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Drei Wochen hindurch war der Wächter: Bewußtsein vom Tore der Vernunft verschwunden. Die Gedanken Wallys waren freigegeben, das Dach stand offen, jedes Auge konnte in das glühende Hirn hineinsehen und die Verwirrung der Ideen mit seinen Blicken verfolgen. Da lagen sie alle, die wie ein Kapital angelegten Eindrücke der Vergangenheit, ohne die lachenden, fröhlichen Zinsen des Umgangs und des Bewußtseins zu tragen; nackte Leiber, die des bunten Gewandes der Rede ermangelten, Ideenembryone, so gräulich anzusehen wie die Infusorien, die man durch Vergrößerungsgläser in einem Wasserglase unterscheidet. Die Erinnerungen, Ideen und Ideenschatten jagten sich untereinander und gingen wahnwitzig lächerliche Bundsgenossenschaften ein und fraßen sich untereinander auf wie Ungetüme, denen die Gestalt, die Schönheit, die Freiheit des Willens und das Wort fehlt. So lag Wally drei Wochen.
Als sie zum ersten Male die Augen mit Bewußtsein aufschlug, erblickte sie Auroren und fragte nach allem, was seither geschehen wäre. Diese junge berlinische Schwätzerin schlug die Hände zusammen, setzte sich die Mütze der Verwunderung auf und hatte viel von Wallys fieberhaften Phantasiestücken zu erzählen. Wally fühlte sich stark zu hören, auch stark, sich zu erinnern. Sie wußte deutlich, wer die Schuld ihres Übels trug; sie ging auch bald wieder bei diesem Gedanken in die Nebel zurück und sprach von einem Manne, der sie gerettet, aber nicht besucht hatte.
Aurora sprach von Jeronimo. Sie schilderte seine Verzweiflung. Er hielte sich für den Urheber von Wallys Leiden, er verließe das Haus nicht und würde durch nichts aufgehalten, Augenblicke, wo Wally schliefe, zu benutzen und in ihr Zimmer zu dringen.
»Wer?« fragte Wally.
»Jeronimo!«
Es gehörte noch Anstrengung dazu, daß Wally wieder wußte, warum sie nach Jeronimo gefragt hatte. Sie vergaß es und räumte Aurorens Schwatzhaftigkeit das Feld. Diese tummelte sich weidlich darauf. Sie kam immer wieder auf den Italiener zurück, bis er selbst kam und an Wallys Bett niederkniete. Wally sahe ihn, aber sie erkannte ihn nicht.
Jeronimo stand bleich und hager da. Seine Wangen waren eingefallen und abgezehrt. Die Augen blickten starr und mit einem unheimlichen Feuer. Sein Äußeres war gänzlich vernachlässigt. Hätte man nicht annehmen müssen, daß ihn die Trauer verhinderte, Sorgfalt auf sich zu verwenden, so würde man zu dem Glauben gezwungen gewesen sein, seine Erscheinung sei die Folge der Armut. Er sprach italienisch; Aurora verstand nichts davon, zu seinem Glücke; denn hätte sie es verstanden, wie würde es ihr entgangen sein, daß Jeronimos Reden einen bedenklichen Geisteszustand verrieten?
Wally verstand wohl die wahnwitzigen Worte an ihrem Bett, aber sie wußte nicht, von wem sie kamen. Und hätte sie es gewußt, so würde sie sogleich auf den Zustand reflektiert haben, den sie soeben von sich selbst erfahren hatte. In der Tat, sie verwechselte auch den Wahnsinn, den sie hörte, mit dem, welcher sie selbst beherrschte, und flehte unhörbar, ihr nichts zuzurechnen von der Verwirrung, die aus ihrem bewußtlosen Haupte entsprang. Jeronimo küßte ihre Hand. Sie erkannte ihn nicht, als er wie ein Gespenst von ihrem Lager fortschlich.
Benutzen wir den Augenblick, wo der Faden unsrer Erzählung gehemmt ist durch das Schicksal ihrer Heldin, die sonderbare Erscheinung Jeronimos und das Verhältnis zu seinem Bruder näher zu erklären. Jeronimo ist eine widerliche Störung dieses Berichts. Wallys unübertreffliche Originalität, das bunte Farbenspiel ihrer Laune verdiente wahrlich nicht, von so fratzenhaften Verrückungen menschlicher Gefühle und Verhältnissen, wie wir sie kennenlernen werden, paralysiert zu werden.
Luigi und Jeronimo hießen die beiden Brüder, welche uns bis jetzt nur in so nebelhaften Umrissen erschienen sind. Jener war der ältere, dieser der jüngre; beide an Jahren so verschieden wie an Gestalt und Gemütsrichtung. Luigi ein praktischer Egoist, Jeronimo ein exzentrischer Schwärmer, dort das drohende Extrem der Bosheit, hier des Wahnsinns. Beide Brüder hatten zu gleichen Teilen ein großes Vermögen geerbt; aber verschiedenartig war der Gebrauch, den sie davon machten; Luigi geizte, Jeronimo verschwendete. Luigi traf in Jeronimos sanfter Gemütsstimmung keinen Widerstand, als er ihm bei den Verschleuderungen seinen Rat anbot und sich für bereit erklärte, die Verwaltung seines Vermögens zu übernehmen. Die Verantwortlichkeit machte Luigi schlecht. Immer im Harnisch gegen Jeronimos Unbesonnenheiten, längst gewohnt, ihn wie ein Zuchtmeister seinen Gefangenen zu behandeln, immer in der Illusion, daß er das Gute, Noble und Ehrliche täte, während er doch nur das Kluge und Nützliche tat, nahm er seine eigne Verfahrungsweise wie etwas Notwendiges und gewöhnte sich daran, Dinge als sein Eigentum zu betrachten, für welche er zuletzt wirklich einstehen mußte. Diese Verwechselung war leicht gemacht und artete in dezidierte Schlechtigkeit aus. Es galt nicht mehr, daß Luigi für all die Torheiten, die Jeronimo beging und unschädlich machen mußte, sich schadlos halten wollte, daß er durch die Verwendungen, die er überall versuchte, als Jeronimo ins Gefängnis geworfen wurde wegen Karbonarismus, ein Recht über des jüngern Bruders Leib und Leben zu haben sich überredete, sondern bald wurde es Ziel und Plan bei ihm, einen Menschen, dem nicht zu helfen war, gänzlich zu unterdrücken und das Vermögen an sich zu ziehen, welches Jeronimo noch besaß und möglicherweise auf irgendeine seiner flüchtigen Neigungen vererben konnte.
Von einer neuen Torheit, die Jeronimo beging, wußte Luigi erst kaum, wie er sie behandeln sollte. Er hatte ihm von Wally geschrieben, von ihrer Jugend und Schönheit. Jeronimo bat ihn, nichts von ihren Reizen zu übergehen. Luigi fährt in seinen Entzückungen fort, und Jeronimo schwört ihm in einem Briefe, daß Wally nur für ihn bestimmt wäre. »Lächerlicher Einfall!« sagte Luigi, als er am Tage seiner Hochzeit diesen Brief empfing. Aber Jeronimo hörte in seinen Grillen nicht auf. Er drohte, noch in Haft befindlich, die er sich durch eine unbesonnene Tötung zugezogen hatte, mit dem Äußersten. Die Idee schien fix bei ihm geworden zu sein. Es ist nicht unmöglich, daß man in ein Bild sich verlieben kann. Arme Wally! Mußte deine glatte, stille, liebliche Seele, dein nüchternes, von allem Exzentrischen abseites Leben in solche Strudel gerissen werden?
Luigi wußte, daß sein Bruder nach Paris kommen würde. Er hatte ein Mittel gegen ihn und scheute sich nicht, da er sahe, welchen Eindruck Wally auf Jeronimo machte, es in Anwendung zu bringen. Was war ihm Wally? Welche Genüsse gewährte sie ihm? Und doch war er nicht so niedrig, sie an seinen Bruder gleichsam verkaufen zu wollen; er war mehr bös als gemein, mehr europäisch schlecht als italienisch ordinär. Er wollte Jeronimos Neigung im Schach erhalten und davon Gewinste ziehen. Sein Geiz sahe mit Schrecken, wie des Bruders Vermögen in den durstigen Sand der Pariser Vergnügungen und Ausschweifungen verrinnen würde. Er sahe schon tausend Arme geöffnet, tausend Zärtlichkeiten als Falle gelegt, er zitterte vor dem weiten Meere, dessen Abgrund bald Jeronimos Erbe verschlingen mußte. Er wollte es retten. Er wollte es absorbieren, erst, wie er glaubte, um es zu bewahren, dann, um es nie wieder herauszugeben. Wally mußte zu diesem Zwecke dienen. Ihre Koketterie mußte Jeronimo fesseln und unglücklich machen. Luigi arbeitete planmäßig, um das Hirn des Bruders zu verrücken. Er brachte Grüße, Zärtlichkeiten, Locken und zwang den Glücklichen, von Wally sich immer wieder enttäuschen zu lassen. Jeronimo war schwach, ein Kind, eine tote Hand seines Vermögens. Luigi eignete sich alles zu. Wer kann zweifeln, daß Wally imstande war, durch ihre unzähligen kleinen Charakterlosigkeiten einen Mann zu vernichten? Sie tat es, ohne darum zu wissen. Sie wurde unbewußt das Werkzeug einer nichtswürdigen Intrigue.