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Uriel war noch immer zu Windeck. Er konnte sich nicht entschließen, Onkel Levin zu verlassen. Dankbarkeit, Verehrung und Liebe fesselten ihn an den Greis. Ihm war zu Sinn, als müsse er die ganze Familie in dem Ausdruck zärtlichster Ehrfurcht vertreten und als bleibe sie dennoch eine ewige Schuldnerin dieses Greises, der ihnen allen, seit vier Generationen, das schönste Beispiel in eindringlichster Weise gepredigt hatte: demütige Selbstverläugnung; nie durch Worte, immer durch die Tat. Welch' ein. Opfergeist gehörte dazu, um ein ganzes, langes Leben freiwillig in der Abhängigkeit zuzubringen und in der untergeordneten Stellung zu verharren, welche der Weltgeist ihm anwies! welch' eine übernatürliche Liebe, um gerade von dieser Stellung aus, mit unerschütterlicher Energie einer in Gottes Langmut wurzelnden Geduld, den Weltgeist zu bekämpfen! welch' eine Kette von Seelenschmerzen, von Sorgen, Mühen und Arbeiten um und für Seelen wickelte sich aus jeder Stunde, jedem Tage, jedem Jahre dieses Lebens ab! Und niemand hatte ein Auge für diese unvergleichliche Selbstverleugnung! Keinem fiel es ein, daß dazu eine himmlische Tugend gehöre! Daß die Glücklichen der Welt ihres Glückes überdrüssig und ihrer Freuden müde werden: man begreift es, man findet es in der Ordnung, denn der Mensch ist nun einmal so geschaffen, um den Wechsel zu lieben und im einerlei – selbst des Glückes – zu erschlaffen. Daß aber Onkel Levin je seiner Opfer, seiner Entsagung, seiner Verdemütigung hätte müde werden können, daran hatte man nie gedacht und daher war ihm auch nie die Anerkennung seiner Vollkommenheit zu Teil geworden. Man brauchte ihn zu Rat und Tat, dann vergaß man ihn, und er war so gleichgültig gegen sich selbst, daß er sich mild alle Vernachlässigung gefallen ließ, um stets, als stiller Schutzengel des Hauses, Gnadenstrahlen auf dasselbe herab zu Ziehen durch das hochheiligste Opfer, durch das unermüdliche Gebet. Mehr und mehr erkannte Uriel, daß die demütige Seele die große Seele ist; denn die Demut macht den Menschen leer von sich selbst und dadurch fähig, die Gnadenkraft, die von Gott kommt, die aufwärts hebt und groß und stark macht – in sich aufzunehmen. Und die Welt hält die christliche Demut für niedrige Gesinnung, seufzte Uriel bei sich selbst; ach, sie ist ja die Grundlage der wahren Größe, der ächten Würde! ach, wie voll muß die Welt von sich selbst und wie leer von Gott sein, um in der Demut Kriecherei und Heuchelei zu sehen! Vielleicht sind wir alle es dem heiligen Greise schuldig, seinem Opferleben, seiner Fürbitte, seinem Beispiel, seinen Lehren, daß wir nicht in die Gemeinheit solcher Gesinnungen und entsprechender Handlungen versunken sind. Und immer klarer sah Uriel ein, daß er sich nicht damit begnügen dürfe, ein solches Beispiel untätig zu bewundern. Immer deutlicher vernahm er eine innere Stimme, die ihm zusprach: Trinke du aus demselben Kelch; dann Haft du dein Genügen. –
Mit tiefer Erschütterung hatte Levin Regina's Zustand erfahren. Mit ihm durfte Uriel ja darüber sprechen; er konnte es aushalten. Dem Vater und der Schwester wollte Regina die herbe Mitteilung ersparen.
»Sieh!« sagte Levin, »das sind so recht die unergründlichen Schickungen Gottes, an denen der Unglaube solchen Anstoß nimmt und worin wir ein Geheimniß voll himmlischer Liebe ahnen. Wodurch belohnt er das freudige Opfer, das Regina ihm bringt? durch ein schauerliches Leiden, durch einen martervollen Kreuzgang, dessen Ende der gewisse und nahe Tod ist. Er konnte sie leben und im Schatten seiner Gnade friedlich blühen lassen, wie eine Blume des Waldes, zu seiner Ehre und anderen zum Trost und zur Erbauung. Statt dessen wendet er ihr das volle Licht, ja die Flammenpfeile seiner Gnade zu – und kränzt sie mit grausamen Dornen. Das ist die ächte Braut Christi.«
»Ja,« sagte Uriel, »den Eindruck hab' ich für's Leben empfangen: denke ich an den gekreuzigten Heiland, blutüberströmt unter seiner Dornenkrone, so trägt er Regina's Züge.«
»Sieh, wie gut Gott auch für Dich ist,« entgegnete Levin zärtlich; »so lieblich zieht er Dich hin zum Kreuz!«
»Ich fühle es,« erwiderte Uriel, »ich weiß es. Der Opferstahl liegt auf dem Altar; es ist das Kreuz. Aber die Natur erschauert bei dem Gedanken, es in solchem Maß umfassen zu müssen.«
»Das Maß wird nicht jedem gleichförmig gemessen, nicht genau die eine Seele wie die andere behandelt. Es gibt Stufen in der Liebe, Stufen in der Prüfung. Wer hat den göttlichen Heiland mehr geliebt als Maria Magdalena! mit welcher übernatürlichen Demut, mit welcher herzzerschmelzenden Selbstverläugnung nahet sie sich ihm bei jenem Gastmahle, wo sie beweist, daß ihr die Welt unter- und der Himmel aufgegangen ist. Und wie behandelt sie der Herr, der gütige, milde, zärtliche Heiland, der für den hochmütigen Pharisäer so liebevoll ist und die größten Sünder so tröstend behandelt? Man sollte meinen, er werde die Magdalena mit der innigsten Liebe empfangen. Aber nein. Er schenkt ihr kein Wort, keinen Blick, keine Beachtung. Auf einen Akt der rührendsten Demut sieht er gar nicht hin, und wie einen wesenlosen Schatten läßt er sie vorüber gleiten. Dies Schweigen, diese abwehrende Nichtachtung hätten nicht alle ertragen. Magdalena aber ertrug es. Dafür steht sie denn unter dem Kreuz mit der Gottesmutter und dem Liebesjünger – und ihr zuerst erscheint der Auferstandene! und sie ruft er bei ihrem Namen! Jede Seele, die sich von der Welt zu Gott, von dem Irrtum zur Wahrheit bekehrt, gleicht der Magdalena, indem sie bis dahin Ungöttliches dem Göttlichen vorgezogen hat. Ach, wir alle gleichen ihr; denn in uns allen ist Anhänglichkeit an unser so sehr ungöttliches Ich – und wir alle müssen deshalb darauf gefaßt sein, so vom Herren empfangen zu werden, wie sie. Allein der Empfang ist dennoch verschieden, weil wir nicht ihre welt- und totverachtende Liebe haben.«
»O, hätte ich sie!« rief Uriel.
»So spricht wohl mancher,« entgegnete Levin lächelnd, »und macht doch nicht seine Anstalten dazu! Die vollkommene Hingebung an den Willen Gottes, ohne Rückblick und Hinterhalt für uns selbst – ist eine Hauptbedingung. Unterwirf Dich ihm bedingungslos; mache Dein Herz zu einem Reich, in welchem er nach seinem Wohlgefallen herrschen soll; und siehe! dann schickt er Dir die Liebe, als die Königin dieses Reiches zu, die wonnestrahlend Dich zur Huldigung ihres Herrn und Herrschers hinzieht. Sie kommt auf zwei Wegen, die Königin Liebe. Im heiligsten Sakramente des Altars sucht sie Deine Seele auf. Im Gebet sucht Deine Seele nach ihr. Das ist eine mystische Ebbe und Flut, sinkend und steigend im Wechsel der innersten Lebensbeziehung auf das ewige Gesetz, daß der Mensch selbsttätig zu seiner Heiligung mitwirken soll. Auf einige verfliegende Wünsche und Seufzer kann die ewige Liebe nicht hören. Sie ist Wahrheit, und darum begehrt sie Wahrheit. Hingebung, Unterwerfung – das ist Wahrheit, denn da hören alle Selbsttäuschungen, alle Gefühlsschwelgereien, alle Phantasiegebilde urplötzlich auf. Das ist der unerbittliche Prüfstein, an dem der Wille als ächtes Gold oder als unedles Metall zum Vorschein kommt. Hingebung und Unterwerfung heiligen die Seele mehr und schneller, als die größten Taten für Gott getan; und haben auch das noch für sich, daß man sie überall üben kann, während die großen Taten Zeit und Ort haben wollen. Fange nur an. Dich zu heiligen, Uriel, und Dich mit und aus allen Kräften Deiner Seele Gott als ein unbedingtes Werkzeug darzubieten, und die himmlische Liebe wird schon kommen und Wohnung bei Dir nehmen.« –
Nicht Uriel's Kämpfe, nicht Regina's Leiden, nicht Corona's Prüfungen waren es, welche Levin's Herz sorgenschwer machten. Diese gehörten ja zu jenen Schäflein der Herde Christi, welche die Stimme des guten Hirten kennen, auf sie hören und ihr folgen wollen; und bei solchen Seelen ist das Amt des stellvertretenden guten Hirten, des Priesters, nicht schwer. Mit einem Wink seines Hirtenstabes, mit einem Zuruf aus seinem Munde sammelt er sie gleich wieder auf den immergrünen Auen und an den silberklaren Wassern des christlichen Lebens, wenn sie zu einer dürren Weide abgeirrt sein sollten; und sein einziger Kummer ist der, daß ihr Fortschritt auf dem Wege der Vollkommenheit noch viel größer sein könnte, als er bereits ist. Wohl ist es ein Kummer, neben der unbegrenzten Gnade Gottes immer die unvollständige Mitwirkung des Menschen, auch des edelsten gewahr zu werden; aber wie anders, wie bitter und nagend ist der Kummer, welchen die Schäflein hervorrufen, die den guten Hirten nicht kennen wollen und sich von ihm abwenden. Da muß er durch Wüsten von Traurigkeit und über Dornen von Ängsten im Gebet den Verirrten nacheilen und nachweinen, nie die Hoffnung auf deren Rettung aufgeben, von keiner Enttäuschung sich entmutigen lassen und ach! oftmals erst dann sie erreichen, wenn sie vom Wolf zerfleischt ihr Leben aushauchen, von Dornen umstrickt sich verbluten oder gar in den Abgrund stürzen, welcher der ewige Tod, der Untergang der Seele heißt.
Je näher sich Levin dem Ende seiner Tage fühlte, um desto sorgenvoller sah er auf die kleine Herde, für welche er in besonders inniger Weise ein guter Hirt hatte sein sollen; und zogen auch die einen mit fliegenden Fahnen zur Eroberung des Himmelreiches aus – und folgten auch die anderen gemäßigteren Schrittes nach: so waren doch Orest und Florentin entflohen der schirmenden Hürde und in eine Wildnis geraten, die ihnen den Untergang nahe legte. Ein Brief von Corona versetzte ihn in den tiefsten Schmerz. Sie teilte ihm den Inhalt ihres letzten Gespräches mit Orest mit. »Die Gefahr ist so groß, so dringend, daß ich die himmlische Hilfe des heiligen Gebetes in Anspruch nehmen muß,« schrieb sie; »wenn das nicht wäre, so würde ich schweigen, wie ich bisher geschwiegen habe, weil ich die Überzeugung hege, daß alles, was man an Orest sagen mag, nur dazu beitragen würde, ihn in seiner jammervollen Verblendung zu bestärken und in seiner verkehrten Liebe zu befestigen. Ich schwieg, so lange diese traurige Sache gleichsam nur die meine war; ich hatte sein Herz verloren: das betraf mich allein. Aber jetzt soll seine Seele verloren gehen durch den Abfall vom Glauben: das ist die Sache Gottes! dagegen trete ich ganz in den Hintergrund, und nicht mehr für mich, sondern für Orest allein ruf' ich um Hilfe. So lange meine Augen offen stehen, habe ich in tiefster Aufrichtigkeit meiner Seele vor Gott auf alles und jedes verzichtet, was Glück, was Freude, was Trost, was Erquickung hienieden ist – wenn nur der gräßliche Abfall verhindert wird. Wir alle müssen uns mit ausgebreiteten Armen zwischen ihn und die Hölle werfen, der er im Wahnwitz der Leidenschaft zutaumelt.« – –
Nachdem Levin diesen Brief gelesen hatte, faltete er die Hände und rief:
»Den Kelch, o Herr, erspare mir!« Aber sogleich setzte er hinzu: »Wenn er Dir, o Herr, erspart sein soll! Wenn nicht – so gib mir die Gnade, ihn in der Vereinigung mit Dir zu leeren, diesen bittersten Myrrhentrank!«
»Ich muß nach Rom!« rief Uriel. »Der Unglückselige soll wenigstens von all den Seinen den Schrei des Entsetzens über sein Beginnen wie aus einem Munde hören. Corona hat Recht: wir müssen uns alle ihm in den Weg werfen. Vielleicht hemmen wir seinen Sturz.«
»Geh, mein Sohn, Gott segne Dich und stehe Dir bei!« rief Levin lebhaft. »Corona schreibt, sie habe die Sache auch an Regina mitgeteilt, um sie zum Gebetseifer zu entflammen. So werden wir beide, sie und ich, denn unablässig unsere Hände zum Gebet erheben, während Ihr in Rom vielleicht die Möglichkeit zu einem kräftigen Handeln findet.«
Mit unsäglich schwerem Herzen entschloß sich Uriel zur Trennung von Levin. Der Greis war ganz allein, denn die Baronin Isabelle war verreist, war soeben an das Sterbebett ihrer teuersten Freundin, der einzigen Schwester ihres verstorbenen Mannes gerufen. Und nun sollte er diese qualvolle Zeit der Spannung, der Erwartung, der Sorge – einsam bleiben, ohne Mitteilung, ohne Zuspruch, auf Briefe beschränkt, deren Nachrichten stets unvollkommen und folglich ungenügend sind!
»Darüber gräme Dich nicht,« entgegnete Levin, als Uriel ihm seine Bekümmernis aussprach. »Es war mir bis jetzt ein großer Trost, Dich bei mir zu haben, allein nun ist es mir ein größerer Trost, Dich zu entbehren – zuerst, weil ich denke, daß Du in Rom mehr nötig bist, als hier; und dann, weil es mir ein Opfer ist, Dich gehen zu sehen. Dem lieben Gott in irgend einer Weise ein Opfer bringen zu dürfen, ist aber immer das glückseligste, was einem Menschen widerfahren kann. Reise getrost, mein Sohn.« –
Uriel war schnell zur Abreise gerüstet und Levin blieb allein auf Windeck zurück. Ein schwererer Schlag als Orest's Abfall hatte ihn nicht treffen können! jeder andere hätte ein Paar Dornen mehr auf den Erdenweg gestreut; aber über sie ging Levin hinweg, als wär' es Blütenschnee, der vor der Frühlingsluft herabrieselt. Dieser Schlag ging über die Erde hinaus. Die namenlosen Schmerzen, die er einst um seine arme Mutter ausgestanden hatte, erneuerten sich auf eine noch unheilvollere Weise, um eine noch drohendere Gefahr. Die Verachtung der Liebe und Gnade Gottes, die vor einem halben Jahrhundert seinen jungen Augen so viel tausend Tränen gekostet hatte, drängte ihm auch jetzt wieder sein Herzblut in bitteren Zähren aus den Augen. Und hätte er noch ein halbes oder ganzes Jahrhundert gelebt, und noch eines, und übermal eines, und so fort bis zum jüngsten Tage: so würde er fort und fort das nämliche Herzeleid zu tragen, denselben Jammer zu beweinen haben: die Beleidigung der ewigen Liebe durch die Sünde des Geschöpfes! Dann gedachte er des furchtbaren mystischen Leidens, welches der göttliche Erlöser am Ölberg ausgestanden, gerade weil er im Geist das grenzenlose Elend überschaute, das er mit seinem heiligen Blute heilen wollte – und das sich dennoch, dennoch! so vielfach gegen die himmlische Arznei sträubt, daß sie ach! nicht für alle ihre Wirkung tun, nicht allen die Genesung der Seele bringen kann. Ja! seufzte Levin aus tiefster Brust, zur vollkommenen Vereinigung mit Gott gehört die willige Annahme dieses Leidens, das über alle menschliche Grenzen von Gram und Kummer hinausreicht! Dann dachte er an Regina, wie sie die Schreckensnachricht aufnehmen – ob sie in ihrer Gelassenheit bleiben werde. Ein großes Verlangen, gemeinsam mit ihr die Mutter Gottes vom Karmel anzurufen, erwachte in Levin. Er hatte nie gewünscht, sie zu sehen; er wußte ja, daß er sicherer und ungestörter am Fuß des Kreuzes – als im Sprachzimmer zu Himmelspforten sie finden könne. Aber jetzt war ihm zu Sinn, als ob die Hand Gottes ihn zu Regina führe. Er fuhr nach Würzburg und ging sogleich zum Kloster, wo er auf seine Frage nach ihr den Bescheid erhielt, sie sei krank und könne nicht im Sprachzimmer erscheinen. Da nannte er sich und ließ die Oberin bitten, ihm nähere Auskunst zu geben. Die Oberin kam eilends und verhehlte ihm nicht, daß Regina sterbend sei. Levin faltete die Hände und sagte sanft:
»Also darum hat Gott mich hergeführt.«
Er begab sich zum Bischof und bat um Erlaubnis, in die Klausur eintreten zu dürfen, um die Sterbegebete über die Tochter seiner Seele zu sprechen. Der fromme Bischof gab die Erlaubnis mit gerührter Teilnahme, daß der Tod an dem fünfundsiebenzigjährigen Greise vorübergehe und die junge Lebensblüte dahinraffe. Als Levin nach Himmelspforten zurückkam, war es schon spät Abends; aber die Tür öffnete sich ihm, wie das die Regel ist, als er des Bischofs schriftliche Erlaubnis vorzeigte. Die Oberin empfing ihn und setzte ihn von Regina's Zustand in Kenntnis, während sie ihn zu der Zelle der Kranken führte. Bis zum Weihnachtsfest hatte sich Regina trotz ihrem Leiden ziemlich wohl befunden und die heilige Christnacht und die Ankunft des göttlichen Kindes in der Krippe mit frohlockender Freude gefeiert. Seitdem aber war es reißend bergab gegangen und das Fieber mit solcher Heftigkeit eingetreten, daß sie seit sechs Wochen weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe hatte und gänzlich davon aufgerieben war. Der Arzt zweifelte, daß sie den Morgen erleben werde. Die Oberin öffnete eine Tür; Levin trat in die armselige Zelle, an deren weiß getünchter, kalter Wand ein Kruzifix zwischen den Bildern der Mutter Gottes von der unbefleckten Empfängnis und der heil. Therese hing. Ein Strohstuhl und ein brauner Tisch, auf dem ihr Brevier und einige Andachtsbücher lagen, bildeten das Mobiliar dieser Zelle, die an Armut, wenn nicht mit dem Stall von Bethlehem, so doch mit der Hütte von Nazareth wetteiferte. Regina lag im Bett; ihr Antlitz, halb verhüllt von Weißen Linnentüchern, war weißer als sie, denn das Fieber hatte ihr Lebensmark verzehrt; die krankhafte Glut war eingesunken; sie verglimmte wie eine Kohle, die sich nach und nach mit Asche bedeckt – mit der Asche, welche der Tod auf sie streute. Zu Häupten des Bettes brannte die Sterbekerze; zwei Karmelitessen knieten daneben und beteten abwechselnd die Gebete der Sterbenden. Als Levin eintrat, hatte Regina ihre Augen geschlossen und ihre langen dunkeln Wimpern warfen einen breiten Schatten auf die geisterbleichen Wangen. Ihre Hände lagen auf der Decke und hielten ein kleines Kruzifix. Aber im Gegensatz zu dieser Ruhe flog ihre Brust krampfhaft und unregelmäßig auf und ab durch die schweren, hastigen Atemzüge. Auf den ersten Blick sah Levin, daß es zu Ende gehe. Mit gebrochener Stimme sagte er:
»Gelobt sei Jesus Christus!«
»In Ewigkeit! in Ewigkeit! .... lieber Onkel Levin«, erwiderte Regina und schlug ihre großen müden Augen mit einem Blick von rührender Freude und Dankbarkeit zu ihm auf.
»Nun bist Du bald am Ziel, geliebtes Kind! die Braut Christi eilt dem himmlischen Bräutigam zu.«
»Möge er mich nur als seine ächte Braut anerkennen und nicht allzu unwürdig finden,« sagte sie. »Ich habe ihm sein gebenedeites Kreuz gar schlecht nachgetragen.«
»Fandest Du es schwer, geliebtes Kind, so denke, daß Dein Erlöser auch seinen Kelch bitter gefunden hat.«
Das äußere Kreuz war nicht das schwerste! das innere war es. Ach, die Desolationen von Gethsemane und die Finsternis von Kalvaria – die wollten mir zuweilen die Seele so überfluten, daß ich vergaß, wie gerade sie die Hauptpunkte sind in der Nachfolge des himmlischen Bräutigams.«
»Umsomehr mußt Du seiner Gnade vertrauen, die so barmherzig für uns arme Sünder ist, wenn wir nur ein wenig guten Willens waren.«
»Ja!« sagte sie, und ein Freudenstrahl trat in ihr Auge, »ich schmücke mich mit dem Purpur und den Rubinen seines heiligsten Blutes. Das wird mir zum Königsmantel und zum Brautgeschmeide.«
»Hast Du je bedauert, der Welt und dem Erdenglück entsagt zu haben?« fragte Levin nach einer Pause.
»Niemals!« entgegnete sie. »Die Gottverlassenheiten waren meine Prüfung.«
»Die gehören gerade zum vollkommenen Opfer. Wer den Gott alles Trostes besitzt, muß dessen Tröstungen entbehren können,« sagte Levin ernst.
»Ach bitte für mich,« sagte sie schmerzlich, »daß der liebe Gott nicht nach seiner Gerechtigkeit mit mir verfahre und mich auf ewig von seinem Angesicht verbanne; in seinem strengen Gericht könnte ich nimmermehr bestehen. Jetzt sehe ich freilich ein, daß meine geringen Leiden ein Maientau für meine elende Seele waren und sie zum Grünen gebracht haben.«
»Im Himmel wird sie aufblühen,« sagte er.
»Wäre nur nicht das lange Purgatorium,« seufzte Regina.
»Gott war immer so gnädig für Dich, daß er Dir vielleicht Deine schwere, lange Krankheit als Purgatorium anrechnet und Dich bald in den Himmel ruft!«
»Ja, wenn Du recht viel für mich betest und mir die Gnadenströme des heiligen Meßopfers zuwendest, und wenn auch hier alle Schwestern für mich beten.«
Die Oberin zerdrückte still ihre Tränen, und die beiden Schwestern weinten bitterlich. Regina fragte, was es an der Zeit sei, und als Levin erwiderte, es gehe auf Mitternacht, sagte sie mitleidig:
»Ach, lieber Onkel Levin, so bricht die Fastenzeit noch einmal für Dich an, während ich mein seliges Genügen finde!«
Es war nämlich die Nacht vor dem Aschermittwoch. Sie atmete immer mühsamer, stoßweise und ächzend; ihre Hände ließen das Kruzifix sinken und machten auf der Decke jene seltsamen Bewegungen des Haschens, die den Sterbenden eigentümlich sind. Die Anwesenden beteten und sie bewegte bisweilen die Lippen, als ob sie ihnen folge. Plötzlich sagte sie:
»Dürfte ich nicht den Leib des Herrn empfangen?«
Die Oberin erwiderte, daß er ihr vor kaum zwei Stunden gespendet sei. Da sagte sie:
»So vergißt man die Zeit, wenn die Ewigkeit naht.«
Auf die Bemerkung der Oberin, daß sie gleich nach der ersten heiligen Messe, die um fünf Uhr gelesen wurde, mit dem Brot der Engel gestärkt werden dürfe, antwortete sie mit einem seligen Lächeln:
»Ach, wenn meine Sünden es nur nicht hindern, so könnte ich Ihn dann vielleicht schon schauen, wie Er ist.«
Sie fiel in die Agonie zurück und verlor die Sprache, aber nicht das Bewußtsein. Schlug sie einmal die Augen auf, so war ihr Blick klar, liebevoll und dankbar auf ihre Umgebung gerichtet; und verstummte einmal deren Gebet vor Wehmut und Herzeleid, so gab sie durch Zeichen zu verstehen, daß man es fortsetzen möge. Eine schmerzenreiche halbe Stunde ging auf diese Weise vorüber. Da Hub Regina zu aller Überraschung mit ganz kräftiger Stimme an:
»Lieber Onkel! jetzt bete die Commendatio anima! die Mutter Gottes holt mich, der Bräutigam kommt.«
Und sanft wendete sie ihr Haupt, machte das heilige Kreuzzeichen, schloß die Augen und entschlief mit immer leiseren Atemzügen wie ein müdes unschuldiges Kind, während ihre Seele zu dem Gott flog, den sie von dem Augenblick an, wo ihr junges Herz zu lieben anfing, mit unerschütterlicher Liebe geliebt hatte. Da lag sie nun tot in der dürftigen Zelle, auf dem armseligen Lager, aufgerieben von entsetzlicher Krankheit, fern von den Nächsten, die keine Ahnung von ihrem Scheiden und Leiden hatten – diese Regina, dies Kind des Gebetes, die bei ihrem Eintritt in die Welt mit einem Jubelruf der Freude von zwei Familien begrüßt, von zwei Müttern als Tochter geliebt und gleichsam in goldener Wiege gewiegt wurde. Da lag sie nun tot zwischen den kahlen Wänden – diese Regina, der alles zu Gebot stand, was man auf Erden Glück nennt, was man begehrt, ersehnt, beneidet – und die alles gelassen beiseite legte, als Dinge, die für den Himmel keinen Wert hatten. Jetzt stand sie auf der Höhe, wo der wahre Standpunkt für die Würdigung des irdischen Glückes ist und wo die vergänglichen Freuden im Licht der Ewigkeit ihre wahre Beleuchtung finden. Jetzt stand sie mit ihrem von jungfräulicher Christusliebe durchflammten Herzen, das von keiner Neigung zu den Staubesgebilden beschwert war, vor dem Thron ihres Gottes, dessen Kelch sie zu ihrem Erbe und Anteil für hienieden gewählt hatte, und Levin, dem all diese Bilder am inneren Auge vorüberzogen, während er die Nacht neben ihrer entseelten Hülle betend durchwachte, konnte nicht anders, als wieder und immer wieder sagen: O Kind, du bist nicht vergeblich der heiligen Gottesmutter, der Himmelskönigin Maria, geweiht worden! Als deine Mutter es tat, hat sie nicht geahnt, daß du bei sechsundzwanzig Jahren als Klosterjungfrau von hinnen scheiden würdest, und alle weltlichen Verhältnisse waren, ja auch dagegen. Aber die Mutter Gottes, die mächtige Königin, rang dich ihnen ab, wählte dein Los, ließ es vor dir aufleuchten, ebnete deinen Weg, zeigte dir dein hohes Ziel, gab dir ein Herz, das der Höhe des Zieles entsprach, und hat dich jetzt geholt zum himmlischen Brautfest. O Kind, geliebtes, warum wein' ich denn! Und langsam schlich Träne um Träne über seine bleichen eingefallenen Wangen – –
Früh um vier Uhr las er für die teuere Abgeschiedene eine Seelenmesse, diesen Balsam für die schmerzlichste Trauer. Nicht bloß den Lebenden gehört der ewigströmende Gnadenbronnen des Blutes Jesu an; nicht bloß für sie öffnet er wieder bei der Feier der heiligsten Geheimnisse seine Wunden, um ihnen alle Gnaden zuzuwenden, welche an seinen Versöhnungstod geknüpft sind. Sein göttliches Blut gehört allen Seelen an und die Abgestorbenen sind ja so recht – Seelen! arme Seelen, die durch dieses Blut reinigende und heiligende Kraft von den Makeln und Flecken befreit werden, welche langsam das Purgatorium tilgt; Makel und Flecken, welche die Seele nicht zur Seligkeit gelangen lassen, denn »nichts Unreines kann in den Himmel eingehen« – heißt es in heiliger Schrift. Nie süß ist also die Hoffnung, wie wahrhaft der Trost, welche die Leidtragenden aus der Darbringung des hochheiligen Meßopfers schöpfen. Ein Tröpflein vom Blut Jesu der geliebten Seele zugewendet, vermag mit seiner unendlichen Kraft sie zu reinigen und sie zur Anschauung des höchsten Gutes zu führen! Levin gewann all' seine Fassung wieder, nachdem er sich in heiliger Kommunion mit Gott vereinigt hatte und ein namenloser Trost überströmte sein Herz bei dem Gedanken, daß Regina vor allem Wechsel und Wandel geborgen, in Sicherheit gebracht und einem Leben entronnen sei, welches dem Menschen nie die Gewißheit gibt, daß sein nächster Schritt ihn nicht bergab führe. Sie lag nun im Sarge, im braunen Habit der Karmelitessen, mit einem Kranz von weißen Rosen über dem schwarzen Schleier – ein unaussprechlich schönes Bild, rührend in seiner Erhabenheit. Der schwarze Schleier, der sie umrahmte, war die Folie des Kranzes, den ihr Haupt wie eine Glorie von leuchtenden Sternen trug. Ein seliger Friede lag aus ihren Zügen, ihr eigentümlich schönes Lächeln war ihnen noch eingeprägt. Sie sah aus, als sei ihre Seele frohlockend von der Erde geschieden.
»Requiescat in pace« sagte Levin, als er zum letzten Mal mit Weihwasser die schöne Hülle segnete. Dann nahm er Abschied von Himmelspforten.
»Der Aschermittwoch,« sprach er scheidend zur Oberin, »hat uns eindringlicher als das Aschenkreuz auf unserer Stirn gepredigt: Memento, homo, quia pulvis es et in pulverem reverteris!« –
Von Windeck aus schrieb er an Graf Damian, daß ein Zehrfieber Regina's Leben ein Ende gemacht und Gott ihn wunderbarer Weise an ihr Sterbebett geführt habe. Ausführlich beschrieb er ihre letzten Stunden, deren Zeuge er gewesen war, und setzte viel Liebliches und Trostreiches hinzu, was ihm die Oberin, der Superior und der Beichtvater aus ihrem Ordensleben erzählt hatten. Wie früher in der Welt, so jetzt im Kloster führte sie ihren Wahlspruch »Solo Dios basta« tatsächlich durch; darum dürfe um ihre frühe Seligkeit kein trostloser Jammer ausbrechen; diese Lilie des Carmels blühe ja ihnen allen zum Troste leuchtend im ewigen Frühling fort.
Er aber sehnte sich nach diesem Frühling! Fünfundsiebzig Jahre, die der übernatürliche Mensch im Kerker des Leibes gelebt hat, sind lang, auch für die demütigste Ergebung. Aber keine Schwäche des Alters, keine Stumpfheit der Sinne, keine Abnahme des Gedächtnisses, kein Versagen der inneren oder äußeren Fähigkeiten stellte sich ein; das Unsterbliche herrschte in ihm vor. –
Ein tosender Schneesturm, wie er zuweilen im Februar, besonders wenn milde Tage vorhergehen, als Mahnung an den Winter ausbricht, umsauste eines Abends Schloß Windeck mit solcher Gewalt, daß die Fenster stoßweise klirrten und die mächtigen Aeste der Linden und Kastanien auf der Terrasse erkrachten. Die Wetterfahne drehte sich angstvoll kreischend über den ungestümen Tanz, den sie mit dem Sturm machen mußte, und Käuzlein und Uhu, verstört in ihrem sonst so behaglichen nächtlichen Treiben, schrieen und seufzten um die Wette und flatterten mit ungeschicktem Flügelschlag verwirrt und betäubt gegen die Fenster, hinter denen Licht schimmerte. Der Aberglaube spricht: Fliegt ein Käuzlein mit seinem scharfen Schrei: komm mit! komm mit! gegen ein Fenster, so muß in dem Hause ein Mensch sterben. Im ganzen Schloß war es still und dunkel, die Mitternacht fesselte alle Bewohner im ersten Schlaf. Nur Levin wachte. Plötzlich schien ihm, daß am Gittertor des Schloßhofes die große Macke heftig gezogen werde. Aber der Sturm war eben in seiner Flut und sauste betäubend. Nach einigen Minuten fiel er; Levin horchte – und hörte genau hastige Glockenzüge. In solcher Nacht! ein Kranker ruft mich! das war sein erster Gedanke. Er zündete Licht an, kleidete sich schnell, wartete nicht, bis der Portier erwache und ihn rufe, warf seinen Mantel um und ging eilig hinab. Als er sein Zimmer verließ, flog ein geblendetes Käuzlein gegen sein helles Fenster und schrie: komm mit! komm mit!
Unwillkürlich dachte Levin an den Volksabergsauben, aber nicht für sich besorgt, sondern für den Kranken. Vielleicht stirbt ein Mensch, ehe du zu ihm gelangst! seufzte er. Inzwischen kam ihm unten der Portier verstört entgegen mit der Meldung, des Wendels ältester Sohn sei draußen und jammere nach dem hochwürdigen Herrn, denn der Wendel selbst liege in den letzten Zügen, sei aber vollkommen klar im Kopf und begehre ihn zu sprechen.
»O du grundgütiger Gott! du läßt den Armen nicht in seinen Sünden dahinfahren!« rief Levin.
»Befehlen der hochwürdige Herr, daß die kleine Kalesche angespannt werde?«
»Ja, sie kann mich abholen,« sagte er, eilte in die Kapelle, versah sich mit dem heiligen Öl und mit dem heiligen Altarssakrament, ging dann nach dem Portierstübchen, wo der junge Mensch mit einer großen Laterne wartend und beängstigt saß, und rief ihm zu:
»Komm jetzt! laß uns eilen.«
Da stürzte sein Kammerdiener ihm entgegen und bat:
»O nur ein wenig Geduld, gnädiger Herr! die Pferde werden schon angeschirrt ....« –
»Keine Sekunde!« unterbrach ihn Levin; »es stirbt ein Mensch!« –
Und mit Jugendkraft eilte er durch die Nacht von dannen, nicht achtend den wütenden Sturm und das tolle Schneetreiben.
Wendel hatte seit vier Jahren in dem stillen Blödsinn gelebt, in den die Schreckensnachricht von dem gräßlichen Selbstmord seiner Tochter ihn versetzte. In der letzten Zeit war ein körperlicher Marasmus eingetreten, der sein Ende herbeiführen mußte. Sein Geist aber blieb in der Stumpfheit. Noch vor einigen Tagen, gleich nach seiner Rückkehr aus Würzburg, hatte Levin ihn besucht, ihm und der braven Bäuerin, seiner Schwester, Reginas Abscheiden mitgeteilt. Während die gute Frau in Tränen zerstoß, wiederholte Wendel nur seinen alten Spruch: Gottes Mühlen mahlen langsam. Umso überraschender war es, daß die Krankheit jetzt eine Wendung und einen akuten Charakter nahm, der Geist aber, gleichsam aufgestachelt durch die nahe Gefahr, aus seiner Stumpfheit plötzlich erwachte und sich nach einer Vorbereitung auf den Eintritt in die Ewigkeit sehnte.
Bis zur Ohnmacht erschöpft und von heftigen Stichen in die Brust gepeinigt, kam Levin im Bauernhof an. Er hatte den ganzen Weg fast im Lauf zurückgelegt, obgleich er Sturm und Schnee gegen sich hatte und der Schnee fußhoch auf dem Wege lag. Der Gedanke: es stirbt ein Mensch! es verlangt eine Seele nach Versöhnung und Vereinigung mit ihrem Gott, ohne die kein ewiges Leben ihrer harrt – gab ihm Flügel, die Flügel der heiligen Liebe, welche der heilige Glaube in Schwung setzt. Wie ein Bote des Himmels wurde Levin auf dem Bauernhofe empfangen. Er war es ja auch! er kam ja mit der himmlischen Arznei und der himmlischen Speise. Während man ihn bei dem Kranken allein ließ, der mit einem von Reue zermalmten Herzen alle Sünden seines Lebens an sich vorüberziehen ließ, um sich ihrer anzuklagen, weckte die Bäuerin alle im Hause und hieß sie sich festtäglich kleiden und sich bereit halten, der heiligsten Feier beizuwohnen, welche Gott den Herrn unter ihr Dach bringe. Knecht und Magd, ja ihr kleines Enkelchen, ein dreijähriges Kind, mußten aus dem Bett und in andächtiger Sammlung sich freuen der Ehre und des Heiles, die in dieser Nacht ihrem Hause widerfuhren.
»Das Kind versteht's noch nicht!« sagte die Schwiegertochter, aus Besorgnis, daß die Kleine eine Störung machen könne.
»Tut nichts!« entgegnete die Bäuerin; »der liebe Gott hat die Kindlein gern gehabt und die Unmündigen gesegnet. Er soll auch unser Kind segnen.«
Dann bereitete sie einen kleinen Tisch, umhing und bedeckte ihn altarmäßig mit seinen weißen Linnentüchern, stellte ein Kruzifix darauf, das sie als ein uraltes Erbstück in ihrer Familie ganz besonders in Ehren hielt, daneben zwei Wachskerzen, die sie just auf Maria Lichtmeß hatte weihen lassen, endlich ein kleines Weihwasserbrünnlein mit dem Zweige von Buxbaum, und harrte dann, still ihren Rosenkranz betend, bis Levin sie ins Kämmerlein rufen werde.
Der arme Wendel hatte einen schweren Kampf zu bestehen! er konnte sich nicht entschließen, dem unglücklichen Florentin seine Missetat zu vergeben. Es schien ihm, er sei ein Rabenvater, wenn er den Mann nicht hasse, der sein Kind für Zeit und Ewigkeit elend gemacht habe, Levin widerholte ihm umsonst, daß die Rose ja freiwillig ihm Gehör gegeben und in des Satans Fallstricke eingegangen sei. Da wollte er denn einen Teil ihrer Schuld auf sich nehmen, auf sein schlechtes Beispiel, seinen ungläubigen Wandel; aber den anderen sollte Florentin tragen und dafür wollte er ihn hassen, so lange, wie die unglückliche Rose von der Seligkeit des Himmels ausgeschlossen sei: also vermutlich auf ewig. Endlich sagte Levin:
»Aber Wendel, Ihr betet ja im heiligen Vaterunser, das der liebe Heiland selbst uns gelehrt hat: Vergib uns unsere Schuld, so wie wir vergeben unseren Schuldigern. Da hört Ihr ja die Bedingung, die ganz ausdrückliche, unter der Ihr Vergebung findet. Ihr müßt also auf Gottes Barmherzigkeit verzichten und ihn, den mildesten Herrn, zu Eurem Feinde machen, wenn Ihr in Feindschaft mit irgend einem Menschen verbleiben wollt.«
»Ich will es nicht, hochwürdiger Herr,« seufzte Wendel; »aber es macht sich von selbst so! ich kann nicht anders.«
»O bedenkt doch Wendel, daß die arme Rose nicht bloß Euer Kind, sondern auch ein Kind Gottes war; daß der himmlische Vater sie viel mehr geliebt hat, als Ihr sie je lieben konntet; daß Er nicht damit zufrieden war, wie Ihr sein Kind erzogt und was Ihr aus seinem Kinde machtet; und obwohl Ihr sein göttliches Vaterherz noch tiefer betrübt und noch größere Schmach ihm angetan habt, als der Florentin Euch, so will Er Euch dennoch vergeben, wenn Ihr auch die Beleidigung von ganzem Herzen verzeihet.«
»Sei es drum, hochwürdiger Herr,« sagte Wendel nach einer Pause, in welcher er leiblich und geistig schwer rang nach Atem und Selbstüberwindung; hab' ich dem lieben Gott wegen der Rose so bitteres Herzeleid zugefügt, wie der Florentin mir, und verzeiht er mir dennoch: so ist es recht und billig, daß ich keinen Haß gegen den Florentin trage, und so will ich denn recht aufrichtig beten: vergib uns unsere Schuld, so wie wir vergeben unseren Schuldigern. Ist nun alles in der Ordnung, hochwürdiger Herr?«
»Alles, guter Wendel,« sagte Levin gerührt; »und nun folgt auf Eure Demütigung die Gnade und auf Euer Opfer der Trost.«
Und er öffnete die Türe nach der großen Familienstube, wo alle Bewohner des Bauernhofes still beisammen saßen. Die Bäuerin hatte den Altartisch so gestellt, daß Wendel von seinem Bett aus ihn sehen konnte; sie zündete die Kerzen an, Levin begann die Gebete, alle knieten nieder und er gab ihnen den Segen mit dem Sanktissimum. Wendel hatte sich von seinem ältesten Sohn etwas aufrichten lassen und saß, mit dem Kopf an dessen Brust gelehnt und von dessen Armen unterstützt, auf seinem Lager, unverwandten Blickes allen Bewegungen Levins folgend. Als dieser mit der heiligen Hostie die Schwelle des Kämmerleins betrat, nahm Wendel alle seine Kraft zusammen, faltete seine matten Hände und sagte mit dem Ausdruck demütigster Freude:
»Mein lieber Herr Jesus, kommst Du wirklich zu mir armen Sünder!«
Nach dem Empfang der heiligen Wegzehrung schloß er die Augen und streckte sich ruhig aus zum Sterben.
»Bleib Du in ihm, auf daß er in Dir bleibe,« betete Levin und spendete ihm, da Wendel durchaus bei Besinnung war, die letzte Ölung, die den Leib des Staubes für den Todeskampf stärkt und ihm die Weihe bringt für die dereinstige glorreiche Auferstehung. Vom ersten Atemzug ihrer Kinder bis zum letzten sorgt die übernatürliche Mutter, die Kirche, für deren übernatürliches Leben; und mit der äußersten Kraftanstrengung bemeisterte Levin seine steigende Schwäche, damit kein Atom der Gnade, welche an die heiligen Sakramente geknüpft ist, durch seine Schuld dem Sterbenden verloren gehe. Als alles beendet war, fiel Wendel in seine frühere Bewußtlosigkeit zurück und die Seinen priesen den barmherzigen Gott, der ihm die paar leichten Stunden geschenkt hatte. Jetzt erst kam Levins Wagen und der Kammerdiener erzählte, sie kämen so spät, weil dies die zweite Ausfahrt sei. Bei der ersten gerieten sie vom Wege ab in einen überschneiten Graben; der Wagen fiel und es brach ein Rad.
»Wie gut und notwendig war es, daß ich mich zu Fuß aufmachte!« antwortete Levin. »Ich wäre untröstlich, wenn durch meine Zögerung der arme Wendel nicht mehr die heiligen Sterbsakramente empfangen hätte.«
Er nahm die Stola ab, das Zeichen des Priesteramtes, welches er übt, indem er dies Symbol des Joches Christi auf seinen Nacken legt; und gleichsam als überließe der übernatürliche Mensch jetzt den natürlichen seiner Hinfälligkeit, sank Levin in die Arme seines Dieners, während sich die Schmerzen seiner Brust in einem Strom von Blut Luft machten. Alle gerieten in die furchtbarste Bestürzung; niemand wußte, was gegen einen solchen Anfall zu tun, wie dessen Wiederkehr zu verhüten sei. Levin fühlte sich totesmatt; aber im Bauernhof war er ja den guten Leuten zur höchsten Last. Er ließ sich also zum Wagen tragen, der ihn ganz langsam, um jede Erschütterung zu vermeiden, nach Windeck zurück fuhr. Zwar hatte ihn die Bäuerin in warme Decken eingehüllt, aber mit jedem Atemzuge in der kalten Luft sog seine wunde Brust den Tod ein, und als er anlangte, war er ein Sterbender, der nur noch mit ganz leisem Flüstern den Pater Guardian von Englberg begehrte. Die trostlose Dienerschaft schickte auch zum Arzt und die Haushälterin und sein Kammerdiener wollten ihm einstweilen durch Hausmittel einige Linderung verschaffen. Doch er bewegte sanft verneinend die Hand und sagte nur: »Pater Guardian!« Der war schnell zur Stelle und ein freudiger Blick empfing ihn, als er an Levins Bett trat. Dieser hatte soeben einen zweiten und noch heftigeren Blutsturz gehabt und war der Sprache fast nicht mehr mächtig; darum sagte der Pater, er müsse sich zuvor erholen und nicht jetzt beichten. Aber Levin erwiderte:
»Ich habe keine Zeit zu verlieren!« und obgleich er mit der größten Anstrengung sprach, und der Pater sich tief zu ihm herabneigen mußte, um die flüsternde Bewegung seiner Lippen zu verstehen, so ging er doch mit ruhiger Sammlung alles in seinem Leben durch, was ihm als Beleidigung Gottes erschien. Das war ihm in diesem Augenblick der Schwäche und Erschöpfung nur deshalb möglich, weil er sich seine Sünden immer vor Augen hielt, immer von neuem bereit war, sich vor Gott anzuklagen und Buße zu tun. Vor wenigen Stunden hatte er die heilige Wegzehrung gespendet; jetzt empfing er sie. Sein Auge hatte dabei einen Glanz, als spiegelte sich schon die Glorie des ewigen Lichtes darin ab. Was er für Wendel gebetet hatte, betete er jetzt für sich selbst:
»Bleib Du in mir, auf daß ich in Dir bleibe.«
Das ist das ganze Geheimnis des christlichen Lebens, der Inbegriff seiner Vollkommenheit hienieden, seiner Verherrlichung im Jenseits. Das innere Leben des Christen ist – das Leben Jesu in ihm, und diese ebenso wahrhafte als geheimnisvolle Verbindung beruht auf dem würdigen Empfang des wahren Leibes und Blutes des Herrn in heiliger Kommunion. Diese Verbindung gibt sich kund nicht durch äußerliche Glanz- und Großtaten, sondern durch eine wundervolle Schönheit der Seele, die sich in tausend Tugendstrahlen entfaltet. Diese Tugenden sind Gnadenblumen, gehen nur aus der Vereinigung der menschlichen Natur mit der göttlichen Natur, deren Träger und Mittler Christus ist – hervor, schöpfen durch ihn ihre Lebenskraft aus dem Wesen Gottes selbst und wenn der Tod den Leib von Staub zum Staube legt, schlagen sie ihre volle Schönheit erst recht in der Seele auf, und was die Gnade gewirkt hat, entfaltet die Glorie.
»Bleib Du in mir, auf daß ich in Dir bleibe,« sprach Levin.
»Wie ist Ihnen denn zu Mut, hochwürdiger Herr?« fragte der Pater Guardian, der keinen Augenblick den gottseligen Greis verlassen wollte.
»Ich hoffe die Güter des Herrn zu schauen im Lande der Lebendigen,« antwortete Levin mit dem Psalmenverse aus dem Officium für die Abgestorbenen.
»Das glaub' ich,« erwiderte gerührt der Pater. Er ließ noch zwei Kapuziner aus Englberg holen, um mit ihnen im Gebet abzuwechseln für den Fall, daß die Agonie lang sein werde.
Auch der Arzt kam und verordnete dies und das, wie jemand, der da weiß, daß die Verordnungen vergeblich sind. Auf seine Frage an den Kranken, ob er sehr leide, da seine Brustbeklemmung auf große Qual schließen lasse, erwiderte Levin abermals mit einem Psalmenverse nus dem Totenofficium:
»Der Herr regiert mich, nichts mangelt mir. Auf einem Weideplatz am Wasser der Erquickung hat er mich gelagert.«
Er sprach nichts Irdisches mehr. Fragte man ihn, so gab er Antwort aus den heiligen Schriften. Da der Guardian sah, daß er seine Seele ganz in das erhabene Totenofficium versenkt hatte, so begann er es mit den beiden Patres zu beten, als diese aus Engelberg sich einstellten. Das machte dem Kranken eine unsägliche Freude. Manches, was ihm besonders lieb war, oder was besonders auf ihn Patzte, betete er mit.
»Um eines hab' ich gebeten den Herrn; daß ich weile im Hause des Herrn alle Tage meines Lebens.« –
»Mein Herz hat zu Dir gesagt: Es suchet Dich mein Angesicht.« – –
»Mein Vater und meine Mutter haben mich verlassen, der Herr aber nimmt mich auf.« – –
»Er zog mich aus der Grube des Elendes und er stellte auf einen Felsen meine Füße.« – –
Aber nur an der Bewegung seiner Lippen merkte man, daß er mitbete, denn sprechen konnte er zuletzt nicht mehr, so qualvoll arbeitete seine Brust. Das währte so lange, bis der Tag sich neigte. Da wurde er still und immer stiller, und als eben der Pater Guardian in der siebenten Lektion an die Worte kam: »Nach der Finsternis hoffe ich auf Licht« – machte plötzlich ein Lungenschlag sanft seinem Leben ein Ende, so sanft, daß niemand den Augenblick seines Abscheidend bemerkte. Sein ganzes Leben war ein friedliches Hinüberwallen aus der Unruhe der Zeit in den Frieden der Ewigkeit gewesen, und so war auch sein Tod. Und wie er einsam unter den Menschen gestanden und nur am Herzen Gottes Zuflucht und Trost gefunden hatte, so starb er auch einsam, ohne Freunde, ohne Verwandte, und nur die frommen Männer waren bei ihm, die sich, wie er, arm im Geist und arm im Herzen gemacht hatten, um reich in Gott zu sein. Eine hehre Stille erfüllte das Sterbezimmer und das ganze Schloß. Die Nachricht von seiner gefährlichen Erkrankung hatte sich blitzschnell in der ganzen Gegend verbreitet, und es kamen Leute stundenweit herbeigeeilt, um zu hören, wie es mit ihm stehe. Die meisten hatten sich in die Kapelle begeben und beteten; andere saßen unten in der großen Halle und in den Zimmern der Dienerschaft und harrten. Niemand konnte sich entschließen, fortzugehen. Da kam der Pater Guardian ernst von der Treppe herab und sagte zu den Leuten gewendet, die in der Halle versammelt waren, mit feierlichem Ton:
»Herr, gib ihm die ewige Ruhe.«
»Und das ewige Licht leuchte ihm« – sprachen alle aus einem Munde und fielen auf die Knie.
»Er ruhe im Frieden, Amen,« sagte der Pater.
Nun wußte man, daß er am Ziele sei! In alle Augen traten stille Tränen, auf alle Lippen stille Gebete, in alle Herzen stille Wehmut! man gönnte ihm die selige Ruhe.
»Er ist sicher vom Munde auf in den Himmel gegangen,« sagte der Haushofmeister, der fast ebenso alt wie Levin, und aus den Zeiten von dessen Eltern war.
»Kann irgend eine Seele ohne Fegfeuer durchkommen, so ist das gewiß die seine!« rief die Haushälterin.
Einer von Wendels Söhnen war von der Bäuerin ins Schloß geschickt, um Kunde über Levin zu holen, und um anzuzeigen, daß Wendel in seinem bewußtlosen Zustande ruhig verschieden sei. Der arme Bube wurde nicht freundlich von der Dienerschaft empfangen. Der Portier sagte mürrisch:
»Dein Vater hat den Tod des hochwürdigen Herrn auf seinem Gewissen.«
»Ja!« rief der Kutscher in stiller Wut über seinen Unfall, umgeworfen zu haben, was ihm noch nie auf Windeck geschehen war. »Ein Unwetter, wo man keinen Hund vor die Türe jagen mag, eine pechrabenschwarze Nacht, in der keine Eule Hand vor Augen sehen kann, da den hochwürdigen Herrn aus dem Bette zu holen: das nenn' ich unverschämt.«
»Der Vater jammerte nach ihm,« sagte der arme Bursche niedergeschlagen.
»Und wärs noch ein anderer gewesen!« rief der Portier; »aber gerade der Simpel und Taugenichts Wendel!«
»Für den mußte sich der hochwürdige Herr den Tod holen!« setzte der Kutscher ergrimmt hinzu.
Der Bursche hub laut und kläglich zu weinen an.
»Zank im Trauerhause!« sagte die kräftige Stimme des Pater Guardian, der jede Veranlassung benutzte, um den Leuten ins Gewissen zu reden, und jetzt mit ernster Miene in das Portierstübchen trat. »Was heulst Du denn wie ein altes Weib?«
»Sie sagen, mein Vater wär' ein Taugenichts gewesen und nicht wert, vom hochwürdigen Herrn versehen zu werden, und gleichsam sein Mörder,« erwiderte der Bursche schluchzend.
»Was schwatzt Ihr da für Unsinn, Ihr Taugenichtse!« sagte der Guardian in der Redeweise, die ihn bei den Leuten äußerst beliebt machte, und drohte mit seinem langen hageren Finger dem Kutscher und dem Portier dicht vor den Augen. »Für wen ist der Herr Jesus vom Himmel gekommen? Gerade für die Taugenichtse – Euch, mich, uns alle inbegriffen, denn wir alle taugen nichts vor Gott. Für wen hat er sein bitteres Leiden und Sterben geduldet? für die Taugenichtse! Für wen sein heiligstes Blut vergossen und die heiligen Sakramente eingesetzt? für die Taugenichtse! Für wen den Priesterstand geordnet und gesendet? für die Taugenichtse! Er will sie ja alle selig machen, alle im Himmel haben. Nun, das seht Ihr doch ein: hat Christus der Herr bereitwillig für die verkommenste Seele sterben wollen, so muß der gute Priester auch dazu bereit sein. Einen besseren Priester als unseren lieben hochwürdigen Herrn hat unser Herrgott selten gehabt. Der hatte so ganz den hochgeborenen Grafen ausgezogen, um ein Diener der Seelen zu werden, wie nicht jeder von uns den alten Adam auszieht. Der war immer bereit, dem Herrn Christus nachzufolgen, und die Fußwaschung, welche dieser an seinen Aposteln übte, geistiger Weise an allen armen Sündern zu vollziehen. Ihm war Seele – Seele! Punktum. Ihr meint, wenn ein Kaiser da im Bauerhof gelegen hätte – oder zum mindesten ein König: dann wär's der Mühe wert gewesen in tiefer Mitternacht durch Sturm und Schnee hinaus zu traben und sich den bitteren Tod zu holen. Allein der Sohn Gottes war nicht Euerer Meinung, und sein frommer Priester, der liebe hochwürdige Herr auch nicht. O, Ihr Leute! seht doch ein, wie schön das ist und welchen Edelstein in seiner Krone das gibt: er hat nicht bloß für einen gewöhnlichen armen Sünder, sondern so recht, wie der liebe Heiland, sein Blut für einen Menschen hingeströmt, der ihn einst um's Leben zu bringen versuchte. Seht! solche Dinge zu üben, das bietet der liebe Gott denen an, die sich heiligen wollen, und wenn sie dieselben annehmen, so heiligen sie sich. Übrigens, Ihr Taugenichtse, ob Ihr dermaleinst so bußfertig in Euerem letzten Stündlein sein werdet, wie ich höre, daß der arme Wendel gewesen ist, das wollen wir seiner Zeit erst erleben.«
»Ich hoffe, der hochwürdige Herr Pater werden das nicht gerade bei mir erleben,« sagte der Kutscher ehrlich, im Hinblick auf seine dreißig, und auf die sechszig Jahre des Guardians.
»Ah, ich verstehe schon!« rief der Pater, und sah ihn freundlich mit seinen guten klugen Augen an. »Ich soll Euere bußfertige Gesinnung früher kennen lernen! Recht so! das ist brav! dazu haben, wir die gnadenreiche heilige Fastenzeit. Sonntag Invocavit liegt hinter uns; habt Ihr vergessen, Gott den Herrn anzurufen – nun wohlan! Sonntag Reminiscere ist vor der Tür! da seid eingedenk, daß nolens volens Euer letztes Stündlein über Euch kommt, mög' es auch noch hundert Jahre währen, und daß mit jedem Jahr Euere Rechnung im himmlischen Schuldbuch größer wird. Du aber, mein Wendelbub', laß das Heulen und schreib' Dir's hinter die Ohren, was Du eben gelernt hast: lebe so fromm und rechtschaffen, daß niemand Dir bei Deinem Absterben mit Wahrheit nachsagen dürfe, Du seiest ein Taugenichts gewesen.«
Ein Postillonshorn unterbrach schmetternd den Guardian; ein Wagen rollte in den Schloßhof. Die Baronin Isabelle war es. Sie kam, um mit Levin Regina's Tod zu beweinen. Sie weinte jetzt neben seiner entseelten Hülle.
»Mir ist, als wären zwei gute Sterne für Windeck untergegangen,« sagte sie in Tränen zum Pater Guardian.
»Ja,« sagte er, »aber um im Himmel schöner aufzugehen.«