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»Also dies ist die berühmteste Ruine der Welt!« sagte Judith und blickte sinnend umher.
»Ja! dies ist die Weltruine!« entgegnete Lelio.
»Dies ist die Ruine, welche Tyrannenmacht verherrlichen sollte – und ihrer spottet!« rief Florentin.
»Sie ist höchst malerisch!« bemerkte Madame Miranes.
Sie standen im Koliseum zu Rom.
»Was sagt Graf Orestes?« fragte Judith, zu ihm sich wendend.
»Nichts,« erwiderte er. »Er hört und sieht – Sie.«
Das war begreiflich! Von Kopf zu Fuß in schwarzen Sammt gekleidet, mit dem dunkeln Auge in dem schönen farblosen Antlitz, glich sie jenen Statuen aus hadrianischer Zeit, die freilich nicht mehr im reinen Stil der Antike, aber vielleicht umso überraschender – nicht geistiger, aber sinnlich lebendiger sind: deren Gewandung ist aus dunkelm Marmor: Hände, Füße, Antlitz – aus weißem Marmor und das Auge aus schwarzer Emaille.
»Sie sehen aus wie ein Götterbild, das aus alter Zeit vergessen hier stehen geblieben wäre,« setzte er hinzu.
»Nein!« rief Lelio; »sondern wie eine ächte Tochter Sions, die im Trauergewande auf dieser Stätte stehen muß. Hier erfüllte sich das Schicksal Ihres Volkes in seiner ganzen Herbe. Während hier 12000 gefangene Juden auf Kaiser Vespasians Geheiß Block auf Block zu diesem Riesenbau hinwälzten und zusammentürmten und bei der Anstrengung und Mühsal umkamen, wurde ihr eigener Tempel von den Römern zertrümmert, so daß kein Stein auf dem andern blieb. Sie mußten sklavisch zur Verherrlichung der Göttin Roma beitragen, während Rom das Volk Gottes samt dem Gottestempel vernichtete. Seitdem ist es auseinandergefallen in wandernde Stämme, an denen sich noch nicht die Verheißung des Propheten erfüllt: »Israel zieht hin zu seiner Ruhe.«
»Wie das schön klingt!« sagte Judith; »Israel zieht hin zu seiner Ruhe!« weit schöner als Opernarien und Freiheitshymnen! Wer spricht so, Lelio?«
»Ein Mann Ihres Volkes; aber keiner von denen, welche die modernen Opern komponieren und die modernen Freiheitshymnen dichten. Der Prophet Jesaias spricht so, ein Gottgesandter, der die Ankunft des Messias und die Erlösung verkündete und den ein gottloser König ums Leben brachte, weil göttliche Wahrheit dem irdischen Sinn verhaßt ist.«
»Warum kennen wir nicht die Schriften unserer größten Männer?« fragte Judith ihre Mutter.
»Bestes Kind,« erwiderte diese, »woher sollten wir Zeit nehmen, uns mit der alten Literatur zu beschäftigen, da wir ja an der modernen in vier bis fünf Sprachen übergenug haben.«
Lelio lächelte und Florentin nahm das Wort:
»Wie wär' es möglich, sich mit dergleichen Antiquitäten zu befrachten, da jetzt unsere ganze Gegenwart eigentlich eine Weissagung ist.«
»Welche, sich durch tanzende Tische ausdrückt, nicht wahr?« warf Judith ein.
»Oder durch Brigham Young, den Mormonenhäuptling und Konsorten!« rief Lelio.
»Nein, nein! Durch Jung-Deutschland und Jung-Israels Zeitungsblätter!« sagte Orest.
»Genug!« rief Florentin triumphierend, »durch Millionen Stimmen, die Ihr verhöhnt, weil Ihr sie nicht widerlegen könnt – und gegen die Ihr aufschreit, weil Ihr Euch vor ihnen fürchtet.«
»O nein,« sagte Lelio, »wir wissen, daß es von Anbeginn falsche Propheten gegeben hat, und daß sie großen Zulaufs sich erfreuten; denn sie reden zur Welt vom Weltgeist. Sie schauen sich um in den niederen Geistesschichten der Epoche nach der vorherrschenden Strömung und Richtung derselben und nach welchem Punkt hin diese die Fahne des Zeitgeistes drehen, die eben eine Wetterfahne nur ist und kein edles Banner von bestimmter Farbe, das seinen Ehrenplatz einnimmt. Jenen Punkt fassen die falschen Propheten in's Auge, erzählen Wunderdinge von ihm, zünden bengalisches Feuer um ihn an, streuen Weihrauch in dasselbe und machen sich zu dessen Priester. Die Luft weht irdisch schwül in jenen Niederungen. Da bläht sich eine falsche Wissenschaft auf, da fächelt sich die Selbstvergötterung mit Pfauenfedern, da spreizt sich der Hochmut, da flattert die Neugier umher, da schwelgt die Sinnlichkeit, da haucht jede böse Lust ihre giftigen Dämpfe aus; und in diesen Niederungen sind die falschen Propheten zu Hause, oder siedeln sie sich an. Da sind sie willkommen; da werden ihre Verheißungen gierig aufgenommen. Es sind ja die Spiegelbilder der eigenen Begierden! Der falschen Wissenschaft wird die Herrschaft ihres Idols: Erkenntnis, verheißen; der Selbstvergötterung die Herrschaft ihres Idols: Emanzipation von jeder höheren, heiligen Schranke; der Neugier ihr Idol: den Einblick in schauerlich interessante Mysterien; dem Hochmut: einen Thron für das Individuum; der Sinnlichkeit wird das uralte Wort zugerufen: wie Götter werdet ihr sein! So hört jeder von dem falschen Propheten das, was seine Begier verlangt, labt sich an dieser Zusage, hofft auf deren Verwirklichung, treibt und drängt nach seinen Kräften zu ihr hin, schwelgt in der Verheißung und preist den, der sie gemacht hat – so daß sich um ihn, nicht selten zu seinem eigenen Erstaunen, lawinenartig ein immenser Anhang bildet und mehr und mehr seinen Ruhm erhöht.«
»Aber worin besteht denn der Unterschied zwischen dem wahren und dem falschen Propheten – zwischen Isaias und Joe Smith, von dem ich gelesen, daß er das »Buch Mormon«, die nordamerikanische Bibel, aufgefunden haben wolle und, auf sie sich stützend, behaupte: seine Anhänger wären »die Heiligen der letzten Tage« und mit besonderen Kräften und Gaben ausgerüstet,« fragte Judith.
»Darin, daß die falschen Propheten die Idole in der Menschenbrust hegen und pflegen, schmeicheln und bereichern und dadurch ihren Weissagungen Eingang verschaffen – und daß die wahren Propheten diese Idole zu stürzen und eine höhere Geistesströmung in die Niederungen des Lebens zu lenken suchen. Die falschen Propheten fabeln von Menschenwitz und Menschentat; die wahren verkündeten eine Gottestat. Als diese sich erfüllte und Gott – Mensch wurde, brauchte die Welt keine Propheten mehr, denn ihr wurde fortan durch das Evangelium Weg und Ziel gewiesen. Heilige Seher hat es seitdem noch im Christentum gegeben, welche durch eine besondere Kraft die Dinge der Zukunft in der Zeit wie in der Ewigkeit in wunderbaren Gesichten schauten und ihnen Worte gaben. Allein diese Gesichte, diese Prophezeihungen des Zukünftigen wurzelten immer in der Offenbarung und waren im tiefsten Einklang mit dem Evangelium. Eine neue Wahrheit verhießen sie nicht; ein neues Wort Gottes wie Joe Smith sein Buch Mormon, erfanden sie nicht; und deshalb bildeten sie auch keine neue Sekten, sondern blieben schlichte, einfache Glieder der heiligen katholischen Kirche. Außerhalb derselben wimmelt es von Propheten – bei Muhamed anzufangen, bei Joe Smith und seinem Nachfolger Brigham Young vor der Hand zu endigen. Da sie eine neue Offenbarung oder eine neue Deutung derselben zu bringen vorgeben, so drücken sie sich selbst den Stempel der Unwahrheit auf und erweisen sich weniger klug, als die Orakel der vorchristlichen Welt, die, nach glaubwürdigem Zeugnis gleichzeitiger heidnischer Schriftsteller, verstummten, als Christus geboren wurde.«
»Mit jemand, dessen kategorischer Imperativ die katholische Kirche ist,« versetzte Florentin achselzuckend, »ist freilich nicht zu streiten.«
»Das kommt mir auch so vor,« sagte Judith gedankenvoll.
»Denn er sieht,« fuhr Florentin fort, »in dem Geistesrauschen, das über die Welt hinfegt, um einer neueren, besseren Ära die Bahn zu brechen, nur einen Orkan, der sein Idol stürzen wird.«
»Der Orkan der Zeit kann die Rechte, die Besitztümer, die freie Bewegung der Kirche hinwegfegen – wie das schon oftmals geschehen ist,« entgegnete Lelio ruhig. »Aber das Ewige in ihr wird vom Vergänglichen nicht gestürzt!«
»Idole sind Scheingötter, d. h. Götzen; und diese stürzen zusammen. In der katholischen Kirche aber ist Gott – und Er ist Der, der da ist. Der Urgrund alles Seins kann nicht gestürzt werden. Sein Geist beseelt, lenkt und führt die katholische Kirche, hat schon oft vom Zeitgeist ausgelöscht werden sollen, wurde aber immer fertig mit ihm und wird es auch werden mit dem Geistesrauschen, das sich, wie Graf Orestes sagt, in Jung-Deutschlands und Jung-Israels Zeitschriften vernehmen läßt. O!« fuhr er lebhaft fort, zu Judith gewendet, »muss man nicht auf dieser Stätte von unerschütterlicher, in göttlicher Verheißung wurzelnder Überzeugung ergriffen werden, daß das Evangelium und die Kirche, welche es bewahrt und verkündet, göttlichen Ursprunges und voll übernatürlichem Leben sein müssen? Hier wüteten während dreihundert Jahren alle Mächte der Welt und der Unterwelt gegen das Christentum. Hier wollten es die Imperatoren vertilgen, und die Philosophie es mit der Ferse zertreten, und das Volk es in Blut ertränken; und siehe da! nach drei Jahrhunderten hatte das Christenblut die heidnische Welt überflutet, so daß nur noch deren schwarze Trümmer aus dem rauchenden Meer von Blut und von Tränen aufstarrten. Hier vollzog sich der Untergang Israels; hier der Untergang des heidnischen Roms. Die Legionen besiegten die Juden und die Martyrer die Legionen. Für beide Siege blieb als Denkmal das Koloseum zurück; drum nannte ich es vorhin die Weltruine! und sehen Sie, Signora, die Trophäe des letzten Sieges: – dort!«
Lelio zeigte auf das schlichte hölzerne Kreuz, das von einigen Stufen umgeben, mitten in der Arena des Koliseums sich erhebt. Sie waren sämtlich zum Podium hinauf gestiegen, dem breiten Umlauf vor den Sitzen der Zuschauer bei den Gladiatorenspielen – und blickten von hier über eingestürztes Mauerwerk und grüne Schlingpflanzen in das schöne edle Oval der Arena hinab. Judith ließ sich von Lelio die Einrichtung des Gebäudes und die Art der Spiele, die hier stattfanden, beschreiben. Madame Miranes schauderte. Judith sagte:
»Welch' eine Entnervung des Charakters gehört dazu, um in eine solche Verwilderung zu fallen.«
»Ich kann sie begreifen!« fügte Orest. »Es ist ja unmöglich, in permanenter Bewunderung des Ballets zu bleiben. Das Auge stumpft sich ab; das Herz nimmt es übel, daß es durch das Auge keinen Eindruck mehr empfängt, der es zu einem rascheren Schlage anspornt, und mag nicht in der faden Mattigkeit verbleiben. Da gerät man denn in den Gegensatz, um die Sehnerven wieder zu beleben und dem Herzen wieder Spannkraft beizubringen. Beständig Honig ist der Zunge widerlich. Drum indischen Pfeffer her! So ging's den alten Römern – und wer weiß, was uns noch passiert.«
»Besser doch zum Schwarzbrot des Lebens greifen,« rief Judith.
»Um an der Kost Behagen zu finden, muss man eine sehr gesunde Natur haben,« bemerkte Lelio.
»Ich wundere mich aber sehr, Graf Orestes,« sagte Judith, »daß Sie solche affröse Neigungen dem Herzen zuschieben wollen! Schieben Sie es auf Erziehung, Beispiel, rohe Umgebung, schlechte Sitten oder sonst etwas – nur nicht auf's Herz.«
»Die höchst edlen Herzen leben und handeln nicht höchst brutal,« entgegnete Orest. »Das Ding, das in der Menschenbrust Tiktak macht, stellt den Zeiger auf unsere Handlungen.«
»O, er hat recht, Signora!« rief Lelio; »der Graf hat ganz recht! im Herzen sitzt der Wille des Menschen und macht ihn göttlich oder teuflisch oder gemein – je nachdem er das Herz mit seinen Neigungen zur Höhe treibt, zur Tiefe drängt.«
»Könnt' ich nur begreifen, Lelio,« sagte Judith fast ungeduldig, »wie Sie in so wenig Wochen sich ganz haben verwandeln können! Früher sprachen Sie in Fiorino's Styl und lebten in dessen Anschauungsart – allerdings schwunghafter! und jetzt ist das spurlos verschwunden, wie mit einem feuchten Schwamm von der Schiefertafel hinweg gewischt!«
»Das verspricht Dauer!« rief Florentin verhöhnend.
»Sie müssen bedenken, Signora,« sagte Lelio gelassen, »daß ich eine vortreffliche katholische Erziehung genossen und bis zu meinem achtzehnten Jahre in dem Kreise einer Familie aufgewachsen bin, die, so einfach bürgerlich sie ist, durch ächt christliche Bildung sich auszeichnet. Nichts macht den Geist so empfänglich für schöne und große Ideen, nichts hebt das Gefühl zu einer solchen Höhe, als die Kultur der Seele durch Religion. Unter diesen Einflüssen verlebte ich meine Kindheit, meine erste Jugend. Ein Bruder meines Vaters ist Pfarrer an der Kirche Maria della pace; ein Bruder meiner Mutter ist Benediktiner zu Sta. Scholastica, droben im Gebirg; eine ihrer Schwestern Klosterfrau bei den vive sepolte« .... –
»Gräßlich!« rief Judith; »bei den Lebendig-Begrabenen! o gräßlich!«
»So nennt sie der Volksmund – ja Signora!« fuhr Lelio ruhig fort. »Was ist denn darüber zu lamentieren? Begraben zu sein für die Bosheit und Gemeinheit der Welt, ist doch wahrlich kein Unglück! Trösten Sie sich, Signora! meine Mutter hat noch drei Brüder und zwei Schwestern, die sämtlich in glücklicher Ehe leben und zusammen wohl zwei Dutzend Kinder haben: die Welt stirbt nicht aus! aber die Seelen, die sich von ihr zurückgezogen haben, erhalten in der Familie durch ihr Gebet und ihr Beispiel ein gewisses himmlisches Element, ein übernatürliches Gut, das auch Denen zu gut kommt, die im Strome der Welt schwimmen. Als ich jetzt zu meinen Eltern zurückkam, brauchte ich mich nur unterzutauchen in die Erinnerungen meiner Jugend – und der ganze Ballast sündhafter Verkehrtheit fiel mir wie eiserne Bande von der Stirn, von der Brust, vom Auge. Ich wurde frei – denn ich trat aus der Luft des Todes in die des Lebens – aus der Knechtschaft in die Erlösung zurück.«
»Ja,« fugte Judith gedankenvoll, »es mögen geheimnisvolle Einflüsse um uns tätig sein und wir bemerken es nicht! oder wir fliehen wohl gar die heilsamen und suchen die unheilvollen auf.«
»So hab' ich es damals gemacht, als ich es vorzog, meinen Leidenschaften den Zügel schießen zu lassen, anstatt sie zu bändigen,« entgegnete Lelio.
»Signora,« sagte Orest unmutig, »Sie scheinen nach Rom gegangen zu sein, um sich ausschließlich mit Signor Lelio zu unterhalten.«
»Man folgt gern den Schicksalswendungen eines alten Freundes nach,« sagte sie.
»Jetzt wollen wir uns aber aus dem Staube machen!« rief Florentin. »Da kommt eine Prozession mit ihrem plärrenden, ohrenzerreißenden Gebet! das ist unaushaltbar.«
Durch den großen Eingangsbogen, vom Forum her, trat ein Kapuzinerpater, ein großes Kruzifix tragend, in die Arena, und eine Menge Menschen folgte ihm laut betend.
»Ah, die Kreuzwegandacht! es ist heute Freitag,« sagte Lelio.
»Was beginnen diese Leute?« fragte Judith; »weshalb knieen sie alle dort nieder und was bedeuten die blassen Gemälde, die ich eben jetzt erst an der inneren Ringmauer der Arena bemerke?«
»Nachdem das Koliseum seine erste Bestimmung verloren hatte und kein Zirkus für Gladiatorenkämpfe mehr war – Dank dem frommen Einsiedler Telemach, der vom Geist christlicher Liebe aus seiner Felsenzelle getrieben, sich mitten in die Arena flehend und weinend warf« ... –
»In was sich diese Mönche nicht überall einmischen!« unterbrach Florentin Lelio's Bericht. »Die Civilisation hätte diese Spiele ja von selbst ersterben lassen!«
»Und daß bis dahin noch ein paar tausend Menschen von anderen Menschen und zum Vergnügen von abermals Menschen hingewürgt wurden, hat freilich in den Augen der Civilisation gar nichts – für den armen Einsiedler aber sehr viel zu bedeuten;« entgegnete Lelio. »Die entmenschte Roheit war in diesem Punkte so hoch gestiegen, daß kein Gesetz des Kaisers Theodosius die blutgetränkte Arena in Rom zu schließen vermochte und noch weniger gelang es seinem Sohn, dem Kaiser Honorius. Telemach brachte es zu Stande, indem er sich opferte. Er stürzte sich zwischen die Kämpfer, um sie zu trennen, und rief die Zuschauer an, ihm beizustehen in diesem Bemühen. Allein die Gladiatoren, im Blutrausch des wütenden Kampfes, metzelten denjenigen nieder, der ihnen das Leben retten wollte, und Telemach's zerfleischter Leichnam lag vor den blutigen Schwertern beider Parteien. Da entsetzte sich das Volk über eine solche Barbarei, und nun wurde es dem Kaiser Honorius leicht, die Gladiatorenspiele aufzuheben. Wenig Jahre später wurde Rom von den wilden nordischen Völkern mehrmals bedroht und belagert, erobert und geplündert. Sie machten das Koliseum zu ihrer festen Burg und ihrem Lagerplatz. Als sie abzogen, war Rom verwüstet und durch Feuersbrünste verheert. Da wurde das Koliseum ein Steinbruch: aus seinen Blöcken erbaute man ganze Paläste. In eine unzerstörbare prächtige Ruine verwandelt stand es nun da, bis im Mittelalter die wilden Parteien des römischen Adels teils dem Papst, teils sich untereinander die Herrschaft der ewigen Stadt zu entreißen suchten und in blutigen Fehden, welche die fremden Könige zu ihrem Vorteil unterstützten und ausbeuteten, gräßliches Elend, Not und Schmach über die ewige Stadt brachten. Die Orsini und Colonna, Roms stolzeste Söhne, hausten schlimmer als Gothen und Vandalen, und das Koliseum mußte auch ihnen als Feste und Warte dienen, worin sie sich verschanzten und die Campagna überschauten. Dann wurde es wieder still um diese wunderbare Ruine, an die jeder Sturm in der Weltgeschichte heranbrauste, ohne ihre Schönheit zu beeinträchtigen.
»Im vorigen Jahrhundert lebte ein großer apostolischer Missionär, der selige Leonardo von Porto Mauricio, Franziskanerordens. Der erwog in seinem von Christusliebe glühenden Herzen, es gezieme sich, daß diese Stätte, über welche Martyrerblut in Strömen geflossen war, eine heilige Weihe empfange. So viele Kirchen Roms waren über den Gräbern derjenigen Martyrer erbaut, deren Namen, Taten und Leiden zur allgemeinen Kenntnis gekommen waren; aber die Armen, die Namenlosen, die Unbekannten, die hier ihre Seele in ihrem Glaubensbekenntnis aushauchten und deren Grab niemand kennt als Gott: sie waren es wohl wert, daß das Leid, welches sie hier geduldet – hier auch mit dem göttlichen Leiden in Verbindung gebracht werde, welches allein ihre Kraft und Stärke war. Der heilige Vater Papst Benedikt XIV. genehmigte die Bitte und den Vorschlag des seligen Leonardo. Es wurden jene kleinen Kapellen an der inneren Ringmauer errichtet, die so unscheinbar sind, daß sie den Charakter des Koliseums nicht stören, aber ihm gleichsam eine christliche Seele geben. In jeder der vierzehn Kapellen ist ein Gemälde, welches einen Moment aus dem bitteren Leiden und Sterben des Herrn darstellt: seinen Kreuzweg; also für jeden Christen der Weg und der Wegweiser zum Himmel, daher sehr heilsam zu betrachten und im Herzen zu erwägen und deshalb eine der beliebtesten Andachtsübungen des christlichen Volkes. Sehen Sie, Signora, vor jedem Bilde wird Halt gemacht – Station gemacht, ist der kirchliche Ausdruck – werden einige kurze Gebete gebetet, die sich auf den Moment des heiligen Leidens beziehen und eine kleine Nutzanwendung auf uns selbst machen. So wandelt die Seele an den vierzehn Stationen vorüber, im Geist den Herrn begleitend, von seiner Verurteilung bis zu seiner Grablegung, gekräftigt in ihrer Trübsal und zu ihren Kämpfen durch das leuchtende, rührende Vorbild ihres göttlichen Erlösers. Fiorino behauptet freilich, die stupiden Mönche mischten sich unnützer Weise in eine Menge von Dingen, die auch ohne sie zu Stande kommen würden; aber ich glaube nicht, daß die liebliche Kreuzwegandacht hier von selbst aus Sand und Steinen aufgeblüht wäre. Ein armer Mönch mußte kommen und sie aus seinem liebeflammenden Herzen hierher verpflanzen.«
»Armseliger Spott,« rief Florentin erbittert, »der meinen und Ihren gesunden Menschenverstand, Signora, nicht trifft. Aber das behaupte ich: ob diese Andacht hier oder im Mond gehalten wird, das ist für das wahre Wohl der Menschheit durchaus gleichgültig und deshalb hätte dieser erbärmliche Mönch sie in seinem Herzen oder in seinem Kloster behalten dürfen.«
»Wie denn überhaupt die beste Lebensäußerung der katholischen Kirche und die beste Kundgebung innigen Glaubens in Deinen Augen, Fiorino, die wäre – daß sie sich unsichtbar machten: nicht wahr?« sagte Lelio.
»Und ich bin der Ansicht,« sagte Judith, »daß das wahre Wohl der Menschheit außerordentlich gefördert wird, wenn man ihr durch Andachtsübungen Trost und Kräftigung beibringen kann. Das ist ein edles, einfaches Mittel und es freut mich viel mehr, Fiorino, die Kreuzwegandacht im Koliseum gehalten zu wissen, als im Monde.«
»Wenn Sie das Menschenwohl im stumpfen Dulden erblicken, Signora, so begreift sich Ihre Freude. Nur entadeln Sie den Menschen dadurch und berauben ihn seiner Würde,« entgegnete Florentin.
»O nein!« rief Lelio; »der betende Mensch ist sich mehr als ein anderer seiner Würde bewußt: er spricht mit Gott, als ein Kind zum Vater.«
»Lelio, ich bitte Dich, hör' auf mit Deinen Faseleien!« rief Florentin mit steigender Heftigkeit. »Es ist entsetzlich, einen vernünftigen Menschen – denn Du warst noch vor drei Monaten ein sehr vernünftiger Mensch, von hellem Kopf und klarer Einsicht – in einer so traurigen Verwirrung seiner Begriffe zu sehen. Der Mensch ist ein aus ewigen Naturgesetzen hervorgehendes, in sich selbst abgeschlossenes, selbstständiges Individuum, das sich innerhalb der Schranken jener Gesetze frei bewegt. Er kann sich nicht unsterblich machen, kann nicht immer zwanzig Jahre alt bleiben, kann nicht auf einem anderen Planeten sich ansiedeln und was dergleichen Schranken mehr sind, welche eine Bedingung seines Daseins ausmachen. Aber in die Abhängigkeit von einem sogenannten höheren Wesen ihn bringen, zu einem unmündigen Kinde ihn machen wollen, das jenem Wesen gegenüber zu bitten, zu danken, zu wünschen, zu jammern hätte, um es sich geneigt zu machen – ja, das ist eben ein Märchen, womit man die Völker in den Tagen der Unwissenheit am Gängelbande führt. Ein solches höheres Wesen kann schon deshalb gar nicht für uns existieren, weil kein Zusammenhang zwischen ihm und uns besteht.«
»Was wäre denn das Leben Deines Geistes und Deine unsterbliche Seele?« fragte Lelio.
»Der Geist ist ein Erzeugnis der Tätigkeit des Gehirns,« erwiderte Florentin, »entwickelt sich mit dem Gehirn und stirbt mit ihm dahin. Das läßt sich beobachten von der Wiege bis zum Grabe, vom Kinde bis zur Leiche. Unsterbliche Seelen hat die Wissenschaft noch nicht entdeckt. Sie fallen mitsamt jenem höheren Wesen, jenem außer- und überweltlichen Gott, in die Kategorie der Fabel. Spricht also ein Mensch zu diesem Wahngebilde, so macht er den Eindruck eines Fieberkranken, der seine Phantasien für Wahrheit hält. Wie kann da von der Würde des Menschen die Rede sein? Ein aufrichtiger Mensch, der nicht mit sich selbst und nicht für andere geflissentlich Komödie spielt – was könnte der wohl in einer solchen betenden Situation sagen?«
»Vergib uns unsere Schuld,« erwiderte Lelio ernst.
Florentin erbleichte und schwieg. Orest rief: »Allons, Florentin, Antwort! Soll der römische Katholik das letzte Wort haben gegen Jung-Deutschlands freien Forscher?«
Madame Miranes aber, die eine grenzenlose Langeweile bei solchen Gesprächen empfand und gar nicht begriff, wie Judith ihnen stets mit Interesse folgen möge – benutzte den günstigen Augenblick und rief:
»Barmherzigkeit! wir werden hier auch zu Martyrern! wir erfrieren in diesen Steinmassen, denn die Sonne ist fast untergegangen und die feuchte Novemberluft ist so schädlich.«
Die Gesellschaft brach auf, durchwanderte noch die übrigen Gänge und Räume des Koliseums und stieg dann wieder in die Arena hinab. Die Kreuzwegandacht war zu Ende. Der selige Leonardo von Porto Mauricio hat nicht bloß die Errichtung der vierzehn Stationskapellchen im Koliseum bewerkstelligt, sondern auch eine Bruderschaft gegründet, welche die Verpflichtung übernahm und bis zur Stunde erfüllt, jeden Freitag daselbst die Anbetung des Gekreuzigten öffentlich zu verkünden. Ihr schließen sich gewöhnlich andere Andächtige an; und einige von diesen knieten noch betend an verschiedenen Stationen. Auch zwei Kapuziner, von denen der eine einen Sack über die Schulter gehängt trug. Als Judith an ihnen vorüberging, stockte ihr Schritt unwillkürlich und Florentin rief laut genug, um von den Kapuzinern gehört zu werden:
»Der Auswurf der Menschheit: Tagediebe. Faullenzer, Bettler und Heuchler in einer Person!«
»Die Blüte des Christentums und deshalb von den modernen Heiden gehaßt!« rief Lelio ebenso laut.
Die Kapuziner befolgten den Rat, den ein alter ägyptischer Einsiedler einem Jüngling gab: sich gegen Lob und Tadel der Menschen wie eine Bildsäule zu verhalten. Judith sagte im Weitergehen:
»Fiorino, Sie machen es mir unmöglich, Sie hier in meiner Begleitung aufzunehmen. Solche rohe Äußerungen will ich nicht hören – und umso weniger, als der eine Kapuziner ein Mann ist ... o ein unvergleichlicher Mann! Hast Du ihn nicht erkannt, liebe Mutter? Ernest war es!«
»Bestes Kind,« entgegnete Madame Miranes, »glaubst Du, Ernest werde hier auf seine eigene Hand lebende Bilder aufführen?«
»Ernest war es!« wiederholte Judith; »älter geworden, wie man eben wird in acht Jahren, verändert durch die Tracht .... aber er war es. Damals in Frankfurt,« sagte sie zu Orest, »war ich seine Schülerin in der Malerei. Jetzt ist er Kapuziner und ich hin Opernsängerin! – welche Kluft! ich möchte ihn nicht wiedersehen.«
»Bravissimo, Signora!« rief Florentin.
»Wenn Sie mich loben, Signor Fiorino,« entgegnete sie kalt, »so fürchte ich Unrecht zu haben. Was sagt Graf Orestes?« wendete sie mit ihrem bezaubernden Lächeln zu diesem sich hin.
»Diesmal hat Florentin recht,« erwiderte Orest. »Die Kapuziner sind äußerst respektable Männer, ich kenne sie von meiner Heimat und Kindheit her und in ihrem Kloster am Main ist die Begräbnisgruft meiner Familie: aber mit Ihnen, Judith, und mit dem Leben haben sie nichts gemein.« –
Sie fuhren nach dem Corso, wo Judith eine große, elegante Wohnung hatte. Dort angelangt, verabschiedete sich Orest, setzte sich auf sein Pferd, das im Hof des Palastes ihn erwartete, und ritt der Porta del popolo und der Milvischen Brücke zu – denn auf der Straße sollte heute Graf Damian mit Corona von Florenz nach Rom kommen.
Orest schien keine Eile zu haben, die Seinen wiederzusehen. Er ritt im Schritt, nichts weniger als heiter war sein Ausdruck und das schlanke Vollblutpferd fühlte mit Unbehagen und mit nervösem Unwillen die Verstimmung des Reiters an dessen unstäter Hand. Orest dachte bei sich selbst: O hätte ich eine Wünschelrute! ich versetzte den Schwiegerpapa von dem ponte molle nach Windeck zurück! Corona allein – würde der Vernunft Gehör geben, aber er! aber er! Hyazinth ist freilich auch da .... als Moralprediger – aber als Prediger in der Wüste! auf einen Bruder hat man nicht Rücksicht zu nehmen, wenn es das Lebensglück gilt – und Hyazinth hat das zuerst bewiesen, als er, ganz gegen meinen Rat und meine Ansicht, geistlich wurde. Uriel will auch kommen – schreiben sie. So wäre dann die Familie ziemlich beisammen! allein Uriel macht auch Extravaganzen .... in seiner Art! drum ist mir niemand lästig als der Papa. Schwiegervater, Pflegevater, Onkel und Vormund in einer Person – das gibt eine Respektsperson sondergleichen ab, wenn man auch längst der Vormundschaft entwachsen ist. – – Orest fühlte sich dem Grafen Damian gegenüber deshalb unfrei in seinen Projekten, weil er voraussah, daß derselbe sie ganz kalt und ohne die mindeste Berufung auf religiöse Grundsätze und einen übernatürlichen Standpunkt abfertigen werde. Seinen Brüdern war er entschlossen zu antworten, daß sie mit ihren exzentrischen und schwärmerischen Ideen nicht im Stande wären, die Herrschaft der großen Leidenschaften zu begreifen; allein dem Grafen Damian, der mit ihm, was den Egoismus betraf, ungefähr auf gleicher Stufe stand – dem scheute er sich, Rechenschaft ablegen zu sollen. Seine Hoffnung war Corona. O! seufzte er aus tiefster Brust, die Jagd nach dem ersehnten Glück ist etwas Verzehrendes! Wäre nicht Judith mein Ziel und erreichte ich es nicht bald – ich weiß nicht, ob ich noch lange die Folter des Lebens aushalten könnte. – – Unfern des ponte molle traf er die Reisenden, stieg zu ihnen in den Wagen und gab sein Pferd seinem Reitknecht.
Graf Damian war seinem Schwiegersohn nicht sehr gewogen; es trafen zwei selbstsüchtige Naturen aufeinander, welche beide Rücksichten forderten, aber nicht nahmen, und welche beide geneigt waren, im Universum nur sich selbst und ihre Persönlichkeit zu sehen. Diese überwiegende Wertschätzung seiner Persönlichkeit hatte sich bei Graf Damian durch seine Liebe für Corona nur gesteigert, gleichsam ausgedehnt. Er zog seine Tochter in den Kreis seines Ichs hinein und verlangte, sie glücklich zu sehen, um ihr Glück zu genießen. Dahin ließ es aber Orest nicht kommen und so fühlte er sich beeinträchtigt in seinen so äußerst edlen Glücksansprüchen, die ihm umso rechtmäßiger erschienen, als sie ja nur das Glück der Tochter verlangten. Der Mensch hat immer allerhand Scheingründe, um seine Schwächen – und gerade sie! als Tugenden darzustellen; denn seine Schwächen – sind seine Schoßkinder! seine großen Fehler wäre er wohl meistens selbst gerne los. – Eine gewisse Spannung zwischen dem Schwiegervater und Schwiegersohn ergab sich aus diesen Verhältnissen, und Corona, Zwischen beiden stehend, mußte noch gar die Vermittlerin abgeben und das Öl ihrer schonenden Milde über die bitteren Fluten der Gereiztheit und des Trotzes sänftigend ausgießen.
Hyazinth, der zur Vervollkommnung seiner theologischen Studien auf ein Jahr nach Rom gegangen war und dort im deutschen Priesterhause Santa Maria delle anime lebte, hatte für die Ankommenden eine Wohnung am spanischen Platz genommen und erwartete sie in derselben. Sie war sehr freundlich und empfing die müden Reisenden mit behaglichem Kaminfeuer und Lampenlicht.
»Guter Hyazinth!« rief Graf Damian und rieb sich vergnügt die Hände, »bei Dir ist's warm und häuslich. Bisher war es recht frostig!«
»Du bist hier bei Dir und nicht bei mir, lieber Onkel!« entgegnete Hyazinth.
»Ich weiß! ich weiß!« rief der Graf. »Es war nur, um Dir zu sagen, daß Du Deine Sache vortrefflich gemacht hast.«
Die Koffer wurden gebracht und die Zimmer verteilt. Als der Graf in den Salon zurückkam, sagte er:
»Es ist aber ein Zimmer zu wenig, Hyazinth! Du hast wohl nicht auf Lili und ihre Bonne gerechnet. Wo Orest sein Unterkommen finden soll, weiß ich nicht.«
Orest saß am Kamin und Felicitas auf seinen Knien. Mit einem Anflug von Verlegenheit sagte er:
»Da diese Wohnung sehr hübsch ist und bequem liegt, so riet ich Hyazinth zu ihrer Wahl. Eine Stallung für meine Pferde hat sie aber nicht, und da ich diese nicht einzig und allein der Obhut eines englischen Jockeys überlassen kann, der zwar exzellent ist, doch kein anderes Wort spricht, als Yorkshire-Englisch: so Hause ich mit ihnen im Hotel Meloni – ganz in der Nähe.«
»Unbequeme Einrichtung!« brummte der Graf; »da muß immer ein Diener aus den Beinen sein, um mit Aufträgen, Anfragen ecettera. hin und her zu laufen!«
Sein Mißmut würde zugenommen haben, wenn er gewußt hätte, daß das Hotel Melani mit Nichten in der Nähe lag, sondern an der Piazza del popolo und durch die ganze lange Straße del Condotti vom spanischen Platz getrennt. So hatte Orest es sich ausgedacht, um freier in seinen Bewegungen zu sein. Corona ahnte nichts. Gutes aus dieser Einrichtung; Orest aber fragte:
»Du wirst für Dich und Lili gewiß mit dieser Wohnung zufrieden sein, Corona, denn davon abgesehen, daß sie eine angenehme und gesunde Lage hat, brauchst Du nur die sogenannte spanische Treppe hinaufzusteigen, so bist Du auf der herrlichen Promenade des Monte Pincio und stehst zugleich vor der Kirche Trinità dei Monti, welche den Damen vom Sacré Coeur gehört.«
»Das ist gut!« sagte sie, »das werden wir benutzen, das brauchen wir.«
Es war etwas so Eisiges in Orest's Ton und Benehmen, daß sich ihr Herz erschauernd zusammenzog und daß sie, als ob ihre Seele prophetisch gewesen wäre, zu sich selbst sprach: Hier werd' ich recht den Kreuzweg zu gehen haben! Geheimnisvolles Vermögen des inneren Menschen, daß er zuweilen am Vorabend schwerer Geschicke oder auf dem Wendepunkt seines Schicksals Andeutungen vernimmt, die vielleicht sein Schutzengel zur Warnung oder zur Vorbereitung ihm gibt! Hyazinth fragte viel nach Uriel und nach Onkel Levin und mußte viel von Rom erzählen und von allem, was man hier zu tun und zu sehen habe. Orest war einsilbig und fragte wenig. Noch weniger fragte man ihn, was er getrieben, wie und mit wem er am Genfersee und in Genua gelebt habe. Die Leidenschaft ist eine Mauer, welche den Menschen umgibt, vereinzelt, und allem unzugänglich macht, was nicht sie ist. Er fühlte sich elend zwischen denen, welche seinem Herzen die Nächsten – und dessen Glück und Freude hätten sein sollen; ein Fremdling am häuslichen Herd, ohne Sympathie für das reine, friedliche und doch so reichhaltige Leben, welches ihn umblühte. Er langweilte sich bei diesen Gesprächen, bei diesen Fragen nach Personen und Dingen, die ihm, durch die fürchterliche Kälte, welche die Leidenschaft für alles äußert, was ihren Gegenstand nicht betrifft, tief gleichgiltig waren.
Die Leidenschaft ist etwas Entsetzliches und doch verwechselt die Welt sie häufig mit der Liebe! Leidenschaft ist der von Gott ab- und der Kreatur zugewendete Hunger des Herzens, ein unstillbarer, nagender, wütender Hunger, der, ähnlich dem physischen, den Menschen so entmenscht, daß er ihn fähig macht, wenn er den höchsten Grad erreicht hat, den Nächsten zu schlachten, den Bruder zu morden und von dessen Fleisch und Blut das Leben zu fristen. Dasselbe tut in der sittlichen Welt die Leidenschaft; sie verlangt ihre Befriedigung, ohne zu achten auf die Tränen, auf das Herzeleid, auf den Jammer, welche sie denen bereitet, die ihr im Wege stehen und die sie gleichgiltig beseitigt; ohne zu achten der Schmach, der Entwürdigung, der Entmenschung, welche ein solches Verfahren nach sich zieht. Sie ist eine Feuersbrunst: auf einem Punkt wilde, zügellose, gierige Flammen und rings umher Verwüstung und Elend, Klage und Trauer und zerstörtes Glück. Sie ist die vollkommenste Blüte des Egoismus; sie isoliert den Menschen in seinem Ich – gegenüber der wundervollen Gemeinschaft der Liebe, die Gott gewollt und angeordnet hat, indem er den Seelen sein Ebenbild gab. Gott ist die Liebe: darum liebt die Seele; darum ist Liebe – ihr Leben, ihr Wesen, ihr Zusammenhang mit Gott und durch ihn mit aller Kreatur, folglich ist sie der Leidenschaft geradezu entgegengesetzt. Die göttliche Liebe befriedigt in übernatürlicher Weise den Hunger des Herzens, das ein übernatürliches Ideal von Glück in sich trägt. Die göttliche Liebe entzündet in übernatürlicher Weise die Flamme des Herzens, das sich sehnt zu verlodern im heiligen Feuer des Opfers. Die göttliche Liebe entfaltet in übernatürlicher Weise die Kräfte und Neigungen des Herzens zu einer solchen Blüte, daß ein Paradies von Tugenden darin aufgeht. Und das ist nun das wunderbare Geheimnis, daß der von der Erbsünde angehauchte und von der eigenen Sünde befleckte Mensch dennoch aus freier Wahl der übernatürlichen Liebe sich zuwenden kann. Das Urgeheimnis von der Freiheit der Liebe, die im Paradiese an egoistische Leidenschaft sich gefangen gab, wird jedem Menschen zur Lösung vorgelegt. Um es richtig zu lösen – dazu hat der Mensch seinen Willen, der, wenn's ein guter Wille ist, von der göttlichen Gnade unterstützt wird. Nicht jeder löst es bei dem ersten Versuch zu seinem Heil. Auf einen Hyazinth, dem es gelang, von der Wiege an in dem leidenschaftslosen Frieden einer übernatürlichen Liebe zu wandeln – kommt mancher, ach mancher Uriel, der eine Welt braucht, mit ihren Bitterkeiten und Schmerzen, ihren Erfahrungen und Enttäuschungen, ihren Kämpfen und Stürmen, um sich zu besinnen auf das verlorene Gut der übernatürlichen Liebe, das den Hunger seines Herzens stillen kann. Und auf einen Uriel kommen viele, ach viele Orests, die es vergessen haben, daß die Liebe in der Leidenschaft ihnen verloren ging und daß es, um den Hunger des Herzens zu stillen, etwas anderes gibt, als die Speise im Trog der Tiere.
Während Corona dachte, jetzt beginne ihr Kreuzweg, dachte Orest, jetzt sei der Augenblick gekommen, der durch einen kühnen Schritt seinem Leben eine glückliche Wendung geben könne. Als die Familie auseinander ging, war es noch nicht zu spät, um zu Judith zu eilen, die bis Mitternacht Menschen bei sich aus- und eingehen ließ. Es waren an diesem Abend ihrer so viele, daß er sich unmutig in das letzte Zimmer zurückzog, wo er um niemand sich zu kümmern brauchte und ziemlich gedankenlos ein Album durchblätterte. Nach einiger Zeit gesellte sich Florentin zu ihm und fragte:
»Weißt Du, daß Hyazinth hier ist?«
»Gewiß! längst! er studiert hier schon seit einem halben Jahr.«
»Und was sagt er dazu, Dich in dieser Gesellschaft in Rom zu treffen?«
»Da er nicht Deine Insolenz hat, so schweigt er.«
»O,« sagte Florentin, »Du und ich, wir sind Seelenbrüder – Du kannst mir sagen, was Du willst – ich nehme Dir nichts übel – und um so weniger, als ich Dich aufrichtig bedaure, denn Du verlierst bei der stolzen Judith Deine Zeit und Deine Mühe.«
»Wer gibt Dir das Recht in diesem Tone zu mir zu sprechen?« fuhr Orest mit brausendem Zorn auf.
»Unsere alte Freundschaft, unsere gemeinsame Kindheit und erste Jugend, unsere frühere Vertraulichkeit. Wir hatten ja nie Geheimnisse vor einander. Freilich ist diese Vertraulichkeit geschwunden, seitdem Du mich bei Judith gefunden hast ....« –
»Sage lieber, seitdem Du auf politischem Gebiet einen Weg betreten hast, den ich verabscheue und der mir jeden Gedanken an Vertraulichkeit in der Brust erstickt,« unterbrach ihn Orest.
»O nein!« erwiderte Florentin; »damals in London lag es nur an mir, unsere alte Vertraulichkeit wieder anzuknüpfen. Doch waren meine Verhältnisse damals so, daß ich nicht Lust dazu hatte.«
»Und jetzt hab' ich keine Lust dazu!« sagte Orest abbrechend; denn es war ihm in der Tat äußerst unangenehm, gerade Florentin in Judith's nächster Umgebung sehen zu müssen; teils weil er ihn zu genau kannte, um Florentins Umgang für irgend ein weibliches Wesen wünschenswert zu finden; teils, weil er sich durch Florentin jeden Augenblick an Windeck und an seine Familie erinnert fühlte. Die gemeinste aller Eigenschaften, der Neid, sprach dann auch noch ganz leise sein Wörtchen mit: Florentin war immer in Judiths Gesellschaft und er so selten.
»Ich beklage Dich unaussprechlich!« fuhr Florentin mit einem Ton fort, der keine Spur von Teilnahme durchklingen ließ. »Zwiefache Fesseln zu tragen – hier am Herzen, dort an der Hand: das muss mehr sein, als ein Mensch aushalten kann.«
»Darin hast Du Recht,« sagte Orest dumpf; »aber warum sprichst Du so?«
»Um Dich zu fragen, weshalb Du nicht die eine Fessel sprengst und dann der anderen ungehindert folgst?«
Orest entsetzte sich, seine geheimsten Absichten von Florentin erraten zu sehen – und schwieg.
»Sieh!« fuhr dieser fort, »Du bist nicht umsonst nach Rom gekommen. Bei der römischen Kurie ist mit Geld – alles möglich und dann auch wieder unmöglich zu machen. Lass Deine Ehe für null und nichtig erklären, so bist Du frei. Wie das zu bewerkstelligen ist, weiß ich natürlich nicht; aber möglich ist's! versteht sich für Geld. Du weißt, wie ich von jeher über die Ehe gedacht habe, daß sie nämlich nicht als ein äußerer Zwang, sobald die Weihe der Herzenszustimmung fehlt, haltbar sei. Ich wünsche sehr, daß Du meinen Grundsatz in Ausübung bringen mögest. Als ich heute zufällig an Hyazinth vorüberstreifte, schlug mein Haß gegen diese Vertreter der Finsternis einmal wieder in hellen Flammen auf. In der politischen Welt ist in diesem Augenblick nichts zu machen gegen das Nachteulengeschlecht. Tatlos muß man dasitzen und zusehen, wie sie Einfluß gewinnen und Herrschaft an sich reißen. Da nahm ich mir vor, mit erneutem Eifer auf jedem Gebiet sie zu bekämpfen, wo ich ihre Gesetze finden würde. Und wo findet das mehr statt und wo sprechen sie der menschlichen Freiheit mehr Hohn, als in der Ehe. Das Wörtchen »muß« sollte eigentlich gar nicht existieren im Wörterbuch der civilisierten Menschheit. In Verbindung gesetzt mit der Herzensneigung, ist es ein Widersinn; denn die Neigung hängt nicht von uns ab, ist durchaus unwillkürlich und schaudert heimlich vor der Vorstellung zurück, gerade nur diese eine Frau, diesen einen Mann bis zum letzten Atemzug ausschließlich lieben zu müssen.«
»Und doch gibt es ein »muß« in der Liebe!« sagte Orest. »Man ist nicht darauf ausgegangen, diese oder jene Person zu lieben; allein sie besitzt den Zauber – und man muß sie lieben. Von der Cleopatra wird erzählt, sie habe einen orientalischen Talisman besessen, der die Wirkung hatte, daß man sie lieben mußte und nie vergessen konnte.«
»Dieses »Muß« ist ein anderes!« rief Florentin; »es entspringt aus einer inneren Nötigung, aber nicht aus einem äußeren Zwang.«
So redeten sie sich immer tiefer in die Verkehrtheit hinein, ohne zu bedenken, daß allerdings das Erwachen einer Neigung unwillkürlich – hingegen ganz dem Willen anheim gegeben ist, ihr zu folgen oder ihr zu widerstehen – und daß der Widerstand deshalb so selten mit aller Kraft erfolgt, weil die Neigung den Gelüsten, der verderbten Natur schmeichelt. Florentin verfolgte seine Theorie. Orest seine Wünsche; und obgleich Orest sonst bei jeder Gelegenheit Florentins Ansichten mit Spott und Geringschätzung abfertigte und seine Theorien zuweilen lächerlich und immer unhaltbar fand, so hörte er ihm doch jetzt mit Wohlgefallen zu, weil Florentin im Sinn seiner Leidenschaft sprach und seinen Gedanken Worte lieh. Endlich wurde es still im Salon; die Stimmen verhallten, die Türen öffneten und schlossen sich; Orest stand auf und sagte zu Florentin:
»Heute Abend ist mein Schwiegervater gekommen .... mit Corona.«
»Und Du bist hier!« rief Florentin staunend.
»Ja, ich habe noch mit Judith zu sprechen.«
Da trat sie ein und sagte:
»Hier ist sie! was wünscht Graf Orestes? Ach, ich bin recht froh, noch ein paar stille Augenblicke mit Ihnen zu sprechen. Man wird so betäubt von all dem leeren sinnlosen Gerede, daß der Kopf schmerzt und schwindelt.«
»Auch der Ruhm hat seine Bürden,« sagte Florentin, »und die Lorbeerkränze, die, von Tausenden gesucht und nicht errungen, Ihre schöne Stirne krönen, sind Ihnen zur Last. Sie sollten fortan nur Rosenkronen tragen, Signora.«
»Als ob die Rosen keine Dornen hätten!« sagte Judith schwermütig lächelnd und nickte ihm freundlich zu, als er das Zimmer verließ. Dann sprach sie:
»Nun, Graf Orestes, was haben Sie mir zu sagen? Sie sehen bewegt aus. Ist's Leid, ist's Freude?«
Sie behandelte ihn ganz anders, als an jenem Abend in der Villa Diodati; traulicher, inniger und doch mit edler Zurückhaltung. Sie wollte eben Gräfin Windeck werden und glaubte seiner sicher genug zu sein, um nicht mehr nötig zu haben, ihn durch den Wechsel von Abstoßen und Anziehen zu fesseln. Orest schöpfte tief Atem und sagte:
»Judith, ich muß mit Ihnen über die Zukunft reden – die Ihre und die meine. Bleiben Sie bei Ihrem Wort: alles für alles?«
»Ich bleibe dabei.«
»Werden Sie mir angehören, wenn ich in voller Freiheit um das Glück werbe, Sie zu besitzen?«
»Als Gräfin Windeck – ja!«
»Werden Sie nicht zurückschrecken vor Kämpfen, Stürmen, Widerwärtigkeiten, Quälereien, peinlichen Auftritten ...«
»Aber warum das alles!« unterbrach sie ihn.
»Weil meine Ehe gelöst werden muß und weil meine Frau jetzt hier ist.«
»Sein Sie unbesorgt,« entgegnete sie lächelnd; »ich habe Mut und Beharrlichkeit, wenn das Ziel es wert ist. Ich erschrecke nicht vor Unannehmlichkeiten und Hindernisse zu überwinden ist ein Sporn des Willens. Ich will auch einmal glücklich sein! ich will nicht umsonst gelebt haben! ich bin dieser Existenz hinter Schminke und Lampen und unter stupidem Beifallsgetöse satt und übersatt! ich habe sie nicht zu meinem Vergnügen gewählt, bin nicht für sie erzogen worden, habe nur durch sie Kindespflicht erfüllen wollen und habe nie – aber auch nie! eine wahre Befriedigung in ihr gefunden. Die Eitelkeit feierte ihre Triumphe; die Huldigungen, die mich in Wolken von Weihrauch hüllten, gaben mir zuweilen eine süße Berauschung; allein es war und blieb – ein Rausch und er ließ eine Leere zurück, die mein Herz tief und immer tiefer durchgräbt und meine Sehnsucht nach Glück mehr und mehr steigert. Und fragen Sie mich, Orest: Was ist das – Dein Glück? so antworte ich Ihnen: Es ist der ruhige und ungestörte Besitz eines treuen Herzens. Ihres Herzens, Orest! Sie sind treu! Sie zwingen mich, diese Zuversicht zu Ihnen zu fassen. Wer Jahre lang so um Liebe geworben hat, wie Sie – und jetzt so bereit ist, alles wegzuwerfen, was sie vom Ziel zurückhält, der ist nicht flatterhaft, nicht leichtsinnig, nicht schwankend. Der ist treuer Liebe fähig und die findet immer Gegenliebe.«
Nie hatte Judith so zu Orest gesprochen; aber sie erkannte, der Augenblick sei nun da, der über ihre Zukunft entscheide und Orest müsse, nicht bloß von seiner, sondern auch von ihrer Liebe getrieben, seine Ketten brechen. Als er zu ihren Füßen niedersank und keine Worte fand, um die Wonne auszusprechen, die ihn überströmte, sagte sie zärtlich:
»Stehen Sie auf, Orest! ich müßte Ihnen zu Füßen fallen und Sie um Vergebung bitten, daß ich so lange Sie gequält und in Ungewißheit gehalten – daß ich scheinbar ein kokettes Spiel mit Ihnen getrieben habe. Allein jetzt bin ich vor Ihnen gerechtfertigt, nicht wahr? und Sie selbst werden diese Prüfung, die Ihnen oft weh getan hat, jetzt billigen, nicht wahr? überdas,« setzte sie lächelnd hinzu, »ist es besser, die allgemeine Regel inne zu halten, daß die Herren den Damen zu Füßen liegen. Weicht man von ihr ab, kommt selten ein glückliches Verhältnis dabei heraus.«
Unwillkürlich tauchte jener Moment in seinem Gedächtnis auf, als Corona mit der Liebe der Engel vor ihm gekniet und ihn gebeten hatte, seine Seele zu retten. Diese Erinnerung kam zu höchst ungelegener Zeit, denn Orest war längst über den Punkt hinweg, wo noch ein Kampf zwischen dem Guten und Bösen geführt wird und wo folglich eine heilsame Erinnerung die gute Sache kräftigen kann. Jetzt störte sie ihn nur und er rief:
»Wie sehr verstehen Sie sich auf weibliche Würde und auf die richtige Behandlung des männlichem Charakters! Sie sind geschaffen, um angebetet zu werden und deshalb ist es mir eine quälende Vorstellung, Sie durch meine unglücklichen Verhältnisse in eine Menge von Verdrießlichkeiten zu stürzen.«
»Was steht mir denn eigentlich bevor?« fragte sie.
»Nun, zuerst und auf jeden Fall müssen Sie sich taufen lassen, arme Judith. Dem höchsten Wesen, das von uns verehrt wird, ist es selbstverständlich äußerst gleichgültig, in welcher Religionsform der Mensch diese Verehrung kund gibt. Da aber in Europa die christliche so vorherrschend ist, daß sich die bürgerliche Gesetzgebung großenteils auf dem Boden ihrer Gesetze entfaltet hat: so sind gewisse Bedingungen für gewisse Verhältnisse unumgänglich zu erfüllen, um diese giltig zu machen; und dazu gehört, daß die Ehe von Christen eingegangen werde.«
»Orest!« sagte Judith finster, »es ist mir in meinem Leben noch kein Christ vorgekommen, der besser, edler, reiner gewesen wäre, als ein Jude. Ich nehme Ernest aus. Muß ich also eine christliche Religionsform annehmen: so wünsche ich, daß es die katholische sei, denn er war Katholik.«
»Das muß sich nach den Umständen richten, teure Judith. Die katholische könnte uns Verlegenheit bereiten. Es wird sich herausstellen, was Sie zu wählen haben: ohne Taufe geht es nicht!«
»Wohlan, Orest! Sie bringen Ihre Opfer und ich werde das meine bringen. Aber es ruft in mir eine fürchterliche Erinnerung wach. Ich hatte eine ältere Schwester, ein so schönes, liebenswürdiges, talentreiches, gutes und kluges Mädchen, daß sie ihren königlichen Namen Esther zu tragen verdiente. Es war in Paris und ich damals noch zu jung, um in die Welt zu gehen. Ein junger Mann aus einer vornehmen Familie faßte eine heftige Neigung zu ihr, die sie leider! erwiderte. Da er von seiner Verbindung mit ihr sprach, so erklärte er, es könne nicht mit einer Jüdin geschehen und sie müsse sich taufen lassen und Christin werden. Esther und meine Eltern willigten ein. Esther wurde Christin; aber die Ehe fand nicht statt! ich habe nie dies traurige Geheimnis ergründet; aber ich weiß, daß der Christ sich von Esther zurückzog, sich auf eine diplomatische Mission begab und daß Esther am gebrochenen Herzen starb, während einige Herren und Damen dann und wann bei ihr erschienen, welche sich um ihre Taufe und um den Unterricht, der dabei stattfinden mußte, bekümmert hatten – und welche ihr immer die Bibel empfahlen. Die müsse sie lesen und glauben müsse sie, daß sie durch den Tod Christi vor Gott gerechtfertigt sei. Und wenn die arme Esther versicherte: das glaube sie sehr gern und von ganzem Herzen; aber sie sterbe vor Gram und ein Buch könne sie nicht trösten, nicht beruhigen; so gab man ihr zur Antwort, dann fehle ihr der rechte Glaube und sie möge nur Sonntags in die Predigt gehen. Sie tats einige Male; aber sie kam stets traurig zurück und sagte mir zuweilen: »Ach Judith! das ist keine Religion für ein schwaches leidendes Mädchenherz! da ist kein Stab, um es zu stützen, da ist keine Kraft, die ihm überwinden hilft, da ist kein Balsam, der seine Wunden heilt!« Nun, sie grämte sich zu Tode, die arme, geliebte Esther! bei neunzehn Jahren sank sie in's Grab – ganz das, was die Dichter nennen: eine geknickte Rose. Mir aber hat ihr Schicksal etwas Hartes gegeben, Eisen ums Herz. Ich trat nach zwei Jahren in die Welt ein, mit Haß und Groll gegen eine Welt, in welcher für ein Wesen wie Esther kein Platz war; mit Haß und Groll gegen die Christen, von denen einer ihren Tod auf dem Gewissen – und keiner sie getröstet hatte. Was sind das für Diener und Lehrer einer Religion, die damit trösten wollen, daß sie sprechen: Lies die Bibel! Sei sie geschrieben von Gott und seinen Heiligen – ich wills glauben! aber jeder Leser macht die Deutung, die Anwendung nach dem Maß seines Geistes und trägt folglich seine Leidenschaften, seine Neigungen, ja sein ganzes Ich in deren Verständnis hinein; und was hat er dann gewonnen? Vielleicht die Wahrheiten, die er eben finden will. Aber ist das die Wahrheit, welche die Offenbarung verkündet? Ach, es wäre mir entsetzlich, wenn ich protestantisch werden müßte, jetzt, da die Erinnerung an Esther mir so lebendig geworden ist! Ach, Orest, dies ist eine schlimme Vorbedeutung! Auch ich werde unglücklich werden und trostlos dahin schmachten!«
Tränen standen in Judiths Augen und die tiefste Bewegung malte sich in ihren Zügen. So gewaltig war die Erschütterung, die ihr junges Herz durch das Schicksal der Schwester erfahren hatte, daß sie noch jetzt, nach mehr als zehn Jahren in die schmerzlichste Aufregung geriet. Orest aber, der nie eine Träne in ihren diamantenen Augen gesehen hatte, war davon so ergriffen, daß er es sich als eine Grausamkeit vorwarf, diesen edlen Charakter, dies große schöne Herz mit den Formalitäten der christlichen Religion belästigen zu müssen. Er rief:
»O Judith, ist Ihre Abneigung gegen den Protestantismus so groß, daß Sie davon traurig werden, so lassen Sie sich katholisch taufen! aber hüten Sie sich, Ihre Ansichten und Ihre Handlungsweise von irgend einem Priester abhängig zu machen! Verbannen Sie alle schwermütige Furcht und fassen Sie das Vertrauen zu mir, daß ich für Ihr dauerndes Glück einstehe. Wenn Sie an mir zweifeln, woher soll mir die Kraft kommen, das Meer von Hindernissen zu durchschwimmen, welches sich vor mir ausdehnt. Lächeln Sie Judith! lächle, Du schwarzes Sonnenauge, ich bedarf Deines Lichtes.«
Er kniete vor ihr und nahm ihre Rechte in seine Hände. Sie legte die Linke leicht und leise auf sein Haupt und sagte lächelnd und lieblich:
»Welche Torheit von mir! auf diesen bösen Kopf setz' ich all mein Glück.«