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Am anderen Morgen befahl Judith, daß ihre Tür bis zum Abend für jedermann verschlossen bleibe. Sie wollte mit Lelio sprechen, den Grund seiner befremdend langen Abwesenheit erfahren und ihm sein Benehmen des vorigen Abends verweisen. Lelio erschien auf ihr Begehren – ein kleiner schwarzer lebhafter Italiener, mit feurigen römischen Augen und mit der vollkommensten italienischen desinvoltura – ein Wort, welches in deutscher Sprache nicht wiederzugeben ist, wahrscheinlich deshalb, weil der Deutsche die Sache selbst nicht hat. Man könnte etwa sagen: zwangloses Benehmen – vorausgesetzt, daß sich keine brutale, bengelhafte Schattierung in diese Zwanglosigkeit mische.
»Nun, Signor Lelio, sind Sie von den Toten auferstanden!« rief ihm Judith entgegen und reichte ihm freundlich die Hand zum Willkommen.
»Ecco, das ist's! just was Sie sagen!« rief Lelio vergnügt und schüttelte ihre Hand.
»Waren Sie wirklich lebensgefährlich krank?«
»Oh!« sagte Lelio mit einem Ausdruck, als fände er keine Worte für seine Gefahr und mit einer Geberde namenlosen Entsetzens.
»Ich bitte, Lelio, erzählen Sie mir Ihre Reiseabenteuer nicht bloß durch Seufzer und Geberden, sondern recht ausführlich. Sie wissen ja, wie viel Anteil ich an Ihnen nehme.«
»Ich weiß es, Signora, und ich will Ihnen gern alles erzählen. Nur fürchte ich zwei Dinge.«
»Und die wären?«
»Erstens: von meiner Seite, Mangel an Worten; – zweitens: von Ihrer Seite, Mangel an Verständnis.«
»Das ist freilich übel,« entgegnete Judith lächelnd, »denn damit fehlt auf beiden Seiten die Hauptsache! aber fangen Sie nur an! wir wollen uns Mühe geben.«
»O Judith, teure Signora! denken Sie an Petrarca, der einst klagte: »Non ti conosco il mondo, mentre ti ha!« und doch nur von der Laura, von einem sterblichen Weibe sprach!«
»Aber, guter Lelio, es wird Ihnen doch nicht eine Unsterbliche begegnet sein?«
»O Judith, das Göttliche ist in der Welt und die Welt kennt es nicht und verachtet es und geht vorüber zu ihren Festen, die nach Moder duften; zu ihren Freuden, die nach Moder schmecken; zu ihren Klügeleien, die um Moder sich bewegen; zu ihren Bestrebungen, die in Moder untergehen.«
»Sehen Sie, Lelio, das verstehe ich sehr gut!« warf Judith mit einem schwermütigen Lächeln ein und legte sinnend ihre Stirn in die aufgestützte Hand.
»Es mögen wohl schon sechs Wochen sein,« fuhr Lelio fort, »denn wir waren noch in Venedig und Sie hatten noch eine Reihe von Vorstellungen in der Fenice zu geben – da bat ich Sie um einen Monat Urlaub. Ich wollte in der Schweiz eine Zusammenkunft mit politischen Gesinnungsgenossen haben und dann nach Regensburg gehen, um den Gregorianischen Kirchengesang in Deutschland kennen zu lernen, der am dortigen Dom am tüchtigsten ausgeführt werden soll. Ich reiste ab. Ich fand meine Freunde in Genf ganz in unserer Art und Weise beschäftigt, Systeme zu ersinnen, Theorien zu verbreiten, Verbindungen zu schließen, Faden anzuknüpfen, Lehren zu predigen. Taten auszuführen, Adepten zu gewinnen – alles zu dem einen Zweck: die bestehende gesellschaftliche Ordnung von ihrer Basis und aus ihren Fugen zu drängen, um dann, in einem günstigen Augenblick, durch den heftigen Stoß einer Revolutions-Bewegung das wankende Gebäude über den Haufen zu werfen und darauf den Neubau der gesellschaftlichen Ordnung nach dem Programm: Völkerfreiheit! Geistesfreiheit! auszuführen. Hierin stimmen alle Männer der Zukunft überein. Dies ist Plan und Ziel aller geheimen Bünde, mögen sie Carbonari, Illuminaten, Freimaurer, Italianissimi oder sonst wie heißen. Was nun jeder einzelne unter Völker-, Geister-, Gewissens- und sonstiger Freiheit versteht, wie weit er sie verallgemeinert, wie groß er ihr den Spielraum läßt – das ist seine Sache und hängt mit seiner Persönlichkeit und seiner Spezialität zusammen und man gönnt es ihm, insofern das bundesgemeinsame Wirken nicht dadurch beeinträchtigt und gehemmt wird. Wir Italianissimi wollen die Zeiten der alten Roma wieder haben – die Zeiten der Republik, mit ihren Volkstribunen, ihren Großtaten und ihrer Besiegung aller Karthaginensischen Nebenbuhler um die Weltherrschaft.«
»Ich weiß es,« unterbrach ihn Judith; »Sie haben sich oft mit höchster Begeisterung über diese Gestaltung der Zukunft gegen mich ausgesprochen, und da ich nun einmal glaube, daß jeder Mensch seine fixe Idee, seine Chimäre, seine Marotte hat: so hab' ich mich über die Ihre nicht weiter gewundert. Ginge ich aber nicht von einer allgemeinen, einer Ur-Marotte aus, so würde ich Sie für verrückt halten müssen, denn kein vernünftiger Mensch unternimmt es in Wirklichkeit, die Weltgeschichte um zwei bis drei Jahrtausende zurück zu schleudern. Ich bitte Sie, was fangen Leute unseres Schlages in Ihrer altrömischen Republik an! Wir müssen uns für die Göttin Roma schlachten lassen, sonst kommen wir um vor Hunger und Beides wäre nicht nach meinem Geschmack.«
»Ich weiß nicht,« fuhr Lelio lächelnd fort, »soll ich es dem ernüchternden Einfluß Ihres Umganges, Signora, oder irgend einem feindlichen Gestirn zuschreiben, genug, ich fand im Kreise meiner Freunde und Bundesbrüder nicht die Begeisterung früherer Tage. Manche Ansicht kam mir hohl vor, mancher Weg schief, manche Theorie unhaltbar, mancher Plan unausführbar. Disharmonien innerer Widersprüche gellten mir in die Ohren, und Dissonanzen mit Wahrheit und Recht wollten sich durchaus nicht lösen lassen. Ich fühlte mich etwas verstimmt, etwas ernüchtert, etwas abgekühlt – und um wieder in meinen Freiheitsschwung zu kommen, beschloß ich, von dem hyperkultivierten Leman, wo nichts mich an die altrömische Republik erinnerte, an den Vierwaldstättersee zu gehen. Ich tat es! aber! aber! – auch die kleinen Kantons, die Urschweiz, die Wiege der schweizerischen Freiheit – sie wollten mir nicht gefallen. Diese Löwenkühnheit in der Verteidigung ihrer politischen Unabhängigkeit gegen fremde Herrschaft, von den Tagen ihres ersten Bündnisses bis zu den Tagen der französischen Republik – als die Weiber von Schwyz die Kanonen herbeizogen, um die Männer im Kampfe gegen die Franzosen zu unterstützen; und dagegen diese hündische Treue, einem Ludwig XVI. den Fahneneid zu halten, auf der Seite eines Königs wider ein Volk zu stehen. . . .« –
»Lelio!« fuhr Judith heftig auf, »fühlen Sie nicht, daß Sie sich ein Brandmal auf Stirn und Herz durch Verachtung des Fahneneides drücken?«
»Ich fühlte es nicht!« erwiderte er gelassen und fuhr fort: »Und dagegen diese mehr als hündische Unterwürfigkeit vor einer Religion, welche die heftigste Gegnerin aller Freiheit ist und von ihrem ersten Anbeginn das edelste und beste, was der Mensch hat: die Freiheit seines Willens – nicht sowohl in Ketten, als in Windeln legte: ich konnte einen so schreienden Widerspruch nicht begreifen und kaum ertragen. Als ich vom Rigi herabsteigend das grüne Alpenland des Kantons Schwyz durchwanderte, fand ich nach und nach eine Menge von Reisegefährten, Männer und Weiber, die mit einem Bündel auf dem Rücken, mit bestaubten Schuhen, manche mit der Perlenschnur des Rosenkranzes in der Hand, andere auf einen Stab sich stützend, des Weges zogen. Einige gingen in größeren Scharen, einige in kleinen Häuflein, bekümmerten sich weder um die Gegend, noch um Reisebegebenheiten, beteten Litaneien und Rosenkranz und knieten oftmals vor den Kruzifixen nieder, welche dort so häufig sind, daß sie naturwüchsig zu sein scheinen. Fragte ich den einen oder anderen: »Wohin des Weges?« – so antwortete jeder:
»Nach Einsiedeln, zur Engelweihe.« – Ha! dacht' ich, das kommt dir gerade recht! da gehst du auch hin und schaust dir einen Auszug der Farce mit an, welche von der katholischen Kirche zum besten der leichtgläubigen Menschheit aufgeführt wird. Ich ging noch über ein Paar Berge und durch eine Strecke grünen stillen Hirtenlandes – dann durch einen großen Flecken, dessen Häuser von außen förmlich mit Wirtshausschildern tapeziert sind – und war in Einsiedeln. Im Hintergrund des weiten Tales, gelehnt an einen mächtigen, mit Schwarzwald bedeckten Bergrücken, erhebt sich das großartige, majestätische Kloster, das mit seiner von zwei Türmen überragten Kirche zwischen zwei langen Seitenflügeln ein stattliches Gebäude im Stil des vorigen Jahrhunderts bildet und von den Häusern des Fleckens durch einen großen freien Platz abgesondert ist. In der Mitte desselben steht eine Muttergottesstatue auf einem Springbrunnen, der beständig in zwölf Strahlen Wasser speit und rings herum liegen kleine unansehnliche Boutiken, in denen Kruzifixe, Medaillen, Rosenkränze, Heiligenbildchen und dergleichen Gegenstände, welche die Andacht liebt, feilgehalten werden. Verstehen Sie mich, Signora?« fragte Lelio, plötzlich abbrechend.
Halb mit leisem Lächeln, halb mit leichtem Achselzucken neigte Judith bejahend ihr schönes Haupt – und Lelio fuhr fort: doch mit so verändertem ernsten Ausdruck, daß auch sie unwillkürlich ganz ernst wurde.
»Vor dreizehnhundert Jahren lebte ein Jüngling, der hieß Benedikt, und der wurde von einer ganz wundersamen Liebe ergriffen – von einer Liebe, welche die Welt nicht begreift, weil sie nicht mit Fleisch und Blut zusammenhängt – von der Liebe zu Gott, zu dem menschgewordenen, leidenvollen, gekreuzigten Gott der christlichen Offenbarung. Er war jung und von hoher Geburt; aber er vergrub seine Jugend und ihre Ansprüche in einer Felsenhöhle – denn von einer ganz anderen Höhe stieg der Herr des Himmels und der Erde in die Felsenhöhle von Bethlehem hinab. Weil der Gegenstand seiner Liebe ein gekreuzigtes Leben führte, wollte Benedikt es nicht anders haben. Das ist Urgesetz der Liebe: alles teilen mit dem Geliebten, ähnlich sein dem Geliebten, um unzertrennlich zu sein vom Geliebten! Das begreift jedes Herz; das stellt auch die griechische Mythe lieblich und tiefsinnig in den Brüdern Castor und Pollux dar, Pollux war ein Göttersohn, Castor der Sohn eines Sterblichen, und als nun Castor sterben mußte und, gemäß dem Menschenschicksal, in den Orcus versinken sollte, da erklärte Pollux, der unsterbliche, er wolle zeitweise mit seinem geliebten Bruder in der Unterwelt weilen; dafür solle dieser dann zeitweise die Wonnen des Olymps mit ihm teilen. Das ist Liebe. Die Griechen dichteten von ihr; Christus übte sie; aber – da er Gott war, so übte er sie als Gott, immer und für alle. Auch darin suchte Benedikt ihm ähnlich zu werden und die Ströme der Liebe, welche sich in seinem für die Irdischkeit abgestorbenen Herzen angesammelt hatten, für die Menschen, seine Brüder, auszugießen. Was braucht der Mensch zu seinem Glück? – die richtige Erkenntnis Gottes. Sie ist der klare Born, aus dem der Trunk der Ruhe geschöpft wird, der Ruhe, die über alle Unruhe der Welt tröstend hinweghilft. Die richtige Erkenntnis Gottes wollte Benedikt in der Menschheit fördern, das Apostelamt fortsetzen und ausbreiten. Es sammelten sich gleichgesinnte Männer zu ihm, um ihren guten Willen an seiner höheren Erleuchtung und Kraft zu stärken, um durch Gemeinschaft ihre Unvollkommenheit zu ergänzen, Benedikt lehrte sie zuerst, die sinnliche Natur zu besiegen durch Selbstverleugnung, Gebet und Arbeit; und dann dem Nächsten zu dienen, wie Gott es fügen würde. Und Gott nahm große Dienste von diesen Männern aus Benedikts Schule an! Was Europa von Kultur und Civilisation besitzt, hat es ihnen zu danken. Sie drangen aus Italien immer weiter gen Norden; sie hielten in der vielfach vermorschten, und mit dem Christentum häufig nur übertünchten, römischen Gesittung das christliche Ideal aufrecht und zündeten wie auf einem Leuchtturm das Licht an, das ein Signal der Rettung für alle war, welche zwischen den Wellen und Stürmen jener unter- und aufgehenden Zeit gefährlich schifften. Sie zogen zu den barbarischen Völkern Galliens und Germaniens und weiter noch, über Nord- und Ostsee, predigten das Evangelium, siedelten sich an unter dem rauhen Himmel, in weiter, wilder Ferne von ihrer Heimat und ihrer Sprache, unter fremden Menschen, von denen sie gehaßt, verfolgt, gemartert, gemordet wurden; und zum Dank dafür brachten sie diesen barbarischen Horden nicht nur das Licht, sondern auch die Liebe des christlichen Glaubens und machten ihnen das zeitliche Leben leicht, nachdem sie ihnen das ewige Leben gerettet hatten. Die Glaubensboten wurden Holzschläger, Ackersleute, Handwerker. Sie rodeten Wälder aus, sie legten Sümpfe trocken, sie bebauten das Feld, sie trieben Gartenbau, sie Pflanzten den Weinstock; sie führten Kapellen und Kirchen auf, daneben enge Räumlichkeiten zu ihrer Wohnung, und größere, um Kinder und Jünglinge aufzunehmen, zu unterrichten und auszubilden. Sie wußten Männer herbeizuziehen, von Jagd- und Kriegszügen abwendig zu machen und für das gesittete Leben des Feldbaues und des Handwerkes zu gewinnen. Diese siedelten sich auf den urbar gemachten Stätten rings um die Kirche an, bildeten Familien und die Familien bildeten eine christliche Gemeinde; so entstanden Dörfer, dann Städte. Das ging nicht schnell, das währte Jahrhunderte; aber Benedikts Schüler waren nicht ungeduldig, denn sie wirkten nicht, um sich an ihren Erfolgen zu freuen, sondern um das Werk Gottes unter den Menschen fortzusetzen: »Pertransivit benefaciendo.« Eine ihrer Generationen starb nach der anderen, und eine Generation übertrug die Fortsetzung dieses Werkes der anderen; sie lehrten und lebten das Evangelium. Je wilder die Zeiten wurden, je trüber die Gährung brodelte, die bei dem Untergang und der Neubildung großer Epochen die Menschheit zerwühlt, je feindlicher äußere Stürme, Fehden, Kriege, barbarische Invasionen, räuberische Einfälle die Keime der christlichen Kultur mit Untergang bedrohten, und alle Bildung, alles geistige Leben in den Nöten und Drangsalen des Augenblickes begruben, um so eifriger waren Benedikts Schüler, das Werk der Finsternis zu hemmen und der Zerstörung des geistigen Lebens der Völker ein Bollwerk zu setzen. Immer größer, zahlreicher, umfassender wurden ihre Bildungsanstalten für die Jugend. Das zarte Knäblein fand bei ihnen die Pflege der Mutterliebe; der wißbegierige Jüngling die Lehre der Wissenschaft; der weltentfremdete Sinn die Meister in der erhabenen Ascese, der höchsten Blüte des Menschengeistes. In ihrem gemeinschaftlichen Leben unter einem Dach, spärlich genährt, einfach gekleidet, waren ihre persönlichen Bedürfnisse gering. Alle Mittel, welche dem Notleidenden, dem Kranken, dem Reisenden, dem Pilger nicht zuflossen, wurden darauf verwendet, Bibliotheken von Manuskripten anzulegen, und diese zu erhalten, zu vervollständigen, abzuschreiben, mit unsäglicher Mühe zu entziffern, bildete einen großen Zweig der Tätigkeit für diese demütigen Männer. Sie verlangten nicht die armselige Ehre, ihren Namen auf ein Manuskript verzeichnet zu sehen. Sie verlangten die Ehre Gottes, die durch alles gefördert wird, was den Menschen in seiner Erziehung für ein übernatürliches Ziel – ich meine für ein solches, das außerhalb der Grenzen dieses Erdballes liegt – bilden hilft. So waren sie; so sind sie.«
»Aber wer sind sie, diese Männer der großen Taten und der demütigen Herzen?« rief Judith.
»Es sind Männer, die heutzutage verachtet, verhöhnt, verfolgt, verleumdet, angefeindet werden und über die ich, von der vollen Höhe meines Ichs herab, längst den Stab gebrochen und sie unwürdig erklärt habe, in der Lichtwelt unserer Tage zu existieren.«
»Bester Lelio, Sie reden irre.«
»Keineswegs, beste Judith! diese Männer sind ja Mönche! Mönche des Benediktinerordens.«
»Es sind Mönche!« fragte Judith gedehnt. »Wie konnten sie dann doch so viel Gutes stiften?«
»O Du ächte Tochter Deiner Zeit!« rief Lelio. »Ja, sehen Sie, Judith: weil es Mönche sind, deshalb stiften sie so viel Gutes. Es sind Jünger, es sind geistige Söhne von jenem Benedikt, den eine wundersame Liebe ergriff: die Liebe zu Gott; und Söhne erben die Neigungen und Eigenschaften ihrer Väter – das müssen Sie bedenken.«
»Welch ein Erbe von Liebe für die Menschheit, um nach dreizehnhundert Jahren nicht erschöpft zu sein!« sagte Judith sinnend. »Warum gehen denn Ihre modernen Volksfreunde und Weltverbesserer nicht bei diesen Mönchen in die Schule, Lelio?«
»Das will ich Ihnen sagen: weil die modernen Apostel die Abtötung, die Verdemütigung und die Selbstverleugnung des Kreuzes ebenso sehr hassen und fliehen, als die Söhne Benedikts sie suchen und lieben; und weil ihre heilige und segensreiche Wirksamkeit ganz absichtslos unsere unheilige und verderbliche verdammt, deshalb verfolgen wir diejenigen, welchen wir nicht nachahmen wollen. – Dies ist aber alles nur die Einleitung, um zu sagen, daß Einsiedeln eine Benediktinerabtei ist, und die frommen Mönche jetzt, wie vor dreizehnhundert Jahren, Gott in dem Nächsten dienen: sie beten für ihn, sie studieren für ihn, sie unterrichten ihn. Sie lichten keine Wälder und trocknen keine Sümpfe mehr; dafür aber lichten sie die Herzen und retten sie die Seelen aus dem Sumpf der Sünden. Einsiedeln empfing den Namen nach einem Einsiedler und nach der Mutter Gottes. Im neunten Jahrhundert floh Meinrad, ein schwäbischer Grafensohn, in diese Waldeswildnis, an den Rand dieser Quelle. Nichts nahm er mit von den Schätzen seines Hauses, als eine kleine Muttergottesstatue, vor welcher er seine Gebete verrichtete. Er übte gegen sich selbst, nach Art der Heiligen, unerbittliche Bußstrenge, und gegen andere, welche bei ihm Rat und Trost in ihren Drangsalen suchten, liebevolle Barmherzigkeit. Himmlische Erleuchtungen wurden ihm zu teil; er wendete sie an, um das Reich Gottes in den Seelen zu fördern. Böse Buben haben zu keiner Zeit, nicht im ersten, nicht im neunten, nicht im neunzehnten Jahrhundert, die Heiligen geliebt. Böse Buben erschlugen Meinrad, der sie gastfreundlich beherbergt hatte. Die Legende – diese poetische Arabeske um ein historisches Gemälde – berichtet: zwei Raben, die Gefährten Meinrad's in der Einöde, wären den Mördern auf Schritt und Tritt mit wütendem Geschrei und wilden Flügelschlägen durch Berg und Tal, über den See bis in ein Gasthaus der Stadt Zürich nachgeflogen; und dadurch sei die Missetat entdeckt worden. Das Gasthaus heißt bis zur Stunde zu den beiden Raben, und die Abtei hat sie in ihr Wappen aufgenommen. Meinrad's Zelle mit dem Muttergottesbilde blieben in hoher Verehrung und andächtige Menschen kamen von nah und fern, um auf der Stätte zu beten, wo er so viel gebetet hatte, und um in geistiger Gemeinschaft mit ihm und mit allen Seligen, unter denen die allerseligste Jungfrau Maria obenan steht, um Gottes Gnade zu weinen und zu stehen, und für Gottes Barmherzigkeit zu preisen und zu danken. So wurde die Meinradszelle ein vielbesuchter Wallfahrtsort, wo auf Fürbitte des Heiligen und der Muttergottes große Gebetserhörungen stattfanden. Bald fand sich ein frommer und reicher Mann, der sein ganzes Vermögen dazu verwendete, den geistigen Bedürfnissen der Pilger entgegen zu kommen. Er kaufte diesen Landstrich, baute Meinrad's Zelle zum Kloster, Meinrad's Oratorium mit dem Muttergottesbild zu einer Kirche aus, fand gottselige Genossen, welche bereit waren, den Seelen zu dienen, nahm mit ihnen die Benediktinerordensregel an, und nannte das Kloster von Unserer Lieben Frau zu Einsiedeln, woraus denn der gegenwärtige Name entstanden ist. Dieser Mann hieß Eberhard und wurde der erste Abt des Klosters. Als der Bau vollendet war, bat Eberhard den Bischof Konrad von Konstanz, die feierliche Einweihung der Kirche vorzunehmen und die Stätte zu segnen, wo fortan die göttlichen Geheimnisse des Glaubens vollzogen werden sollten. Bischof Konrad kam und brachte die Nacht vor der großen Zeremonie mit Gebet und Wachen hin. Plötzlich hört er einen wundersüßen Psalmengesang, der aus der Kirche zu kommen scheint. Er horcht, er verläßt seine Zelle; der Gesang dauert fort. Er eilt zur Kirche, öffnet die Türe – ein Meer von Licht flutet ihm entgegen und in diesem Licht sieht er Gestalten, welche freilich unsere trüben, von irdischen Bildern verdunkelten Augen nicht wahrnehmen können. Auf dem festlich erleuchteten Altar steht die Mutter Gottes von Strahlen umflossen, und vor dem Altare, bekleidet mit den hohenpriesterlichen Gewändern, bringt Christus der Herr das heilige Opfer dar. Die vier Evangelisten assistieren; St. Petrus hält den bischöflichen Hirtenstab, St. Gregorius die Mitra, St. Ambrosius bringt den Opferwein dar und St. Augustinus den Weihrauch; St. Stephanus liest die Epistel, St. Laurentius das Evangelium und Erzengel Michael, der Anführer der himmlischen Heerscharen, singt mit allen Engeln, welche Palmenzweige und Rauchfässer schwingen, das Offizium der Kirchweihe.«
»Das ist ja wunderschön, Lelio! das sieht ja aus wie eine jener himmlischen Visionen, die Fra Angeliko gemalt hat!« rief Judith. »Nur, schade, daß diese Arabeske die historische Wahrheit überwuchert!«
»Ich erfinde nichts! ich berichte nur die Tradition,« erwiderte Lelio; »aber die Tradition bildet ein großes und wahrhaftes Stück Welthistorie, denn sie faßt immer den Zusammenhang der natürlichen Weltordnung mit der übernatürlichen auf, ohne welchen Zusammenhang alle Wahrheit aus der Weltgeschichte verschwindet und sie zu einem öden Schattenspiel herabsinkt. – Bischof Konrad teilte dem Abt Eberhard am anderen Morgen die nächtliche Feierlichkeit mit und weigerte sich, die Einweihung der Kirche vorzunehmen. Aber man hielt ihn für einen frommen Visionär und bestand auf die Einweihung. Nachdem er lange umsonst Widerstand geleistet hatte, mußte Konrad nachgeben und die Zeremonie sollte beginnen, als plötzlich eine Stimme, die alle hörten und die allen unbekannt war, ihm zurief: »Halt ein! sie ist geweiht.« Diese wunderbare Begebenheit erlebten tausende; die Zeitgenossen glaubten sie, die Tradition bewahrte sie, päpstliche Bullen bestätigten sie – und Einsiedeln wurde mehr und mehr eine Stätte, auf der es Gott gefiel, große Gnaden und ungewöhnliche Gebetserhörungen an die Verehrung der allerseligsten Jungfrau Maria zu knüpfen. Kein Tag verging, der nicht Pilger nach Einsiedeln geführt hätte. In ungeheuren Massen strömten sie herbei am Jahrestage des wunderbaren Ereignisses, das die Benennung »die Engelweihe« empfing. Ohne recht zu wissen wie, war ich am Vorabend dieses festlichen Tages., der auf den 14. September fällt, zwischen Scharen von Wallfahrern nach Einsiedeln gelangt – ich, ein feuriger Jünger und Apostel der Offenbarung des neunzehnten Jahrhunderts, deren Glaubensbekenntnis für jeden einzelnen lautet: »Es ist kein anderer Gott als Gott – und der bin Ich!« Glänzender Fortschritt gegen das Glaubensbekenntnis des Islams, welches auch sagt: Es ist kein anderer Gott, als Gott; aber dann ganz bescheiden hinzusetzt: Und Muhamed ist sein Prophet! also noch eine andere Autorität festsetzt, als die des Selbstherrschers Ich. Aber Fortschritt muß sein, und da das erste Jahrhundert zum siebenten und das siebente zum neunzehnten fortgeschritten ist, kann die Menschheit doch unmöglich beim Glaubensbekenntnis der Apostel Christi und der Anhänger Muhamed's stehen bleiben. Darin sind wir ja längst übereingekommen, nicht wahr, Judith? Moyses, Solon, Confutse, Christus, Zoroaster, Muhamed – haben wir glücklich überwunden! Wir laborieren für den Augenblick ein wenig an Fourier, Proudhon und Brigham Young; aber das alles liegt doch schon in den letzten Zügen und nicht lange währt's, so herrscht in der fortschreitenden menschlichen Gesellschaft die absolute Subjektivität. Jeder sitzt auf dem Thron, den er sich selbst baut – trägt eine Krone, die er sich selbst flicht – empfängt den Kultus, den er sich selbst darbringt – lebt nach den Gelüsten eines Herzens, die natürlich ebenso erhaben sind, wie dies Herz es ist – und nebenbei wird Italien glückselig und Rom der Mittelpunkt der modernen Götterherrschaft.«
»Diese und ähnliche Hochgefühle schwellten meine Brust, und im stolzen Bewußtsein meiner Würde und meiner Weisheit wanderte ich, wie ein verkappter Göttersohn, zwischen den armseligen und einfältigen Menschenkindern umher, die sich zu meinem Fortschritt nicht erschwangen und die sich wie eine Völkerwanderung über Einsiedeln ausgossen. In den verschiedensten Trachten, hier ländlich, da städtisch, dort national eigentümlich, wogten tausend Gruppen, in besonderer Färbung und geschiedener Originalität, zu einer Masse verschmolzen, durch die Gassen dem großen freien Platz zu, wo sie sich sonderten und trennten, am Springbrunnen tranken, die Kaufläden besichtigten, am Bergesabhang sich lagerten oder die breiten Stufen zum Portal der Kirche hinanstiegen. Da waren Leute aus allen katholischen Kantonen und aus allen Nachbarländern der Schweiz: aus Oberbayern, Schwaben und dem badischen Oberland; aus dem Elsaß und dem fernen Lothringen; aus Deutschland und Welschtirol. Da hört man italienisch, französisch, deutsch, romanisch in den verschiedensten Mundarten reden, und da sah man Gesichter und Trachten, die eine ebenso große Verschiedenheit der Sitten, der Gewohnheiten, der Lebensverhältnisse andeuteten. War es nicht sehr seltsam, daß so viel tausend Menschen aus allen Weltgegenden, von einem und demselben Gedanken bewogen, sich hier zusammenfanden in aller Stille, Ruhe und Ordnung! und was war es für ein Gedanke? wollten sie einen Karnevalszug sehen, – oder ein Pferderennen – oder die Eröffnung einer Eisenbahn – oder den Einzug einer Prinzessin? wollten sie Gold graben, wie in Kalifornien, oder Diamanten suchen, wie in Peru? – Ach nein! sie wollten hier beten. Keiner störte den anderen, keiner beeinträchtigte den anderen; keiner beobachtete den anderen; jeder war wie versunken in seine innere Welt, und alle waren in vollkommener Eintracht in der äußeren. Signora, ich muß gestehen, diese idealische Geistesverbrüderung frappierte mich ungemein, besonders weil sich mir gewisse patriotische Feste in's Gedächtnis drängten, die wir vor sechs, acht Jahren in Rom feierten, und weil diese Zusammenstellung nicht zum Vorteil unserer Bacchanalien war. Nun warf ich mich, um gegen alle milde Eindrücke hieb- und schußfest zu sein – in die Frechheit. Das hab' ich schon oft mit Glück getan. Ich ging umher, Händ' in den Taschen, Cigarre im Munde, Lorgnon in der Augenhöhle – und sah mir die Leute an. Es waren wirklich kräftige Männer dabei, frische Burschen, hübsche junge Mädchen, – keineswegs lauter Krüppel, Greise und alte Hexen. Aber bei den jungen Mädchen dachte ich: Ah, ihr wollt hier um einen Ehegatten bitten; und bei den Jünglingen: und ihr um die Gunst eurer Liebsten; und bei den Männern: und ihr um das große Los, oder um den Tod eures verblühten Weibes; und Tagediebe seid ihr alle miteinander. Traf ich aber auf ein altes Weiblein oder einen müden Greis, die erschöpft von der Wallfahrt hastig und zerstreut einige Gebete murmelten, dann dacht' ich frohlockend: Ihr seid der echte und rechte Wallfahrertroß! Euch grinst der Tod an; da erschreckt ihr und nennt die Freuden eurer Jugend – Sünden. Und eure Feigheit läßt sich's weiß machen, daß ihr eurem Gott ein X für ein U machen und aus Sündern – Heilige werden könnt, wenn ihr gerade hier auf dieser Stätte fünfhundert Ave Maria murmelt. Ja, ja, ihr seid mir die Rechten, euch kennt man! In Gedanken von solcher Stupidität, solcher Bosheit und solcher Gemeinheit erging ich mich con amore. Endlich begab ich mich in die Kirche, die nach einer Feuersbrunst im vorigen Jahrhundert im reichsten, ornamentiertesten, italienischen Stil, mit einer Fülle von Gemälden, Statuen und Fresken gebaut und geschmückt ist. Meißel und Pinsel stellen durch Marmor und Farben die Geschichte der Menschheit in jenen großartigen Umrissen dar, welche aus dem Alten und dem Neuen Bunde geschöpft werden, und an den majestätischen Gewölben rollen sich die Geheimnisse des Christentums und das Leben des Gottessohnes von Bethlehem bis Kalvaria, dem himmelwärts gewendeten Blick auf. Unfern vom Eingang, mitten im Hauptschiff, steht eine kleine offene Kapelle, deren Kuppel von schwarzen Marmorsäulen getragen wird. Unter der Kuppel steht über dem Altar eine schwärzliche Mutter-Gottesstatue mit dem Jesukinde. Goldene Strahlen bilden ihr den Hintergrund und vor ihr schwebt eine Lampe mit dem ewigen Licht. Mit meinem Lorgnon im Auge gaffte ich alles an, und zum Glück durfte ich mir, als Künstler, erlauben, diese ganze Schöpfung der christlichen Kunst zu bewundern. Daß sie ein Sprößling des christlichen Glaubens sei, ließ ich bei Seite. Es waren viele Leute in der Kirche, aber es herrschte eine lautlose Stille. Die Meisten knieten um die Mutter Gottes-Kapelle herum, denn die kleine Statuette ist St. Meinard's uraltes Gnadenbild, und der Altar, über dem sie sich erhebt, ist derjenige, an welchem Bischof Konrad die himmlische Erscheinung wahrnahm. Dort ergießen sich seit tausend Jahren die Menschenherzen in Gebet und Tränen; dorthin wenden sich zuerst die Pilger. Ich aber, als ein Neugieriger, schlenderte auf und nieder in den breiten Schiffen der Kirche und besichtigte alle Seitenkapellen. In einer derselben kniete eine einsame Frau. Sie fiel mir auf, denn in ihrer edlen Haltung war etwas, das mich an meine Mutter erinnerte. Auch in deren Alter mochte sie sein; aber sie trug noch die Spuren einer so ausgezeichneten Schönheit, daß es mich verdroß, solch ein edles Menschenbild in dem, Verdummungsprozeß des Rosenkranzgebetes zu sehen. Ich pflanzte mich seitwärts vom Altar, vor dem sie kniete, auf und starrte sie an.«
»Aber Lelio, Sie sind unerträglich!« unterbrach ihn Judith. »Gönnen Sie doch den Leuten das Gebet – besonders den Frauen! Wer weiß, in welchen Schmerzen es die einsame Beterin getröstet hat.«
Nein, Signora, das dürfen wir nicht dulden. Die Apostel des Lichts müssen Licht verbreiten und Finsternis erhellen! Ich nahm meine ganze Frechheit zusammen und sagte auf italienisch ganz laut zu der Beterin: Nicht wahr? du bist eine perfekte Magdalena? Sie schlug ein paar große, milde, müde Augen zu mir auf und fragte im reinsten Italienisch mit einem unaussprechlich friedlichen und sanften Lächeln: »Nicht in der Buße, mein Sohn! bete ein Ave Maria für mich.« – Judith! mein Gefühl war ungefähr das von Don Juan, als die Marmorstatue des Komthurs ein vernehmliches Ja! sagt; nur mischte sich in meinen Schreck eine grenzenlose Beschämung. Ich hätte mich unsichtbar machen und aus der Kapelle, aus der Kirche, aus ganz Einsiedeln verschwinden mögen. Ich fand mich auf dem freien Platz wieder, ohne Lorgnon vor dem Auge. Wie ich hinaus gekommen, weiß ich gar nicht! mir schien, alle Blicke müßten auf mich gerichtet gewesen sein.«
»O wie gönne ich Ihnen die Beschämung!« rief Judith und klatschte in die Hände. »Sie waren ja von einer ganz giftigen Insolenz.«
»Es scheint, die heilige Atmosphäre habe die Macht gehabt, alle Herzen zu öffnen, und als das meine sich auftat – sieh'! da kam Gift heraus! Und hätten Sie nur die Frau gesehen mit dem schönen Blick und der schönen Sprache und wie sie so mild sagte: Figlio mio! so würden sie sich noch mehr meiner Beschämung freuen! In der frischen Luft und im heitern Sonnenschein, der die bunten bewegten Bilder glänzend umrahmte, kam ich wieder zu mir und kehrte in die Kirche zurück, als zur Vorfeier des festlichen Tages die Vesper begann. Die Menschenmasse war so groß, daß sich Kopf an Kopf und Schulter an Schulter drängte; doch kein profanes Wort wurde laut und keine profane Neugier gab sich kund. Ich fand gar keinen Stoff für meine Beobachtungen und horchte deshalb auf die Musik. Das Magnifikat wurde prachtvoll gesungen, mit einer Würde, einem Schwung, einer Ruhe, einem feierlichen Ernst, daß jedes Wort und jeder Ton wie Perlen in Gold gefaßt dahin rollten und in mein Ohr fielen. Was das für eine seltsame Verheißung ist, dachte ich bei mir selbst: »Die Mächtigen stößt er vom Stuhl und erhöhet die Niedrigen.« Sollte Gott wirklich mit den Republikanern gemeinsame Sache machen, die Fürsten und großen Herren wegjagen und das Volk auf den Thron bringen wollen? Dann kämst du auch auf den Thron, Lelio! – Aber du hast schon deinen Thron, inwendig in dir! – Am Ende gehörst du zu Denen, welche gestürzt werden sollen, und die kleinen niedrigen Geschöpfe rings um dich her kamen dann in die Höhe! Ja, klein und niedrig von Gesinnung wie jene Frau, die zu dem bösen Buben, der sie zu beleidigen versucht, mild sagt: Mein Sohn, bete für mich! Solche kuriose Gedanken hatte ich bei dem Magnifikat. Nach der Komplet mit ihren wunderbaren Tönen, die wie Abendglocken zur Ruhe lauten, wurde es still in der Kirche und dämmernd. Die Kerzen erloschen. Vor dem Tabernakel hing eine Lampe mit dem ewigen Licht und vor dem Gnadenbild eine andere. Wie selige Gestirne flimmerten sie in die Schattenwelt hinein. Ein Teil der Pilger hatte sich in die Gallerie begeben und umlagerte die Beichtstühle so massenhaft, so ausdauernd, wie unsereiner die Aspiranten zu einer anderen Gallerie vor der Türe des Opernhauses zu sehen pflegt – wenn Judith die Norma oder die Desdemona singt. In der Kirche, um die Beichtstühle, allüberall, Stillschweigen, Sammlung, Ruhe und keine andere Bewegung als die, welche durch das leise Kommen und Gehen vieler Menschen verursacht wird. Ich fragte einen Kirchendiener, der am Eingange ein paar Lichter anzündete, damit die Dunkelheit nicht über Hand nehme, ob später noch irgend eine Zeremonie statt fände. Er verneinte es mit dem Zusatz, daß die Beichten bis Mitternacht fortdauerten und daß am anderen Morgen um vier Uhr die ersten Messen gelesen würden. Ich fing an mich zu langweilen. Ich hatte genug gesehen, gehört, mein Mütchen gekühlt; ich dachte an meinen Rückzug. Aber ich blieb wie eingewurzelt auf meinem Platz, denn es erhub sich plötzlich ein ganz eigentümliches Getön, flüsternd erst, wie das Laub im Winde, wie ein Bächlein, das über Kiesel und Moos behende fortrieselt; dann steigend, anschwellend, rauschend wie ein gewaltiger Sturm – brausend wie die Meeresbrandung – unmelodisch und doch voll übernatürlicher Harmonie – regellos, und doch zur übernatürlichen Einheit gesammelt. Es quoll aus allen Teilen der großen Kirche hervor, aus den Stufen der Altäre; es stieg und sank – und erhob sich wieder – eine Flut, ein Orkan von Gebet, das aus dem Herzen und von den Lippen von zehntausend Pilgern kam. Jeder betete halblaut seine Gebete in seiner Sprache, weinend, klagend, frohlockend, flehend, angsthaft, zuversichtlich, jammernd, lobpreisend – der eine Pater, der andere ein Miserere, der dritte ein Salve Regina, der vierte ein De profundis, der fünfte ein Te Deum, der sechste ein Veni sancte. Und einige beteten mit ihren Tränen und andere mit ihren Seufzern und andere mit gebrochenen Worten: alle Leiden und Schmerzen, alle Nöten und Trübsale, alle Kämpfe und Qualen, alle Liebe und Hoffnung, welche über den Erdball ausgebreitet sind, drängten sich auf diesem einen Punkt der Erde zusammen, und schrieen auf in diesem einen ungeheuern, Mark und Bein erschütternden Akkord: es war der Geist der Menschheit, der sehnsüchtig an das Herz Gottes flüchtete. Es überfiel mich, ich weiß nicht was für ein Verlangen, einzustimmen in diese wunderbare Hymne der betenden Menschheit; aber ich verteidigte mich auf's äußerste und dachte an unsere Hymnen auf den Barrikaden, auf den Gassen, bei Volksbanketten, im Theater, bei unseren Orgien; was sangen die? Ja, was singen die! Blut, Mord, Lustgier, Wahn und Rausch. Ein namenloser Ekel wandelte mich an. Ich stieß sie fort – mit dem Fuß. Hinweg mit euch! ihr seid nicht die Stimme eines höheren Geistes in der Menschheit; denn was ist euer Grundton? Trotz! – Trotz gegen Gott und seine Offenbarung. Nennt's wie ihr wollt! .... aber das ists: Trotz gegen Gott und seine Offenbarung. Ihr seid gerichtet!! – – Judith, verstehen Sie mich?«
»Ich weiß nicht!« flüsterte sie. »Erzählen Sie weiter.«
»Aber ich!« fuhr Lelio fort, »ich sollte einstimmen in die Hymnen des Gebetes zu Ehren eines menschgewordenen, eines gekreuzigten Gottes und Erlösers? ich glaubte ja nicht an ihn! Mein Glaube lag ja begraben unter jenen Disteln und Dornen, die mir das weiße Kleid der Gnade zerrissen hatten. Wer nicht glaubt, kann nicht beten! Da fiel mir die Frau mit dem schönen liebreichen Blick ein und ihr Wort: Figlio mio, bete ein Ave Maria für mich! Nun schloß ich einen Kompromiß mit mir selbst ab und sprach heimlich: Ich habe die Frau gekränkt; dafür will ich ihr den Gefallen tun und ein Ave Maria für sie sprechen. Auf diese Weise war halb und halb mein Verlangen befriedigt, halb und halb meine Ehre gerettet. Es gibt nichts Elenderes unter der Sonne, als ein Kompromiß mit der Wahrheit. Dann verließ ich die Kirche, begab mich in meine Herberge und suchte zu schlafen. Es ging aber nicht recht. Teils hielten mich wahre Gedankenstürme wach; teils störten mich die Pilger, die in neuen Scharen herbeikamen und ohne Obdach zu suchen geradesweges zur Kirche gingen und auf den Stufen gelagert, Rosenkranz und Litaneien beteten und geduldig harrten, bis sich um zwei Uhr Morgens die Türen öffneten und sie zum Teich Bethesda der Seelen – zum Bußsakrament eingehen ließen. Schlief ich aber ein paar Minuten, so war mir unaussprechlich wohl, denn das unbeschreibliche und unvergeßliche Nachtgebet der Pilger säuselte über mich fort wie ein Wiegenlied. Um drei Uhr läuteten alle Glocken. Ich sprang so eilig auf, als dürfe ich keinen Moment des Festtages verlieren und eilte in die Kirche; nicht aus Andacht, aber wir Künstler lieben allerhand Emotionen, nicht wahr, Judith? Wie das aber zu gehen pflegt: sucht man sie, so findet man sie nicht. Um vier Uhr begann der Gottesdienst. Die ganze Kirche und alle Kapellen waren erleuchtet. Am Hochaltar feierte der Abt das heilige Meßopfer und an den übrigen Altären die Mönche und fremde Geistliche. Dann wurde die heilige Kommunion ausgeteilt – an tausende und tausende. Zuweilen trat eine Pause in der heiligen Ausspendung ein. Dann flutete aber wieder ein Menschenstrom zum Tische des Herrn und wieder erschien der Priester und brach das Brod des Lebens. Um zehn Uhr wurde ein prachtvolles Pontifikalamt celebriert und zwar vom Nuntius des Papstes – was mich denn wieder in meine allergiftigste Stimmung versetzte. Der alte schwache Priesterfürst in Rom hat seine Gesandten überall, bei Kirchenfürsten, bei weltlichen Fürsten und wie sie; und die Oberhäupter des ächten, des republikanischen Roms, ein Mazzini, ein Garibaldi, werden als Revolutionäre verbannt, gehaßt und mißachtet! Überdies mißfiel mir die frohe Stimmung des Volkes, das sich nach dem Hochamt wie ein bunter, beweglicher, tausendfarbiger Teppich über den Platz und den Bergabhang und die Gassen hinzog. Und ach! was war das doch für eine unschuldige Fröhlichkeit! sie waren mit Gott ausgesöhnt, sie waren mit der Speise der Engel erquickt: nun lagerten sie sich traulich zusammen, die Familien, die Freunde, die Gemeinden – auf dem Rasen, um den Brunnen, in den Gaststuben, wo sie eben ein Plätzchen fanden – und genossen das Wenige, was sie mitgebracht hatten, oder was sie mit knapper Not sich kauften. Und wer etwas hatte, der teilte es mit dem Dürftigen und labte den Krüppel und den Armen. Wie hätten die nicht froh sein sollen! Da waren ja alle beisammen, die Christus auf Erden geliebt und denen er im Himmel die Seligkeit versprochen hat: die reinen Herzen, die Armen im Geist, die Leidtragenben, die Barmherzigen. Aber ich – ich gehörte nicht in das Reich dieser guten Kinder Gottes und deshalb grollte ich ihnen.
»Um mich zu zerstreuen, geriet ich auf einen seltsamen Einfall. Ich ging in die Sakristei und bat um Erlaubnis, die Orgel spielen zu dürfen, da ja jetzt während einiger Stunden kein Gottesdienst stattfinde; ich sei ein Musiker aus Rom, und die Orgel mein eigentliches Fach. Sie wissen, Signora, daß dies die volle Wahrheit ist, daß meine Eltern mein Talent für Orgel und Kirchenmusik ausbilden ließen und daß sogenannte Freunde mich später in das Bühnenorchester und so weiter! um so weiter lockten! aber die Orgel blieb mein Lieblingsinstrument, und in Einsiedeln überfiel mich das Verlangen, sie zu spielen. Mein Wunsch wurde gewährt; doch mit kluger Vorsicht. Man kannte mich ja nicht! ich konnte ein Stümper sein oder ein Böswilliger, der durch schlechtes Orgelspiel die Andächtigen verletzte oder ärgerte. Man führte mich auf eine Orgelbühne, die zu einem Oratorium gehören mochte; und da fand ich ein herrliches Instrument. Ich war ganz allein, ganz ungestört. Durch die Fenster, die mehr als mannshoch vom Fußboden angebracht waren, schaute der reine Septemberhimmel wie ein tiefblaues Augenpaar auf mich herab. Außerdem sah und hörte ich nichts von der ganzen Welt. Ich setzte mich an die Orgel. Die Anklänge des gestrigen Abends gingen mir noch durch die Seele. Ich entfesselte eine Welt von Tönen. Alle Klagen der Menschenbrust, vom Jammerschrei bis zum Todesseufzer rief ich wach und ließ ihre Wogen steigen, wachsen, schwellen, bis sie mir selbst über dem Kopf zusammenschlugen und nicht ich mehr sie beherrschen konnte, sondern ein höherer Meister; und wer? Pergolese! an seinem himmlischen Stabat mater brach sich die steigende Flut. Erinnern Sie sich, Signora, wo Sie zuletzt das Stabat sangen und ich Ihren Gesang begleitete? In der letzten Charwoche war's, zu Paris, in der Kapelle der Klosterfrauen von Notre-Dame-de-Sion – da war's! da sangen Sie mit Ihrer Erzengelstimme, großmütig wie immer, für den Zweck dieses Ordens: die Bekehrung der Juden in Jerusalem. Seitdem hatte ich nicht an das Stabatgedacht. Nun fiel es mir ein. Nun tauchte aus den Schmerzen einer Welt – das Kreuz auf, und alles irdische Wehegeschrei verstummte vor der übermenschlichen Klage eines Herzens, das unter dem Kreuze stand »pertransivit gladius«. Ich weiß nicht, wie lange ich spielte. Ich schwamm, ich badete in diesen Melodien einer höheren Sphäre; ich durchwob sie mit meinen Phantasien, ich ließ alle Verzweiflung der Erde und alles Wutgeheul der Hölle in sie hineingellen; aber nur um so mächtiger rauschten die Ströme himmlischer Harmonie auf sie herab, und wie ein stiller silberweißer Schwan zog das Stabat durch die tobende See und stellte das Kreuz immer fester, immer leuchtender auf ein zermalmtes Mutterherz. »Endlich kam ein dienender Bruder mit der Bemerkung, daß der Abend sinke, und daß ich doch ja nicht die Prozession versäumen möge, welche beginne, sobald es ganz dunkel sei. Ich riß mich mühsam von meiner Orgel los und eilte in's Freie. Ich hatte die Absicht, einsam auf den Bergen umher zu schweifen, um der langweiligen Prozession aus dem Wege zu gehen; da bemerkte ich Anstalten zu einer Beleuchtung und die Beleuchtung der St. Peterskirche in Rom, diese Wonne meiner Kindheit, fiel mir ein. Ich blieb, um zu sehen, ob hier etwa eine Nachahmung stattfinden solle. Je mehr die Nacht einbrach, desto mehr versammelte sich die Menschenmasse auf dem freien Platz. Er war zuletzt wie gepflastert mit Köpfen. Da ich etwas kurzer Statur bin, verwünschte ich hundertmal die langgewachsenen Söhne der Alpen, zwischen denen ich eingekeilt stand, und verfiel in eine höchst grimmige Stimmung über die stupide Neugier, welche so viel tausend Menschen hier zusammenführe, während ich vielleicht der einzige stupid Neugierige unter ihnen war. Endlich entstand in der Kirche eine große Bewegung; die Orgel erklang, die Kerzen auf allen Altären wurden angezündet, feierlicher Gesang ertönte, die Glocken huben an zu läuten, die Prozession setzte sich in Bewegung. Eine Doppelreihe von Mönchen und Geistlichen, jeder mit einer brennenden Kerze in der Hand, zog vom Hochaltar aus durch die Kirche, aus der Türe, die Stufen hinab, um den Platz. Am Schluß der Doppelreihe ging der Abt unter einem Baldachin, von Weihrauchwolken umwogt, das Sanktissimum tragend. Als es außerhalb der Kirche erschien, flammte über dem Portal ein kolossales Lichtkreuz und rings um den Platz, in gewissen Zwischenräumen, Bündel von Fackeln auf, und im feierlichen Reigen wandelte die Prozession dahin. Wie die Wellen des roten Meeres sich teilten, um dem Volke Israels Durchgang zu lassen: so wich die Menschenmasse und stand zu beiden Seiten wie eine Mauer, und kniete nieder, wenn die kleinen Glöckchen und die Weihrauchwolken sich näherten, und erhob sich wieder, wenn das Sanktissimum weiter zog. Ich aber kniete nicht nieder, sondern reckte mich so hoch ich konnte, und stand mit verschränkten Armen, Lorgnon vor dem Auge, Hut auf dem Kopf, in der vordersten Reihe kerzengerade, als sich das Sanktissimum meinem Platze nahte und alles neben mir, hinter mir und gegenüber auf die Knie sank. Ich stand im stolzesten Bewußtsein meiner Würde und Freiheit; aber mein Hut fiel! ein ernster dunkeläugiger Tiroler nahm ihn mir ganz ruhig ab, mit dem Ausdruck eines Vaters, der seinem Bübchen zeigt, was schicklich sei. Ich riß ihm empört meinen Hut aus der großen sehnigen Hand, die mit ungewöhnlicher Behendigkeit das Kreuzzeichen machte, und drängte mich, von Zorn gekräftigt, nach der anderen Seite des Platzes, wo man unfern der Kirche zum Behuf dieser Feierlichkeit einen Altar errichtet hatte, der wie ein Meteor im nächtlichen Dunkel aufstrahlte. Er war um viele Stufen erhöht und von einer säulengetragenen Kuppel überwölbt, und alle Umrisse des kleinen Gebäudes waren mit ungemein glänzenden Lampen, wie mit Schnüren von Diamanten eingefaßt. Das Innere war ganz mit Blumen austapeziert und an der Hinterwand ein großes transparentes Gemälde angebracht, jene Vision, die Johannes auf Pathmos hatte: das wunderbare Weib mit den zwölf Sternen um das Haupt und der Mondessichel zu ihren Füßen. Nach diesem Altar zog die bewegliche Lichtlinie der Prozession.
»Trotz meiner kritisierenden Stimmung fand ich das Schauspiel großartig. Es war nichts zu sehen, als eine tiefdunkele, von einzelnen Lichtgruppen erleuchtete Erde: das Kreuz in der Höhe, Altar und Fackelbündel im Vorgrund, in der Tiefe des Bildes der Flecken Einsiedeln illuminiert von tausend Lichtlein – einer kleinen Welt von Leuchtkäfern ähnlich. Die Menschen – still, ernst, gesammelt, ruhig auf einem Fleck, kein Gedränge, keine Schaulust, und doch zu tausenden beisammen. Im Hintergrund die gewaltigen Berge, die sich in ihrer Massenhaftigkeit ganz schwarz zum Nachthimmel erhoben. Dazu die großartigen Stimmen, welche dem Bilde einen Ausdruck von Seelenleben gaben, Orgelklang, Chorgesang, Glockenton – und über dem allen der starke Wind, der von den Gletschern kam und über den Wald sauste und die Spitzen der hohen Tannen umbog und mit ihren Ästen wie mit Fahnen wehte. Der Abt war zum Altare hinaufgestiegen und nun erklangen diese wunderbaren eucharistischcn Hymnen, welche von den Heiligen geschaffen sind und vielleicht von den Engeln gesungen werden. Dann hob er hoch auf das goldene Haus, in welches die überhimmlische Dreifaltigkeit, verschleiert von der heiligen Hostie, sich herabgelassen hat, hielt es einige Augenblicke fest und hoch vor allem Volk und bewegte sich dann langsam, im Kreuzzeichen, segnend über die Menge. Alle Gebete waren verstummt; die Orgel schwieg; nur die Kanonen donnerten in den Choral der Glocken hinein; alle Stirnen senkten sich zu Boden; denn nicht der Priester – Gott der Herr segnete sein Volk. Und ich? – o ich stand aufrecht, als der Abt die Monstranz erhob und hoch hielt und darzeigte; und stand aufrecht, als die Kanonen krachten und die Menge auf die Knie fiel und der Abt die beiden ersten Bewegungen mit der Monstranz machte. Und als er sie nach meiner Seite wendete und ich sie fest und kalt ins Auge fassen wollte, da ging von ihrem Mittelpunkt ein goldener Strahl aus – und der traf mich, war's in's Herz, auf die Stirn, im Blick – ich weiß es nicht! genug, er traf mich besiegend. Meine Stirn sank Zur Erde, meine Seele flog in den Himmel, ich lag im Staube und ich betete an.«
»Was ist das, Lelio!« rief Judith gespannt und aufgeregt. »Was war das für ein Strahl?«
»Nichts Irdisches war's, Signora, nichts Materielles. Kein Blitzstrahl war es, und kein Spiel der Lichter auf den Diamanten der Monstranz, Aber auch eine Vision war es nicht, wie die Heiligen sie wohl haben; kein Flammenpfeil, wie er der heil. Therese das Herz durchbohrt und zu seraphischer Liebe entzündet ...«
»Nun denn,« rief Judith beinahe heftig, »was war's?«
»Die Gnade war es, Signora!« sagte Lelio sanft. »Der Hebel war es, der seinen Stützpunkt im Herzen des Erlösers hat, und der ein elendes Menschenherz aus dem Abgrund der Sünde emporhebt.«
»Das verstehe ich nicht,« sagte Judith kalt.
»Ich prophezeihte es,« erwiderte er lächelnd.
»Nun weiter!« rief sie.
»Ich bin zu Ende, Signora! ich habe in der ganzen Zeit Einsiedeln nicht verlassen, gründlich in meinem Gewissen aufgeräumt und komme nun, um meine Vorsätze auszuführen.«
»Aber Ihre unbekannte Beterin werden Sie doch erkundschaftet haben?«
»O nein! die ist mir unbekannt geblieben. Komme ich aber einst in den Himmel, so werd' ich sie schon erkennen – unter den Heiligen oder zwischen den Engeln.«
Das Geschlecht, welches »das schöne« und »das fromme« genannt wird, hat eine Eigenschaft, welche seine Schönheit und Frömmigkeit sehr beeinträchtigt: es verträgt nicht gut das Lob einer anderen Frau. Bei Judith, die nicht den mindesten Anspruch an Frömmigkeit machen konnte, wird es also nicht auffallen, daß sie von ihrer Höhe herab entgegnete:
»Nun was ist denn darin so großartig, einen armseligen Menschen zu verachten, der uns beleidigen will? es fliegt Staub an den Saum unseres Kleides: wir schütteln ihn ab – und gehen weiter. Das ist doch eine allzu unbedeutende Handlung, um einen Patz in die Heimat der Engel zu erwirken.«
Lelio machte eine lebhafte verneinende Geberde.
»Tag und Nacht!« rief er, »Himmel und Erde! Sie verachten den Menschen, der Sie beleidigt: heidnischer Stolz! die Unbekannte bittet ihn: Mein Sohn, bet' ein Ave für mich: katholische Demut!«
»Und gaben Sie sich gar keine Mühe, diesem Mirakelwesen auf die Spur zu kommen? Schade, daß es nicht ein Vierteljahrhundert jünger war!«
»Signora,« sagte Lelio ernst, »dies verstehen Sie wirklich nicht.«
»Und weshalb nicht, Signor Lelio?«
»Weil sich die Welt nach der Ordnung der Gnade Ihnen noch nicht erschlossen hat.«
»Und was ist das für eine neue mystische Weltordnung, Signor Lelio?«
»Es ist die, in welcher die Liebe zu dem gekreuzigten Gott der Offenbarung des Menschen höchstes Gesetz und heiligste Richtschnur ist. Es ist die, in welcher der Mensch, erlöst von der Wucht seines Ichs und von dessen unerträglicher Sklaverei, in den freiwilligen Dienst der göttlichen Liebe tritt und dadurch ein Werkzeug Gottes wird.«
»Und für ein solches halten Sie Ihre Unbekannte?«
»Allerdings, Signora. In der Gnadenwelt sind höhere Kräfte tätig, als in der natürlichen Welt, darum üben sie auch einen höheren Einfluß. Lebt und webt eine Seele in der Gnade, so gehen auch Gnadenwirkungen von ihr aus. Die höchste ist: eine Seele zu retten. Die Unbekannte hat den Grund zur Rettung meiner Seele gelegt; aber so recht wie ein unscheinbares Werkzeug Gottes: sie wußte es nicht, sie wollte es nicht. Sie übte nur einen kleinen Akt von Demut und Liebe – so klein, daß die Weisheit der Welt ihn nur beachtet, um ihn zu verachten; aber er war gottgefällig und darum folgte göttlicher Segen ihm nach. Ahnungslos hat sie meinem verhärteten Herzen den ersten Ruck zu seiner Bekehrung gegeben. Gottes Barmherzigkeit tat das Weitere. Jetzt muß ich das Meine tun.«
»Was wird das sein!« rief Judith erwartungsvoll.
»Nicht wahr, den Montblanc in den Leman stürzen – oder eine neue Sonne entdecken – oder einen neuen Weltteil erobern – darauf sind Sie gefaßt? Nein, teure Judith! ich gehe schlecht und recht zu meinen Eltern zurück, bitte sie um Verzeihung, daß ich so viele lange Jahre so bitter sie betrübt habe, und suche fortan ein guter Sohn zu sein, mit der festen Überzeugung, daß die wahre Befreiung Italiens sehr gefördert wird, wenn ein Italianissimo daran geht, sich vom Unglauben und von der eng damit zusammenhängenden hochmütigen Selbstsucht zu befreien.«
»Wie, Lelio! Sie verlassen mich?« fragte Judith traurig.
»Stabat mater, teure Judith! Auch meine Mutter steht unter ihrem Kreuz und weint! – ach! um ihren verlorenen Sohn. Was wären Entschlüsse, wenn wir sie nur faßten, um unserem aufgeregten Gefühl eine momentane Befriedigung zu geben, und wenn sie mit unserer Erregung verschwinden würden! Nein! heute noch reise ich nach Rom ab.«
»Unmöglich! Sie wissen, wie unentbehrlich Sie mir sind!«
»Ich weiß, daß Sie einen Musiker brauchen, ja! – doch hier nicht, denn hier ruhen Sie aus von Musik. Singen Sie dem Fürsten X., dem Marquis Y., dem Lord Z. die Skala vor, so brauchen Sie niemand zum Akkompagnement und die Herren sind ebenso entzückt, als hätten Sie die »Casta Dia« gesungen. Überdas kommen Sie ja auch bald und für den Winter nach Rom. Da hoffe ich Ihnen einen brauchbaren Musiker aufgefunden zu haben.«
»Also auch in Rom wollen Sie nicht mit mir zusammen bleiben? Hindere denn ich Sie daran, ein guter Sohn zu sein? Oder überlassen Sie mich meiner Verdammung, nachdem Sie sich gerettet haben?«
»Ich muß meine Seele retten, nicht die Ihre! das überlasse ich vollkommneren Menschen. Was aber Ihre Verdammung betrifft, so hoffe ich genau das Gegenteil! ich hoffe, daß Ihnen hienieden das Gnadenleben – und droben die ewige Herrlichkeit zu Teil wird.«
»Werden Sie für mich beten, Lelio?« fragte sie und reichte ihm die Hand. Er drückte sie herzlich und rief:
»Gewiß! ich – und Bessere als ich!«
»Nun, so beten Sie für mich, daß ich zu meinem Ziel komme und Gräfin Windeck werde.«
Lelio schleuderte ihre Hand fort und sprang zurück, als habe ihn eine Natter gestochen, und rief heftig:
»Wissen Sie denn nicht, daß der Mann verheiratet ist.«
»Ja, sehr unglücklich.«
»Unglücklich oder glücklich, das gilt gleich! Sie werden doch nicht in ein Serail gehen wollen?«
»Signor Lelio, ich bitte, mäßigen Sie Ihre Ausdrücke. Ich will Graf Windeck's rechtmäßige Frau werden.«
»Ganz richtig, Signora! dem Muhamedaner sind vier rechtmäßige Frauen erlaubt; Sie müssen sich also mitsamt Graf Windeck zum Islam bekennen, wenn Sie ihn heiraten wollen – denn eine rechtmäßige Frau hat er bereits.«
»Haben Sie denn nie gehört, daß man unglückliche Ehen auflöst, um eine glücklichere zu schließen?«
»Judith, Sie wissen nicht, was Sie sagen – nicht, was Sie anstiften!« rief Lelio mit dem Ausbruch tiefsten Schmerzes. »Ich, ahnte wohl die Leidenschaft des Grafen für Sie, doch nicht diese Wendung. O erbarmen Sie sich des Unglücklichen und treiben Sie ihn nicht zum Äußersten! Er kann Sie nur dann heiraten, wenn er abfällt vom Glauben und in eine Sekte außerhalb der Kirche, kalvinische, lutherische, evangelische – was weiß ich, wie sie sich nennen! eintritt – und Sie, Judith, mit ihm.«
»Wozu die enormen Anstalten, Lelio! Bleibe er doch katholisch, wenn er es ist, der arme Orest. Daß ich getauft sein muß, um ihn zu heiraten, weiß ich. Europa's Civilisation steht noch auf einer so niedrigen Stufe, um die Giltigkeit der Ehe an eine so leere Ceremonie zu binden. Mir ist es aber gänzlich einerlei, nach welchem Ritus es geschieht, und ich kann ebenso gut katholisch als kalvinistisch oder lutherisch mich nennen lassen.«
»Ach, arme Judith, in welchem Wahn sind Sie befangen! Die katholische Kirche betrachtet die Ehe als einen unauflöslichen Bund, welcher der Gnadenordnung, nicht den Gelüsten der wandelbaren menschlichen Natur angehört. Im Blut Jesu haben die Eheleute das Sakrament empfangen, sind sie verbunden zu einer Einheit, die nur der Tod scheidet. Dawider gibt es keinen menschlichen Richterspruch, und so lange Graf Windeck's Gemahlin lebt, ist eine Ehe mit einem anderen Weibe für ihn unmöglich.«
»Die Sekten aber gestatten sie?«
»Ja! denn sie beruhen auf Irrlehren! und eine solche ist es, welche die Ehe ihres sakramentalischen Charakters beraubt, und gerade sie, welche mehr wie jedes andere menschliche Verhältnis des Beistandes der heiligmachenden Gnade bedarf, zu einem lockern Vertrag herabsetzt, über dessen Dauer der Rausch der Leidenschaft entscheiden darf. Judith! den Bund der Ehe dürfen Sie nicht anrühren. Sie dürfen es nicht!«
»Also auf Wiedersehen in Rom!« sagte Judith abbrechend. »Reisen sie glücklich, lieber Lelio. Ich halte Sie keinen Augenblick zurück, denn ich sehe wohl, daß der Lelio, den ich vier Jahre lang gekannt habe, durch vier Wochen in Einsiedeln mir fremd geworden ist.«
»Und gerade jetzt möcht' ich bei Ihnen bleiben, möchte wachen und warnen ....« –
»Sie werden langweilig, Lelio! ich brauche keinen Mentor. Ich will jetzt noch einige Wochen Nachsommer in Genua oder Nizza genießen; dann komme ich nach Rom. A riverderlo!« Sie winkte ihm freundlich mit der Hand zu und verließ das Zimmer.
Lelio sah ihr traurig nach und seufzte heimlich: O die Arme! sie stürzt in den Abgrund und reißt ihr Opfer mit sich hinab. Niemand geht allein in den Himmel, allein in die Hölle. Die Seelen hängen zusammen – im Abfall, in der Heiligung. Das erste Menschenpaar verwickelte die ganze Menschheit in den Sündenfall; Christus zieht die ganze Menschheit am Kreuz empor.