründe meines Herzens nicht aus – und all das Lebensgewimmel voll Tätigkeit und Geschäftigkeit, voll Klügeleien und Betrügereien, voll Berechnung und Täuschung, voll Anstrengung und Nüchternheit gibt meinem Herzen auch nicht einen einzigen rascheren Schlag.«

»Das begreift sich!« sagte Regina. »Das Menschenherz ist ein goldener Kelch, den Gott mit Opferwein gefüllt haben will. Soll er den schalen Wein der täglichen Mahlzeit oder der irdischen Feste aufnehmen, so entspricht er nicht seiner Bestimmung. Er wird entweiht – und das Herz, das ein lebendiger Kelch ist, wendet sich ab von der Entweihung – wenn es sie begreift – und bleibt lieber leer. Weißt Du wohl, daß dies eine große Gnade ist?«

»Zu der Erkenntnis hab' ich es noch nicht gebracht,« antwortete Uriel mit einem Anflug von Bitterkeit.

»Der Trank aus trüben Cisternen genügt Dir nicht; aber Du verschmachtest,« entgegnete Regina. »Nun wohlan, Uriel! wende Dich zu den Wassern des ewigen Lebens, wende Dich zu dem Born, aus dem sie in unergründlicher Fülle strömen. Durchschweife nicht länger den Erdball. Geh' in das erste beste Kirchlein, knie nieder vor dem Tabernakel. Sieh! dort in dem engen, dunkeln, kleinen Raum, dort wohnt der, der einzige, welcher größer ist, als Dein Herz und folglich dessen Leere füllt. Dann hast Du, was Du brauchst, was Du ersehnst, was Dir genügt. Meinst Du, daß uns die Klostermauern und die enge Zelle süßer wären, als das liebe Vaterhaus, wenn Er nicht im Tabernakel unter uns wohnte? Er ist der göttliche Magnet, der uns fesselt! er ist der himmlische Kompaß, der unseren Weg bestimmt. Der geheimnisvolle Gott im Tabernakel ist die Vervollständigung des Jesukindchens in der Krippe und des bittern Leidens auf Golgatha: so liebt uns Gott – der König, der Ewigkeit. Wer das erkennt, dem wird eine namenlose Seligkeit das Herz durchfluten, so geliebt zu sein. Dann werden sich die Fluten senken und das Herz in seiner eigenen Armseligkeit zurücklassen und traurig wird es sprechen: Ach Herr! zu lieben verstehe ich dich nicht, dazu bin ich zu gering! aber dienen will ich dir alle Tage meines Lebens bis zum letzten Atemzug auf dem stillen langen Kreuzweg von Bethlehem bis zum Tabernakel. Und dann sei versichert, Uriel, Du hast den gefunden, der Dein Herz erfüllt. In der Enge, in der Stille, in der Abgeschiedenheit begegnest Du dem Gott, den Du auf Deinen Weltfahrten nicht begegnet bist.«

»Regina! Regina!« rief Uriel, »in diese Enge, in diese Stille muß man ein wunderbar reines und friedliches Herz bringen; sonst reibt es sich auf.«

»Ach!« sagte sie, »es bringt jeder sein elendes Herz mit, das unruhig ist, weil es in menschlicher Brust schlägt. Beginnt nur erst seine stille Kreuzigung durch die praktische Ausübung der evangelischen Räte, so wird es nach und nach gefriedigt.

Jeder hat seine Kämpfe zu bestehen, seine Versuchungen zu überwinden, in seinen Prüfungen sich zu läutern.«

»Und das alles ohne das erleichternde Gegengewicht großer Tätigkeit!«

»Ach, Uriel, wir haben hier mehr zu tun, als je die Tante Isabelle, Corona und ich auf Windeck zu tun hatten.«

»Ist Gebet – Tat?« fragte er.

»Meinst Du nicht?« fragte sie zurück. »In stiller Nacht geht der göttliche Heiland in die Einsamkeit der Berge und betet für die sieche Menschheit. Ist das weniger Tat, als wenn er am Tage ihre Gebrechen heilt? In stiller Nacht kniet Franziskus, der seraphische, vor einem Kruzifix und betet: »Mein Gott und mein Alles.« Das war vielleicht mehr Tat, als seine ergreifendsten Predigten, durch die er Tausende zur Buße bekehrte. Das Gebet ist eine ungeheuere Tat, Uriel, ist das Fundament von allem, was auf Erden zur Ehre Gottes und zum Heil der Seelen geschieht. Nur setzt sie, statt der Hände und Füße, die höchsten geistigen Kräfte in Bewegung. Sie ist der Atemzug des Gedankenlebens. Die Wissenschaft mit ihren Entdeckungen und Erforschungen, die von so unberechenbarem Einfluß auf die Menschheit sind, wirkt in der Sphäre des Verstandes etwa so, wie das Gebet in der höheren und umfassenderen geistigen Sphäre: sie erfindet, was andere ausführen. Das Gebet lenkt und unterstützt, was anderen frommt. Am jüngsten Tage wird es dereinst offenbar werden, was wir dem Gebet frommer Seelen zu danken haben. Unser Gebet hier ist nun freilich zu gering, um große Erfolge zu haben. Wir find sehr unvollkommen und gehören nicht zu jenen Lieblingen Gottes, deren Bitten und Wünsche er gern hört und gern erfüllt. Wir sind jedoch in äußerer Praxis auch nicht so untätig, wie Du zu glauben scheinst! In einer armen Familie hat jedes Mitglied das Seine zur Erhaltung des Hauswesens beizutragen, der eine verrichtet dies und der andere jenes. Wir bilden eine arme Familie mit einer geistlichen Mutter und zwölf Töchtern. Die Zahl ist festgesetzt zu Ehren des göttlichen Meisters und seiner heiligen Apostel. Sie ist groß genug, um allen Verpflichtungen nachzukommen; sie ist klein genug, um ohne Lärm und Tumult das stille Grottenleben des Karmels führen zu können. Die eine hat die Haushaltung zu besorgen, die andere die Bedürfnisse der Sakristei. Die dritte ist Krankenwärterin, die vierte spielt die Orgel und leitet den Gesang. Alle stehen auf zum gemeinsamen nächtlichen Chor und beten die Horen zu den bestimmten kanonischen Stunden. Ist das nicht alles eine höchst geziemende Beschäftigung? in stiller Zurückgezogenheit, die überall den Frauen so wohl ansteht, werden die häuslichen Pflichten des geistlichen Familienlebens erfüllt – und erfrischend und beseelend, wie ein schöner Strom durch einförmige Fluren, schlingt und windet sich das Gebet durch all unser Tun und läßt uns nicht allzuweit aus der Gegenwart Gottes uns verlieren. So vergehen Tage, Wochen, Jahre. Können wir nicht in Wahrheit mit König David selig ausrufen: »Kommt vor Sein Angesicht mit Jubel. Wir sind Sein Volk und die Schäflein Seiner Weide. Gehet ein mit Frohlocken in Seine Tore. Preiset Ihn, lobet Seinen Namen; denn lieblich ist der Herr.« Und zu einer so süßen Gegenwart gesellt sich eine noch süßere Hoffnung. Dereinst kommt ein Stündlein, ach, das gebenedeite, glückselige Sterbstündlein. Dann heißt es: Der Bräutigam kommt! Dann spricht die Seele: Tritt ein, o Herr, bei deiner Magd! längst hat mein Herz zu dir gesagt: Dein Antlitz such' ich! – Und dann spricht er, der unendlich milde und liebliche Herr: Stehe auf, meine Freundin, und komm'. Der Winter ist vorüber! – Sieh, Uriel, so lebt man und stirbt man auf dem Karmel.«

Er hörte ihr zu. Sie hätte stundenlang sprechen können und er würde des Zuhörens nicht müde geworden sein. Ihm zerschmolz das Herz vor diesen Frühlingslüften aus einer übernatürlichen Welt. Sie sagte das alles mit einer Einfachheit und Geistesstille, welche deutlich zeigten, wie heimisch sie in jener war. Wie von lindem Balsam überflossen und geschmeidigt löste sich die Spannung, die Unruhe, die ihm die Brust zerkrallten. Er vergaß, daß er sie geliebt, daß er sie verloren hatte. Er war bei ihr, er war glücklich.

»Regina, Königin meiner Seele!« rief er mit einem Ausbruch von namenloser Wonne.

»Willst Du zur Königin der Seelen sprechen,« entgegnete sie sanft, »so mußt Du sie nennen Maria Regina, die gebenedeite Gottesmutter. Die Regina, welche Du im Sinne hattest, ist ja längst tot. O wende Dich doch nicht den Schatten und dem Tode zu, wenn ein göttliches Leben Dich ruft und Deiner harrt. Lerne Gott lieben, indem Du ihm dienst: das ist mein Wunsch und mein Gebet für Dich.«

Er hörte, daß sie vom Stuhle aufstand.

»O warte noch!« rief er in heftiger Bewegung; »erfülle mir erst eine Bitte! sie ist gering. Du hast am Tage Deiner Einkleidung hier am Gitter zu der ganzen Familie gesagt: Auf Wiedersehen im Himmel! aber ich war nicht dabei. Wohlan, Regina, öffne das Gitter, schlage den Schleier vom Antlitz zurück, damit ich Dich noch einmal auf Erden sehe, Dich – die Du alles bist, was ich je geliebt habe! und dann sprich auch zu mir: Auf Wiedersehen im Himmel.«

»Es geht nicht,« antwortete sie zögernd; »ich tue es nie.«

»Ich will es nicht verraten,« sagte Uriel flehend, »nicht dem Vater, nicht an Corona, nicht an Hyacinth.«

»O, Hyazinth wünscht so etwas nicht!« rief sie. »Er war nie hier – und es wäre doch ihm und mir ein Trost gewesen. Aber er will nicht den irdischen Trost. Sein Herz ist so recht ein Opferkelch. In den heiligen fünf Wunden bin ich immer mit ihm vereint; denn nichts verknüpft die Seelen so innig, Uriel, als die Entsagung.«

»Ja, er ist eben Hyazinth,« sagte Uriel sanft. »Wirf mir nicht vor, daß ich anders bin. Einmal, nur ein einziges Mal laß mich Dich sehen in dem wunderbaren Leben, das Du von himmlischen Geistern gelernt haben mußt. Einmal tritt heraus aus den Wolken, Du Morgenstern meines Lebens – und dann bleibst Du mein Polarstern. Einmal, Du seliges Geschöpf, laß mich den Abglanz Deines Glückes schauen und meiner Seele einprägen.«

»Genug,« sagte sie. »Warte hier, ich komme wieder.«

Sie kam wieder und sagte:

»Uriel! es war eine besondere Eingebung Gottes, daß ich mir vornahm, als ich den Schleier empfing, er solle mir nun auch wirklich alle Gestalten der Erde verschleiern. Aber heute ist's ein besonderer Fall!«

»O Dank, Regina! Gott Dank!« frohlockte er.

»Versprich mir aber eines,« sagte sie feierlich. »Der Vater und Corona dürfen nie erfahren, daß Du mich gesehen hast. Versprich es mir bei dem gekreuzigten Herrn und Heiland.«

»Bei dem gekreuzigten Herrn und Heiland!« wiederholte Uriel mit einer Stimme, die vor Bewegung zitterte.

Der innere Laden wurde aufgeschlossen, der dunkle Vorhang zurückgeschoben, endlich das Gitter weit geöffnet. Da standen drei Karmelitessinnen in ihrem dunkelbraunen Habit mit dem weißen Skapulier und dem schwarzen Schleier. Zwei von ihnen hatten ihn tief über das Antlitz herabgesenkt. Die dritte hatte ihn ganz zurückgeschlagen; nur weißes Linnen umgab ihr Gesicht. Das war Regina; schlank und hoch stand sie zwischen den Ordensschwestern und blickte ruhig zu Uriel hinüber. Er hielt die Augen geschlossen, bis all die Vorbereitungen gemacht waren; dann schlug er sie zu Regina auf. Als habe er einen Todesstoß mitten im Herzen empfangen – so taumelte er vom Gitter zurück, brach zusammen, sank auf die Knie, schlug beide Hände vor's Gesicht und rief mit einem ächzenden Schrei:

»Ah! Ah! Regina – ist das die Milde und Großmut Gottes!«

»Seine Barmherzigkeit ist's, die mir schon auf Erden mein Purgatorium – seine Liebe ist's, die mir Anteil am Kreuz gönnt,« entgegnete sie ruhig.

Leichenblaß und abgezehrt waren ihre Züge, eine fürchterliche Wunde klaffte an ihrer linken Wange und zog sich zu der Schläfe hinauf – und wie Kerzen in einer Gruft standen ihre Augen, noch größer, noch strahlender als sonst, mit stillem Glanz über der grausigen Zerstörung.

»Das Gitter zu! den Schleier herab!« rief Uriel in namenloser Verzweiflung. »Ich halt es nicht aus! ich sterbe vor dem Anblick.«

Der Vorhang rauschte zusammen und sie sagte:

»Sieh, Uriel, das ist die Regina, die Du geliebt hast – und Du schauderst vor ihr zurück! Wirst Du nun die Fügungen Gottes preisen?«

»Nein!« rief er, und seine Verzweiflung löste sich in Tränenströmen – das ist sie nicht! Das Lamm Gottes, das Opfer, das sich lächelnd und selig langsam am Kreuz schlachten und verbluten läßt: das ist die Regina, die ich liebe. O Du gottbegnadetes Geschöpf, welch einem großen Herrn dienest Du!«

»Es ist der, welcher gesagt hat: ich liebe, die mich lieben; und der mir zum Beweis seiner Liebe seine Dornenkrone aufgesetzt hat.«

Uriel drückte mit beiden Händen die Tränen aus seinen Augen, nahm alle Kraft zusammen, um seine Aufregung zu bemeistern, blickte auf das Kruzifix, das ihm noch nie so verständlich, so lebendig gewesen war, sammelte sein Herz in seinem Willen und sagte gefaßt:

»Wohlan, Schwester Therese vom Lamm Gottes, der Herr, der Deine Liebe mit einem solchen Lohn auf Erden vergilt, dessen Liebe muß etwas über alle Begriffe Großes, Süßes, Göttliches sein, welches das Maß meines Herzens überfüllt. Das hab' ich verlangt, das hab' ich gesucht! nun ist es gefunden: dem Herrn will ich fortan dienen.«

Da teilte sich der Vorhang. Regina erschien in ihre Schleier verhüllt und nichts von ihrem Antlitz war sichtbar, als ihre Augen, die wie aus dem Jenseits schimmernd ihn anblickten. Mit unbeschreiblicher zärtlicher Freude sagte sie:

»Auf Wiedersehen im Himmel!« und verschwand. –

Am Abend dieses Tages suchte Uriel in der Stadt den Superior der Karmelitessen auf, nannte sich ihm und fragte ihn, nachdem er in einigen Worten den Vorgang mitgeteilt hatte, wie denn eigentlich dies furchtbare Leiden über die blühende kräftige Regina gekommen – und ob nichts zu ihrer Herstellung versäumt sei.«

»Letzteres ist gewiß nicht der Fall,« erwiderte der Geistliche. »Wir haben hier äußerst geschickte Aerzte und keine Mittel, auch die schmerzlichsten nicht, sind unversucht geblieben. Aber dies Übel ist ja fast immer unheilbar! – Als die Gräfin bei den Karmelitessen eintrat, siechte eine Laienschwester daran hin und die demütige Novize bat um Erlaubnis, die Kranke pflegen zu dürfen. Ansteckend ist es nicht; nur heißt es, daß der Krankheitsstoff, wenn er auch nur durch ein Minimum in das Blut des Gesunden übergehe, dieses vergifte. Die Gräfin empfing mit Freuden die Erlaubnis und besorgte ihr Geschäft mit solcher Andacht, daß die Oberin mir sagte, ihr fielen dabei die Legenden von der heiligen Elisabeth von Thüringen und der heiligen Katharina von Siena ein. Kaum war die Laienschwester tot, so zeigte sich das Übel bei der Gräfin; aber sie kannte dessen Entstehung nicht und beachtete es nicht, hielt es für vorübergehend, vielleicht erzeugt, durch die veränderte Lebensweise und mochte nicht davon reden, aus Furcht, man werde sie, die noch Novize war, zurückschicken, damit sie sich im Vaterhause herstellen lasse. Bemerken konnte es niemand, da der Halsschleier die Wangen zur Hälfte bedeckt, da sie immer ganz heimlich die Linnen wusch, welche sie auf die Wunde legte und nie die leiseste Unruhe oder Bekümmernis kund gab. Nachdem sie Profeß abgelegt hatte und somit ganz sicher war, daß man sie behalten müsse – wie sie unbefangen sagte – da sprach sie denn endlich von dem Übel und sogleich wurde ein geschickter Arzt zu Rate gezogen. Er meint, sie könne einen Nadelstich, einen feinen Riß an der Hand gehabt – und durch denselben, bei dem Verbinden der Laienschwester, den Giftstoff im Blut aufgenommen haben.«

»Und so ist sie verloren – rettungslos verloren!« sagte Uriel tonlos.

»Nur für die Erde, Herr Graf, von der sie ja, der Sehnsucht nach, längst abgeschieden ist; droben ist ihr ein herrlicher Platz bereitet. Die heilige Therese sagt: »Nach dem Maß der Liebe, mit der wir unserem guten Jesus nachgefolgt sind, werden uns die himmlischen Wohnungen eingeräumt.« Da ist denn Wohl zu hoffen, daß der gute Jesus die Schwester Therese vom Lamm Gottes liebevoll empfangen werde, wenn sie vor seinem Thron erscheint. Ein Blutbräutigam, wie die heilige Schrift ihn nennt, ist er ihr hienieden gewesen; in seinen Wunden hat erste sich anvermählt; zu einem lebendigen Schlachtopfer hat er sie auserkoren; und sie hat, wie das Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, gänzlich dem Willen des göttlichen Bräutigams sich hingegeben, nie den Mund zur Klage, viel weniger zum Widerspruch geöffnet und so gelitten, in stiller, schweigender Liebe, wie die ganz guten Kinder Gottes leiden. O Herr Graf! das gibt eine selige Sterbestunde – und wenn wir uns einer solchen erfreuen, so haben wir ja unsere Bestimmung erfüllt und unser Ziel erreicht.«

Uriel ließ sich noch mancherlei erzählen von ihrer heldenhaften Geduld, von ihrer großmütigen Ergebung. Der Arzt hatte ihr jede Anstrengung untersagt – auch Orgelspiel und Gesang, auch das gemeinschaftliche Chorgebet; gerade alles, was ihre süßeste Beschäftigung war. Die schlaflosen Nächte wurden ihr zuweilen so lang und gern hätte sie sich dann zum Tabernakel geflüchtet und Kraft gesucht in der wesenhaften Gegenwart Gottes; aber sie durfte nachts nicht die Zelle verlassen: so wollte es der Arzt – und sie fügte sich mit einer Bereitwilligkeit, als habe sie auf Genesung gehofft. Uriel fragte, ob sie noch ein langes Leiden vor sich habe? Der Geistliche erwiderte, das könne der Arzt nicht bestimmen. Es gehöre Zeit dazu, bis eine so kräftige Natur aufgerieben sei. Manchmal trete ein Stillstand in der Krankheit ein – und das sei eben jetzt der Fall – dann erscheine sie, der Stimme und den Bewegungen nach wie eine Gesunde. Aber nach solchen Pausen im Leiden erhebe es sich jedes Mal mit verstärkter Gewalt.

»Ich war ahnungslos über ihren Zustand, bis ich sie sah,« sagte Uriel.

»Ja, sie ist eine Heldin im Leiden,« entgegnete der Superior. »Sie ist viel näher bei Gott, als bei sich selbst. Sie hängt mit Christus am Kreuz und schweigt, wie er. Nur dauert ihre Passion länger, als von der Sext bis zur Non. Betrüben Sie sich nicht, Herr Graf! den Auserwählten sollen wir nachahmen, nicht nachweinen.«

Das fühlte Uriel. Ihm war zu Mut, als sei der Nachen seines Lebens vom Ufer und von dessen Untiefen und Klippen weit hinweg und auf die hohe See geschleudert, damit er endlich mit vollen Segeln gehen und den Gestaden der übernatürlichen Welt zusteuern lerne. Ein Orkan war durch seine Seele in wenigen Minuten geflogen und hatte sein Inneres zu einem Chaos gemacht; aber so, wie einst die Sündflut die Schöpfung verheerte, damit eine neue Erde aus ihr hervorgehe. Die Taube mit dem Ölzweig schwebte ihm zu. Alle Bitterkeit war geschwunden, alle Härte zerschmolzen – denn die sind irdisch und Himmlisches hatte sich ihm genaht. Martyrer sind Wundertäter. Das empfand er. Er dachte daran, daß er einst vor Jahren zürnend zu Regina gesagt habe, sie müsse für ihn leiden, weil sie ihm so viel Leid bereite. Das war nun geschehen. Er sagte, wie der heilige Johannes von Gott vor einem Kruzifix zu sagen pflegte: »Deine Dornen find meine Rosen und Deine Leiden mein Paradies.«

So kam er nach Windeck zurück. Die Baronin empfing ihn wie eine zärtlich besorgte Mutter. Er sagte ihr nur, dankbar und beruhigend:

»Es ist alles gut, liebe Tante, alles gut – mit ihr und mit mir!«

Aber in Levins Arme sank er und sagte:

»Ich habe gefunden, was mein Herz ausfüllt: Liebe zum Leiden, aus Liebe zu Gott.«


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