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Furchtbarer hätte ihn nichts berühren können, als dies Begegnis. Er wußte jetzt alles! Wie namenlos elend er sich und die Seinen gemacht! O wenn es für ihn wirklich noch eine Rettung gab, dann wollte er ein anderer werden, das schwur er sich selbst mit den heiligsten Eiden. Das waren nicht mehr jene leichten Vorsätze, die heute gefaßt und morgen vergessen wurden. Dies eigentümliche Zusammentreffen hatte ihn zu tief erschüttert und zu mächtig sein besseres Selbst geweckt. Von heute ab lag ohne Tollheit, alle Schwäche und Liederlichkeit weit hinter ihm; er war ein anderer, der sich durch nichts mehr vom rechten Wege abbringen ließ, das fühlte er selbst. – Aber was halfen jetzt all diese guten Vorsätze; es war doch alles zu spät! Er ließ den heißen Kopf auf die Brust sinken und beachtete nicht, daß sein abgemattetes Pferd langsam den Heimweg eingeschlagen hatte und jetzt endlich vor dem Hofthor stand. Es war längst Mitternacht vorüber.
Der Kettenhund schlug an und umschnupperte ihn freundlich, als er seinen Herrn erkannte. In den blassen Strahlen des Mondlichtes sahen Haus und Hof heute so eigentümlich aus, und durch seine ohnehin erregte Phantasie gewann alles einen fast geisterhaften Anstrich. Was war inzwischen hier vorgegangen? Was mochten die Menschen dort in dem stattlichen Hause erlebt haben?! – Ob sie schon schliefen? Schwerlich! Und wie lange konnte er das alles noch sein nennen? – Er wagte nicht, die Schwelle der Scholtisei zu überschreiten; ihm war's, als ob er überhaupt nicht mehr dazu ein Recht habe. Die ganze Schwere seiner Schuld trat ihm immer klarer vor die Seele, und damit schwand auch der letzte Rest jenes kecken Sinnes, der ihn früher gegen Vorstellungen und Anklagen so unzugänglich gemacht hatte. Scheu und vorsichtig, als sei er hier bereits ein Fremder und dürfe niemand stören, führte er das Pferd in den Stall und warf sich neben ihm auf die Streu. Wie völlig erschöpft er auch war, es kam doch kein Schlaf in seine Augen, und erst am Morgen verlangte die Natur ihre Rechte. Als er endlich erwachte, sah er zu seinem Befremden seinen Schwager vor sich stehen. Den hätte er am wenigsten hier erwartet.
»Ich habe dich überall gesucht«, begann Wilhelm sogleich, »denn ich mußte notwendig mit dir sprechen.«
Die beiden Schwägersleute hatten sich seit Jahr und Tag nicht gesehen. Fritz mochte von dem stillen Duckmäuser nichts wissen, und seitdem er bemerkt, daß sein Schwiegervater jetzt von dem Sohne eine weit bessere Meinung hatte, war ihm Wilhelm vollends verhaßt geworden. Solche Leute, wie Fritz Uhse, verzeihen es ohnehin demjenigen nicht, dem sie schweres Unrecht zugefügt haben, und um ihr Gewissen gründlich zu beschwichtigen, häufen sie gerade auf diese Menschen ihren tiefsten Groll, und zuletzt kommen sie wirklich zu dem Glauben, daß sie dazu auch ein volles Recht haben.
Der junge Schulze richtete sich in die Höhe, strich sich mit der Hand über die Stirn, als müsse er sich erst besinnen, und plötzlich wurde ihm alles klar. Noch gestern würde ihn dieser unerwartete Besuch seines Schwagers so empfindlich berührt haben, daß er ihm desto rücksichtsloser begegnet wäre; heute, in seiner gedrückten Stimmung, blickte er nur verwundert auf, und ein halb verlegenes, halb trauriges Lächeln irrte über sein Gesicht.
Wilhelm glaubte noch immer jenen hochfahrenden Menschen vor sich zu haben, als der sich Fritz bei jeder Gelegenheit gern gezeigt, deshalb fuhr er mit großer Vorsicht fort: »Nimm mir's nicht übel, daß ich mich in deine Angelegenheiten mische, aber ich habe gestern zu meinem Schrecken gehört, wie's mit dir steht, und deshalb wollt, ich sehen, ob ich dir etwas helfen könnte.«
Fritz schüttelte statt aller Antwort den Kopf, schlug dann die Hände vors Gesicht und vermochte sich nicht länger zu beherrschen, seine Thränen flossen unaufhaltsam.
»Verliere nicht gleich den Mut«, suchte Wilhelm ihn zu trösten. »Von Bernhard darfst du freilich keine Nachsicht hoffen; er ist mein Schwager, und ich mag deshalb nichts Übles von ihm reden, aber er hat ein weit böseres Herz, als ich je gedacht, das hab' ich erst gestern recht erfahren, wo er mir triumphierend erzählt, wie es mit dir steht. Meine Frau hat ihn himmelhoch gebeten dich nicht unglücklich zu machen; es war alles umsonst, er ist wie toll. Nun müssen wir sehen, was wir selber thun können, ich will die 5000 Thaler cedieren, die für mich auf deiner Scholtisei stehen, es ist ja die erste Stelle, da mußt du doch jemand finden, der das Geld dafür hergibt, und dann ist wenigstens etwas gedeckt. Vielleicht bekommt ihr auch für das übrige Kredit.«
Es schien anfangs, als ob Fritz auf die Auseinandersetzung seines Schwagers nicht gehört, er verharrte noch eine Weile in seiner Stellung, plötzlich stand er auf, reichte Wilhelm die Hand und sagte tief ergriffen: »Ich danke dir, lieber Schwager, für deinen guten Willen, aber mir ist nicht zu helfen. Weißt du, wieviel ich heute oder morgen schaffen soll?« und als ihn der andere nur fragend anblickte, stieß er mit bebenden Lippen heraus: »Achtzehntausend Thaler!«
»Meine arme Schwester!« murmelte Wilhelm unwillkürlich mit einem Seufzer.
»Ja, wie es hat können eine so kolossale Summe werden, begreif ich selber nicht«, fuhr der junge Schulze in seiner Beichte fort, »der Schurke der Bernhard, verzeihe mir, es ist freilich dein Schwager« – Wilhelm machte eine Handbewegung, um anzudeuten, daß Fritz seinem Herzen keinen Zwang anthun möge, und dieser setzte davon aufgemuntert rasch hinzu: »Ja, er hat mich schändlich betrogen. Ich hab' manchmal auf die Wische gar nicht gesehen und querüber geschrieben, wie er's gerade haben wollte. Von Rechts wegen brauchte ich auch wirklich diese nichtswürdigen Wechselschulden nicht zu bezahlen, daran hab' ich noch gar nicht gedacht. Meinst du nicht auch, daß ich dagegen klagen kann?«
Der Angeredete schüttelte den Kopf. Als Sohn des Schulzen waren ihm diese Dinge nicht ganz so unbekannt geblieben, und von seinem Schwager hatte er gelegentlich manches erfahren, was ihn vollends hierüber aufgeklärt, deshalb blieb ihm nichts übrig, als dem Unglücklichen auch diese letzte schwache Hoffnung zu nehmen. »Damit kommst du nicht durch, bei Wechseln helfen all solche Einwendungen nichts.«
Fritz ließ den Kopf traurig sinken; seine sanguinische Natur hatte rasch einige Hoffnung geschöpft, nun war er desto niedergeschlagener. »Dann bin ich ganz verloren. O, mein armes Weib, das ich so unglücklich gemacht habe, und dein Vater! Ich mag ihm nicht mehr unter die Augen treten. Am besten ist's, ich schieße mir eine Kugel vor den Kopf, denn mit mir ist's doch vorbei!«
Wilhelm gab sich vergeblich Mühe, seinen Schwager zu trösten und etwas aufzurichten, der in seiner Verzweiflung wohl fähig schien, seine Drohung wahr zu machen. Jetzt bekannte ihm auch Fritz, daß er seit gestern wie wahnsinnig umhergeirrt sei und sich nicht mehr getraue, in die Wohnung zu treten. »Ich kann Auguste nicht mehr in die Augen sehen und vollends deinem Vater nicht, eher geh' ich in den Tod!« Dabei blieb der junge Schulze, der seit dem gestrigen Begegnis jetzt eben so klar und vernichtend seine Schuld erkannte, wie er sie früher geleugnet hatte. Alle Mühe, ihn auf andere Gedanken zu bringen, war vergebens, und als Wilhelm sah, daß es ihm unmöglich war, seinen Schwager auch nur zu dem kleinsten Versuch einer etwaigen Rettung aufzustacheln, machte er ihm den Vorschlag, so lange bei ihm zu wohnen, bis der Sturm vorüber sei.
Der sonst so kecke Mensch war völlig haltlos, er ließ sich ohne weiteren Widerspruch mit fortziehen und achtete nur darauf, daß er von niemand gesehen wurde. Auf den abgelegensten Dorfwegen suchten beide Wanderer ihr Ziel zu erreichen. Fritz vermochte sich nur noch mit Mühe fortzuschleppen und mußte sich oft auf die Schulter seines Begleiters lehnen; kaum war er in der freundlichen, stillen Wohnung seines Schwagers angekommen und kaum hatte ihn Helene herzlich begrüßt, da stürzte er wie vom Schlage getroffen zusammen und verlor das Bewußtsein. Ein heftiges Fieber hielt ihn tagelang an das Bett gefesselt, und durch seine Phantasien irrte nur die beständige Klage, daß sein grenzenloser Leichtsinn alles verschuldet und die Seinen unendlich elend gemacht habe. –
Wohl hatte der alte Schulze seine Tochter beständig darauf aufmerksam gemacht, daß es mit Fritz ein schlechtes Ende nehmen müsse, und dennoch traf ihn sowohl wie die junge Frau der harte Schlag eben so überraschend wie vernichtend. Man mag immer gesehen haben, daß sich am Horizont ein Unwetter geräuschlos zusammengezogen, wenn es dann in seiner furchtbaren Schwere losbricht, erbebt doch das Herz. Weder die junge Frau noch ihr Vater hatten das verhängnisvolle Papier beachtet. Warum sollte sie sich um den Inhalt des Briefes kümmern! Ihre Brust war viel zu bedrückt, um noch eine Regung von Neugier zu empfinden. Auch der Ausritt ihres Mannes und sein langes Ausbleiben erschien ihr nicht als etwas Absonderliches und erweckte in ihr keine Unruhe. Sie nahm es nur als ein Zeichen, daß es mit ihm noch schlimmer würde und es ihn schon am Morgen in die Stadt zöge.
Am Nachmittage aber fanden sich schon die Gerichtsbeamten ein, es erfolgte die verhängnisvolle Katastrophe. Wie sie das alles überstanden, wie sie das Furchtbare ertragen, ohne völlig zusammenzubrechen, begriff sie später selbst nicht. Sie, die von Kindheit auf nicht die kleinste Sorge gekannt, deren Dasein in Frohsinn und Heiterkeit dahingeflossen, die so viel Licht und Sonnenschein getrunken und bis zu ihrer Verheiratung nicht gewußt, was wahres Unglück bedeute, sie sollte jetzt einem Sturme widerstehen, dem kaum eine von harten Schicksalsschlägen gestählte Brust zu trotzen vermag. Aber sie zeigte plötzlich eine Kraft und Festigkeit, die man von einer Frau, die durch eine glückliche Jugendzeit verwöhnt und verweichlicht worden, am wenigsten erwartet hätte. Ja, sie war es, die ihrem Vater noch Mut zusprechen, ihn vor völliger Verzweiflung retten mußte. Den alten wackeren Mann traf dieser entsetzliche Schlag vernichtend. Wenn er auch von dem Leichtsinn seines Schwiegersohnes das Schlimmste gefürchtet, auf einen solch unerhörten Streich war er doch nicht vorbereitet. Und nachdem dieser Elende sie unversehens und mit schändlicher Gewissenlosigkeit in den Abgrund gestoßen, hatte er noch feige die Flucht ergriffen, um nicht mit eigenen Augen zu sehen, welche Schmach er über sich und die Seinen heraufbeschworen. Dem alten Manne ging diese Erbärmlichkeit ans Herz, und seine Tochter hatte alle Mühe, ihn ein wenig aufzurichten. Gerade die völlige Gebrochenheit ihres Vaters gab ihr die nötige Kraft, und ihr Bruder trat jetzt getreulich an ihre Seite. Zwar vermochte auch er nicht das rollende Schicksalsrad aufzuhalten, aber er war jetzt doch in diesen Tagen der Bedrängnis ihre einzige und treueste Stütze.
Wenn Wilhelm in dem Schulzenhof erschien, zog sich sein Vater scheu und ängstlich zurück.
Eines Tages hatte jedoch der alte Fellenberg die Ankunft seines Sohnes zu spät bemerkt; er wollte beim unerwarteten Anblick Wilhelms ausspringen und hinauseilen, aber dieser hielt ihn zurück. »Du darfst mir nicht länger böse sein, Vater!« rief er mit großer Innigkeit und wollte den alten Manu umarmen. Dieser wich erschrocken einen Schritt zurück und war keines Wortes fähig. Wilhelm mißverstand seine Bewegung. »So hast du mir noch immer nicht verziehen?« und er griff nach seinen Händen, hielt sie fest und sah ihm bittend in die Augen.
Über dem gramgefurchten Antlitz des Alten zuckte es seltsam, er rang mühsam nach Worten; endlich brachte er mit bewegter Stimme hervor: »Ich verzeihe es mir selbst nicht, daß ich so hart und ungerecht gegen dich war. Man soll niemand zu seinem Glücke zwingen, und du hast es gezeigt, daß du es dir selbst zu schmieden vermagst, während dieser Schurke, dem ich so blind vertraut« – und von seinen Empfindungen überwältigt, warf er sich schluchzend an die Brust des Sohnes. Dieser hielt ihn fest umschlungen, und wie ihn auch der Schmerz des alten Mannes tief ergriff, seine Brust wurde dennoch von der glücklichen Empfindung bestürmt, daß er mit dem Vater völlig ausgesöhnt sei. Er vermochte ebenfalls seine Thränen nicht zurückzuhalten; dann sagte er mit bewegter Stimme: »Verzeihe auch ihm, er hat seinen Leichtsinn bitter genug bereut.«
»Was nützt uns das?« grollte der Vater. »Kann er uns damit aus Schande und Elend befreien, in die er uns gestürzt? Ich mag' nicht mehr aus dem Hause zu treten, denn er hat uns um alles gebracht. Schau dich doch um, wie es bei uns aussieht!« Und er blickte aus die dürftige Einrichtung, die ihm geblieben. »Hätte ich je gedacht, daß man auf unseren Schulzenhof einen Sequester setzen würde? Und wie lange wird's dauern, so treibt man uns vollends hinaus.« Er sank in den Stuhl und bedeckte das thränenfeuchte Gesicht mit den Händen.
Wilhelm suchte jetzt dem Vater denselben Trost zuzusprechen, durch den er schon die Unruhe der Schwester ein wenig beschwichtigt, daß es noch möglich sein werde, etwas zu retten. Vielleicht lasse sich Geld auftreiben, und käme es wirklich noch zur Versteigerung, werde die Scholtisei gewiß unter dreißigtausend Thalern nicht fortgehen.
»Aber die Kosten verzehren alles, das kenne ich schon«, warf der Alte ein. Trotzdem gelang es dem Zuspruche des Sohnes, daß der alte Schulze wieder neuen Mut faßte, ja sogar den Versuch wagte, von seinen Freunden die nötigen Kapitalien zu erhalten, um die Subhastation rückgängig zu machen. Er wurde freilich von manchem guten Bekannten abgewiesen, aber mit der alten, wiedererwachten Zähigkeit wanderte er von Thür zu Thür, und gerade dort, wo er es am wenigsten erwartet, fand sein Wunsch eine günstige Aufnahme.
Einer der eigensinnigsten und querköpfigsten Bauern, mit dem er früher als Schulze manchmal hart zusammengeraten und an den er sich jetzt nur beklommenen Herzens wandte, fand sich augenblicklich zur Hilfe bereit. »Wir haben uns damals wacker gezankt«, sagte der junge Bauer, »aber, Schulze, Ihr seid doch ein Ehrenmann, und vielleicht kann ich Euch retten. Ich selber habe freilich nicht das Geld, denn ich habe zu viel verprozessiert und zu spät eingesehen, daß Ihr recht hattet, als ihr mir immer abgeraten und gesagt, ich könne auch nicht mit dem Kopfe durch die Wand. Nun, wie gesagt, ich hab's mit meiner dummen Rechthaberei auch nicht vorwärts gebracht, aber mein Vetter wird in ein paar Wochen majorenn – die jungen Burschen werden's ja jetzt schon mit einundzwanzig Jahren; wir brauchten damals ein paar Jahre mehr, bis man uns für klug genug hielt, Geld in die Hände zu bekommen. Mein Vetter kriegt dann wohl seine zwanzigtausend Thaler, und er borgt Euch das Geld, sobald ich's ihm sage, denn der Junge ist gescheit genug, mir aufs Wort zu gehorchen; er weiß, daß ich mir gründlich die Nase geputzt hab' und von all den Geldsachen was versteh'. Also, Schulze, laßt den Kopf nicht hängen, und wenn die 20 000 Thaler, wie Ihr sagt, zur ersten Stelle kommen, so sollt Ihr das Geld und das Dorf nicht den Skandal haben, daß man Euch aus Eurem Erbe hinaustreibt. Verlaßt Euch darauf!« und der Nachbar streckte ihm treuherzig die Hand entgegen.
Der alte Fellenberg atmete noch einmal auf, und wenige Tage später erhielt er wirklich von dem Bauer die bestimmte Zusage, daß sein Vetter das nötige Geld hergeben werde, sobald er es von der Obervormundschaft erhalten. Noch einmal schien ihm ein freundlicher Sonnenstrahl zu lächeln, denn der Subhastationstermin war erst zum 23. Juli angesetzt, während die Pupillengelder wenige Tage vorher ausgezahlt werden sollten. Das war die Rettung im letzten entscheidenden Augenblick. Sowohl der alte Fellenberg wie seine Tochter fühlten sich neu belebt. Wollte ihnen doch das Schicksal wenigstens das Allerschimpflichste ersparen, das Hinausgehen aus ihrem Besitz. Nur Fritz nahm auch diese Nachricht, die ihm der Schwager sofort mitteilte, ziemlich gleichgültig auf. »Ich' habe doch zu schändlich gewirtschaftet«, klagte er beständig. Nichts hatte ihn nach seiner Genesung vermocht, wieder in die Scholtisei zurückzukehren, selbst als ihm Wilhelm versicherte, daß ihm Auguste längst verziehen habe und selbst der Vater ihm nicht länger zürnen wollte, war er doch nicht zu bewegen, denjenigen unter die Augen zu treten, die er so namenlos unglücklich gemacht hatte. Wie alle sanguinischen Naturen, ging er jetzt in seiner Zerknirschung und Reue zu weit; er blieb dabei, daß er nicht wert sei, jene Schwelle zu betreten, und sein Schwager hatte alle Mühe, ihn davon zurückzuhalten, daß er nicht als Arbeitsmann in die weite Welt hinauszog.
Wilhelm wußte nur zu gut, daß der Unglückliche dort in der Fremde vollends zu Grunde gehen müsse, denn sein tief niedergedrücktes Gemüt fand allein im Anschluß an den Schwager und dessen liebenswürdige Frau die nötige Kraft zum Weiterleben. Besonders verstand es Helene mit ihren echt weiblichen Tugenden, den umdüsterten Geist des Schwagers ein wenig aufzuhellen, und Fritz war ihr gegenüber so fügsam wie ein Kind. Und doch, auch diese herzliche Teilnahme der jungen Frau drückte nur tiefe Stacheln in sein Herz, wenn er daran dachte, wie selbstsüchtig er sich gegen sie gezeigt. Sie hatte es trotzdem verstanden, sich ein reiches, echtes Glück zu schaffen; zwei reizende Kinder erhöhten noch ihre Seligkeit, und wenn er dies stille, behagliche Familienleben des Schwagers sah, den tiefen Frieden beobachtete, der hier herrschte, dann schlichen wohl verstohlen ein Paar Thränen über seine Wangen. – Den besten Trost und die einzige Zerstreuung fand er jetzt in der Arbeit, und er, der so oft über die Neigung Wilhelms für die stille, bescheidene Gartenkunst gelächelt, stand jetzt seinem Schwager eifrig zur Seite und konnte in Entzücken geraten über eine Blume, die seine Mühe und Sorgfalt zum Blühen gebracht.
Und in diese keimenden Hoffnungen, in dies allmähliche Einlenken zum neuen Frieden fuhr eine Nachricht wie ein vernichtender Donnerschlag, die nicht nur diese wenigen Menschen, sondern Millionen aus ihrem gewohnten Gleise herausreißen und die halbe Welt in andere Bahnen lenken sollte.
*
Es war im Juli 1870, da Frankreich an Deutschland den Krieg erklärte, und in einem Moment verstummte alles persönliche Leid, jeder Gedanke wurde aufgezehrt von der Sorge für das Vaterland. Was galt jetzt noch das Geschick des einzelnen, wo alles auf dem Spiele stand, und wieder packten große und edle Gedanken auch die kleinste Brust, zerdrückten die Regungen armseliger Selbstsucht, und die Begeisterung für das bedrohte Vaterland schlug in hellen Flammen überall empor. Niemals sah die Welt eine größere Zeit. Wie mit einem einzigen Schlage ganz Deutschland wunderbar geeint war, so verstummte auch aller Privathaß und Groll. Langjährige Gegner versöhnten sich, grimmige Feinde reichten sich die Hände, jetzt galt es das Allgemeine, denn alles, was uns hoch und heilig war, stand auf dem Spiel.
Auch dem Schulzenhofe brachte er die Versöhnung. – Fritz gehörte noch der Reserve an und hatte bereits die Einberufungsordre erhalten. Nun erst gewann er den Mut, die Seinen wiederzusehen, um von ihnen Abschied zu nehmen, galt es doch einen Abschied vielleicht aus immer. – Durch Wilhelm hatte er erfahren, daß seine Frau ihn noch einmal sprechen müsse, bevor er in den Krieg zog. Welch ein Wiedersehen! Am anderen Tag stand der Subhastationstermin an, aber das Ehepaar, das sich nach der langen, schweren Prüfung jetzt wieder umschlungen hielt, fragte nicht danach; kein Wort des Vorwurfs kam von der Lippe des einen, keine Bitte um Verzeihung aus dem Munde des anderen. Ausgelöscht war das Vergangene, erstorben die Sorge um irdischen Besitz.
Was bedeutete das alles jetzt, wo der Mann, den sie trotz all seiner Verirrungen noch immer heiß und wahr geliebt, in einen Kampf mit hinauszog, dessen Größe und Furchtbarkeit jedem wohl bewußt war? Und wie anders war er geworden seit jenem verhängnisvollen Tage, wo sie ihn zuletzt gesehen! Ernster und männlicher stand er vor ihr, das gewahrte sie auf den ersten Blick, trotz der schmerzlichen Aufregung, in der er sich befand. Er machte auch nicht viele Worte, er versprach nicht, besser und tüchtiger wiederzukommen, wenn ihm das Schicksal dies vergönnte, aber sie wußte doch, daß zu ihr nicht mehr jener leichtsinnige, gewissenlose Mann zurückkehrte, dem sie am Altar die Hand reichte.
Selbst in der Brust des alten Schulzen war aller Groll erstickt. Sein eifriger Patriotismus trug in diesem Augenblick über die Sorge um das eigene Geschick den Sieg davon. – Wohl wußte er, daß morgen alles für ihn und die Seinen völlig verloren sein würde, aber jetzt, in dieser schweren Stunde, vermochte er nicht länger dem Manne zu zürnen, der sie durch seinen Leichtsinn so tief ins Elend gestoßen hatte. Fritz zog ja hinaus mit all den Tausenden, die das bedrohte Vaterland zu schützen hatten, und von diesem Gedanken überwältigt, schloß er mit feuchten Augen seinen Schwiegersohn in die Arme, der scheu und zaghaft kaum gewagt hatte, ihm zum Abschied die Hand zu bieten. »Verzeiht mir, was ich Euch und Eurem Kinde angethan«, sagte Fritz tief ergriffen, »und sollt' ich wiederkommen, dann seid überzeugt –«
»Es soll vergessen sein, und Gott schütze dich!« entgegnete der Alte, und der andere wußte wohl, daß aus dem Munde dieses Mannes keine leere Redensart kam.
Und nun mußte geschieden werden. Wenige Augenblicke später hatte Fritz schon wieder den Schulzenhof verlassen, und jetzt machte freilich bei den Zurückgebliebenen die gehobene Stimmung ganz anderen Empfindungen Platz. Morgen war der Versteigerungstermin, und der plötzlich ausgebrochene Krieg hatte auch ihre letzten Hoffnungen zertrümmert. – Der junge Vetter des Bauern wollte sich unter den veränderten Umständen zu einem so großen Darlehen nicht verstehen, war doch jetzt bares Geld die gesuchteste Ware. Alle Bitten und Vorstellungen des Schulzen vermochten nichts über den jungen Menschen, der dabei blieb, daß er lieber sein Geld vergraben, als es aus den Händen geben werde. –
Damit war auch das Schicksal der Schulzenleute besiegelt. In diesen aufgeregten Zeiten mußte das Grundstück bei dem öffentlichen Verkauf weit unter dem Wert fortgehen, das sah der alte Fellenberg voraus, und seine Befürchtungen wurden am anderen Tage bestätigt. Es fanden sich zum Termine nur wenige Bieter ein; für das Meistgebot von 16 000 Thalern wurde das schöne Besitztum, das in ruhigen Zeiten das Doppelte gegolten hätte, dem Agenten Bernhard Winkler zugeschlagen.
Der alte Schulze hatte kaum die Kraft, sich aus dem Gerichtszimmer zu schleppen; er schwankte und mußte sich auf den Arm seiner Tochter stützen, die auch in diesem verhängnisschweren Augenblick nicht die Fassung verlor. Als sie eben aus der Thür treten wollten, hinkte Bernhard auf sie zu und wandte sich mit freundlichem Grinsen an Auguste. »Es hat keine Eile mit der Übergabe, ich will Sie gern noch aus alter Freundschaft ein paar Wochen in Ihrer Scholtisei sitzen lassen.«
Ohne den Elenden eines Blickes zu würdigen, entgegnete die junge Frau sogleich: »Wir werden nicht eine Stunde länger dort bleiben, als wir das Recht dazu haben.«
Bernhard sah der ruhig Fortschreitenden ganz betroffen nach. »Ei, seht mal, ist die noch immer nicht demütig geworden? Wer hätte das gedacht? Na, sie wird schon noch mürbe werden, und ich bin doch am Ziel«, murmelte er vor sich hin und rieb sich vergnügt die Hände.
Auguste hielt Wort; sie zog schon am anderen Tage mit dem Vater zu ihrem Bruder, der ihnen bereitwilligst ein Asyl angeboten.