Karl Gutzkow
Wally, die Zweiflerin
Karl Gutzkow

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Wahrheit und Wirklichkeit

Man kann den Zufall verdammen, man kann selbst überzeugt sein, daß in allem, was geschieht, eine konsequente Offenbarung der Gottesidee liegt; und doch würde niemand zu behaupten wagen, daß alles, was geschieht, alles, was wir als geschehen beobachten können, etwas andres sei als die zufälligen Äußerlichkeiten jener offenbarten Gottesidee. Ich glaube, daß alles gut ist, was geschieht; glaube aber nicht, daß eben nur das geschehen kann, was geschieht. Unendlich ist das Reich der Möglichkeit, jenes Schattenreich, das hinter den am Lichte der Begebenheiten sichtbaren Erscheinungen liegt. Es gibt eine Welt, die, wenn sie auch nur in unsern Träumen lebte, sich ebenso zusammensetzen könnte zur Wirklichkeit wie die Wirklichkeit selbst, eine Welt, die wir durch Phantasie und Vertrauen zu combinieren vermögen. Schale Gemüter wissen nur das, was geschieht; Begabte ahnen, was sein könnte; Freie bauen sich ihre eigne Welt.

Zwei Garantien der unsichtbaren Welt sind die Religion und die Poesie. Jene schließt das Reich der Möglichkeit auf, um zu trösten; diese, weil sie die Wirklichkeit erklären will. Beide beruhen auf Täuschungen, nur ist die Poesie glücklicher, weil sie die Wahrscheinlichkeit für sich hat. Es ist leichter, an ein Gedicht als an den Himmel glauben. Die Ereignisse des Gedichtes sind oft die heimlichen Erklärungsmotive der Wirklichkeit, die Schöpfungen des Autors haben die Analogie für sich und die Erde; aber der Himmel schwebt in der Luft und ist trotz aller Philosophie ohne Maßstab, wie Gott selbst.

Die Geschichte der Poesie zeigt, wie sich in ihr von jeher Wahrheit und Wirklichkeit gestritten haben. Jene Gemüter, welche wir die schalen nannten, entschieden sich für die Wirklichkeit, die freien für die unsichtbare Wahrheit, die begabten, die empfänglichen, die sogenannten Leute von Geschmack, Bildung und Erziehung für das Mittlere zwischen beiden, für die Wahrscheinlichkeit. Und so ist es noch. Bei jeder neuen Dichtung fragen die einen: »Wo geschah dies?«, die andern: »Sollte dies geschehen können?« Nur die freien Gemüter entscheiden, ohne zu fragen, weil sie es fühlen, daß das, was nicht geschieht, immer noch wahr ist, selbst wenn es nicht geschehen kann.

Alles, was die Wirklichkeit kopiert, ist für die Masse. Diese Gattung der Poesie erhebt sich von der untersten Stufe der Genremalerei bis zu den Romanen von Walter Scott und Bulwer, bis zu den Dramen Ifflands und Kotzebues. Nur hell, blank und geschliffen muß diese Literatur sein, weil sie der Wirklichkeit gegenüber ein Spiegel ist, der sie treu auffaßt und wiedergibt. Für die schalen Gemüter ist nichts genialer, als sie selbst zu zeichnen, wie sie sind: ihre Tante, ihre Katze, ihren Schal, ihre kleinen Sympathien, ihre Schwachheiten. Was haben wir von euern Grillen, von euern Erfindungen, die in der Luft schweben? Gebt uns uns selbst, dem Egoismus den Egoismus! Es gibt Kritiker und Literatoren, die sich nur für das Kopieren der Wirklichkeit enthusiasmieren können. Das Wahrscheinliche ist bei ihnen schon eine Konzession. England hat von jeher diese Art der poetischen Darstellung bevorzugt, Deutschland ist systematisch genug bearbeitet worden, hierin nachfolgen zu müssen. Die alte Literatur steht bei uns versteinert da in Tempeln und in Walhallen, die mittlere war keines Schusses Pulver wert, die neue hat nur noch ein schwankendes und kaltes, von Politik und spekulativer Trägheit ganz darniedergehaltenes Publikum. Darauf kömmt alles zurück: Man will von der Literatur keine Anstrengung haben; die Literatur soll niemanden mehr eine unruhige Nacht machen, sie schildert, sie porträtiert, sie stillt die Leselust mit Historie und Bulwer. Die Poesie ist jetzt Selbstbefruchtung. Die Wirklichkeit nährt sich von ihrem eignen bürgerlichen, überquellenden Fette.

Menschen, die schon eine Stufe höher stehen, sind mit der Wahrscheinlichkeit zufrieden. Sie wollen nur einige Voraussetzungen, die den Boden der Wirklichkeit berühren; das übrige überlassen sie der Combination und Phantasie. Dies sind die gemütlichen Leser, die sich durch poetische Schöpfungen in einen sanften Halbschlummer wiegen lassen, die die Bücher nach der Elle konsumieren. Es muß ihnen nichts zu nahe und nichts zu ferne liegen. Schwebend zwischen Himmel und Erde, ganz willenlos hingegeben den Capricen des Dichters, freuen sie sich zuletzt, daß nun alles, was sie gelesen haben, doch entweder nicht wahr ist oder im entgegengesetzten Falle immer sehr wahrscheinlich bleibe.

Die Wahrheit selbst ist unsichtbar und liegt niemals in dem, was wirklich ist. Die poetische Wahrheit ist schöpferisch. Sie baut mit den geheimsten Fäden der menschlichen Seele, sie combiniert nicht, wie der Staat, die Familie, die Religion, die Sitten und das Herkommen combinieren, sondern revolutionär. Die poetische Wahrheit offenbart sich nur dem Genius. Dieser lauscht niedergestreckt auf den Boden der Wirklichkeit und hört, wie in den innersten Getrieben der Gemüter eine embryonische Welt mit keimendem Bewußtsein wächst. Wer auf seine Entwickelung lauscht, muß sich oft gestehen, daß ganze Gedichte in ihm sich zusammenreimen aus Motiven, welche die Außenwelt niemals anerkennen würde. Dies sollte nicht auch Wahrheit sein? Dies sollte den Dichter nicht entzücken? Die Alten und die Mittleren schufen in dieser Weise nicht: aber die Modernen werden es. Ihre Historien sind nicht die Sage oder Geschichte, sondern die Ideen, die im Schoße der still wirkenden und schaffenden Gottheit schlummern. Die Welt, wie sie ist, wird ihren Gebilden nicht entsprechen; diese werden dem nüchternen Vorwurfe der Unwahrheit und Unwahrscheinlichkeit ausgesetzt sein. Aber noch immer ging das Genie seinem Jahrhunderte voraus.

Zwei Tatsachen möcht' ich aus obigem folgern: die beide weniger literarisch als historisch sind.

Wenn man in Anschlag bringt, daß entschieden schon in der französischen Literatur, ohne alle Widerrede auch bei uns allmählich eine Poesie der ideellen Wahrheit und reellen Unwirklichkeit sich zu entfalten beginnt, wenn man diese Frauengebilde betrachtet, welche die Phantasie der jetzigen begabteren Dichter erfindet, diese originellen Situationen und allem Herkommen widersprechenden Sitten; sollte man diese Erscheinung nicht für beziehungsreich halten für unser zukünftiges Leben, für die Existenz in der Wirklichkeit, für die weite Unterlage der Masse und des allgemeinen Glaubens? Es ist wahr, die Dichter fangen an, auf immer luftigeren Bahnen zu wandeln: sie schaffen sich ihre eignen Welten mit Thronen, die ihre Phantasie erbaute, mit Richterstühlen, die ihre eigne Gesetzgebung haben, mit einem Gottesdienst, dessen Priester nur noch die kleine Gemeinde selbst ist. Es baut sich eine Wahrheit der Dichtung auf, der in den uns umgebenden Institutionen nichts entspricht, eine ideelle Opposition, ein dichterisches Gegenteil unsrer Zeit, das einen zweifachen Kampf wird zu bestehen haben, einmal einen gegen die Wirklichkeit selbst als konstituierte Macht mit physischer Autorität, sodann einen gegen die Poesie der Wirklichkeit, welche so viel Dichter und so viel Kritiker für sich hat.

Dies ist ein Symptom unsrer Zeit, aus dem wir bis jetzt noch keinen weitern Schluß ziehen wollen als einen, der vielleicht außerhalb der Literatur liegt, den ich aber nicht verschweigen will, weil jedes, was die Menschheit ehrt, auf den Lippen des Enthusiasten brennt. Man verwirft mit Recht das Experimentieren mit der Menschheit, aber man geht darin weiter, als man darf, ohne die Menschheit zu beleidigen. Wir fürchten uns, den Zeitgenossen etwas zu entziehen, wovon wir uns einbilden, daß es zu ihrem Leben nötig ist. Wir glauben an die Institutionen in Sitte, Meinung und politischer Einrichtung wie an die unerläßlichen Lebensbedingungen der Jahrhunderte. Als wenn die Menschheit keine innern Quellen hätte! Als wenn sie unterginge, wenn ihr sie aus dieser ganzen Sündflut ihrer Existenz plötzlich nackt und noch triefend auf den Ararat versetztet! Als wenn die Menschheit nicht immer die erste sein wird, die sich hilft, und diejenige, welche für sich den besten Rat weiß! Sie zucken die Achseln wie unvorsichtige Ärzte, sie fürchten für das Leben des Patienten und quacksalbern an den alten Schäden herum; aber nehmt der Menschheit ein Bein ab: sie wird sich ein neues machen; nehmt ihr, um nur eines, was unmöglich scheint, zu nennen, z. B. das Christentum: glaubt ihr, daß sie untergehen wird? Nehmt ihr eure Gesetzbücher, eure Verfassungen – nehmt ihr zuletzt das, worauf gleichsam alles ankommen soll, nehmt ihr euch selbst! – und die Menschheit wird fortbestehen. Sie wird alles ertragen und durch Felsen vom stärksten Granit noch immer einen Weg finden, der sie zu ihrem Ziele führt.


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