Karl Gutzkow
Wally, die Zweiflerin
Karl Gutzkow

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5

Wir sind noch in derselben Gesellschaft, wo über Herrn von Rumohr so abfällig geurteilt wurde. Wally ist nur hingebender und Cäsar erschöpfter geworden. Er war im Zuge, links und rechts seine zusammenhanglosen Einfälle auszustreuen und grade im Gegensatz zu seiner Höflichkeitstheorie alle Welt zu verwunden. Die Hauptunterhaltung hatte der lange blonde Mann an sich gerissen, welcher über das Unzeitgemäße politischer Garantien geschrieben hatte. Mit ihm korrespondierte ein Justizrat, welcher anonymer Verfechter von verschiedenen Lehrbüchern zur Kenntnis des Allgemeinen Landrechts war oder doch sein sollte. Beide zitierten sich wechselseitig als Autoritäten, der Junge den Alten der Carrière wegen: der Alte den Jungen, weil er wußte, daß der Nachruhm in den Händen derer liegt, die nach uns leben. Cäsar war auf der Folter: er ahnte, daß sie ausschweifen wollten, daß sie auf dem Wege waren, zur schönen Literatur überzugehen.

»Wirklich?« zitterte er für sich hinein. »Wahrlich! Ja, sie müssen – Oh –.« Cäsar war aufgesprungen.

Er wollte fort. Wally frug ihn, was er hätte?

Der Justizrat, Mitglied einer Liedertafel, das heißt eines Vereins, wo man über Tafel die schlechten Compositionen eines Zelter und anderer zu singen pflegte, rief: »Ist es nicht auffallend, daß auch nicht ein einziger aus der neuen Schule in Deutschland sich auf Musik versteht. Wie schön hat Tieck die italienische Musik in seinen Sonetten charakterisiert! Wie treffend drückt er in seinem Vorspiel zum ›Gestiefelten Kater‹ oder zur ›Verkehrten Welt‹, ich weiß nicht, das Wesen der verschiedenen Instrumente aus! Wie hat die ganze romantische Schule in der Musik gelebt!«

»Und Hoffmann«, rief eine ältliche Dame, die ihrem Teint nach mit Napoleon verwandt sein konnte.

»Und Hoffmann!«, fielen alle ein.

»Ja«, rief der Justizrat, »Hoffmann, der mein Kollege war!«

Cäsar sagte ruhig: »Ich weiß nicht, worin der Zusammenhang der Literatur und der Instrumentation liegen sollte. Goethe scheint mir auch ohne den Kontrapunkt verständlich zu sein.«

Aber der Justizrat hatte das Wort: »Man hat noch immer gefunden, daß irgendeine Beschäftigung, welche dem Dichter sonst noch teuer und lieb war, recht hübsch das Wesen seiner eigenen Poesie ausdrückte. Ich rede von Homer und Ossian nicht, Männern, die mehr Musiker als Dichter waren; aber Goethe arbeitete in Pappe, wenn ich nicht irre. Schiller war Compagnie-Chirurgus. Nun sehen Sie, das ist prosaisch genug; sagen Sie mir von allen neuen Autoren einen, der ein gutes Urteil über Musik hätte? Es ist Mangel einer gewissen Saite in der Seele, daß es ganz unmöglich ist, die Namen Menzel, Börne, Heine usw. mit irgendeiner musikalischen Verrichtung zusammenzubringen.«

»Die Lärmtrommel!« hieß es irgendwo. Man beklatschte den Einfall und nannte ihn witzig. Aber recht hatte der Justizrat; auch Cäsar, wenn er sagte: »Was kann empfehlenswerter für die Richtung sein, welche unsre ersten Geister nehmen? Alle frühere Literatur bildete sich im Interesse irgendeiner vereinzelten Kunst oder Tendenz: die Lessing-Goethische Zeit im Interesse der Antike: die Romantik im Interesse der Malerei: die Phantastik im Interesse der Musik. Erst in unsern Tagen sammelt die Literatur ihre Vorposten, die sich in die fremden Feldlager ganz verloren hatten, und zieht sie in den Kern ihrer Kräfte zurück, um aufs neue zu bestimmen, welches ihr Zweck ist. Ich glaube, daß sich die Literatur ausdehnen wird auf andre Felder, um sie zu befruchten; aber wahrlich, mein Herr, auf die Musik nicht!«

Bis hierher sprach Cäsar so richtig, daß es unnütz gewesen wäre, Unterschriften darauf zu sammeln. Das Folgende schien zweifelhafter: »Was soll überhaupt die Musik? Diese klingende Mathematik? In der Erziehung sind die geometrischen Köpfe meist die dicksten und härtesten, und in den großen Musikern habe ich immer Leute gefunden, die, obschon sie immer mit Schlüsseln umgehen, doch über nichts Aufschluß geben können. Die Musik ist eine ganz sinnliche Kunst. Wenn Sie dem Otaheiter einen Trauermarsch von Spontini vorspielen, mein Herr, glauben Sie, daß er weinen wird? Er wird springen und seine Kokosschale vor Lebenslust bis auf die Hefe leeren. Musik ist absolut nichts: die Bildung legt erst das hinein, was wir darin zu finden glauben. Wenn ich bei irgendeinem Musikstück ein solcher Narr bin, an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben, so verbinden zu gleicher Zeit Sie damit einen Begriff, welcher vielleicht der entgegengesetzte ist. Wenn Sie bei einer Symphonie von Beethoven an einen gotischen Dom denken, so dachte der Komponist an das Giebeldach einer Bauerhütte. Nein, mein Herr, die Musik wird aufhören, zu den Künsten gerechnet zu werden. Nähert sich die Musik in der Oper nicht schon immer mehr der rhetorischen Deklamation? Ist die Sprache, das volle, tönende, menschliche Wort nicht unendlich höher als der unnatürliche Gebrauch einer ganz im tiefsten Schlunde versteckten zufälligen Fertigkeit? Ich bitte Sie, überlegen Sie das, mein Herr!«

Hier war keine Verständigung mehr möglich. Was sind Hunderttausende in der Welt ohne das bißchen Fortepiano, was sie spielen können! Es war, als hätte einer gesagt, die Frauen sollten keine Gigotärmel mehr tragen. Was wären diese schmalen Brüste, diese gedankenlosen Köpfe ohne Gigots, ohne Pianoforte! Und doch strafte man Cäsarn nicht durch Stillschweigen, ging nicht wie wegen eines Tollen zur Tagesordnung über, sondern schrie auf und rief das Gefühl, den Himmel, die Moralität zu Hülfe, um einen Ketzer zu bekehren. Der blonde Unzeitgemäße war so glücklich, die Frage in das Gebiet der Politik hinüberzuspielen und aus der Musik eine Sache des Staates zu machen. Hierüber schwieg Cäsar.

Ihn verdroß nichts mehr als das Warmwerden. Er wußte zu gut, daß die Adler niemals in der Fläche horsten. Warum Niagaradonner, wo Knallerbsen genügen? Er gab sich willig dem Spotte Wallys hin, die viel zu leichtsinnig war, auf dergleichen Debatten etwas zu geben, zu eitel, um eine allgemeine Unterhaltung interessant zu finden, und die überdies weder sang noch spielte. Wally hatte Ideen, aber nur momentan; sie verschmähte es, die Geistreiche zu scheinen, weil sie wußte, daß sie schön war. Flüchtig waren ihre Bewegungen, liebenswürdig, ohne Pedanterei ihre Capricen. Cäsar fühlte das und badete sich in dem oberflächlichen Schaume, den Wally von den Ideen nur gelten ließ. Cäsar hatte recht, sie für unfähig zur Spekulation zu halten. Er nahm sie wie ein humoristisches Capriccio der animalischen Natur.

Beide spotteten im Vertrauen über sich, über alle. Was sie sprachen als Sprechenswertes, waren Raketen, die sie sich einander zuwarfen. »Warum brechen Sie über Politik ab?«

»In Athen durfte kein Volksredner auftreten, der nicht verheiratet war.«

»Was Sie gelehrt sind! Ich bin es auch: in Kreta durfte niemand Gesetze geben, der nicht einen Strick um den Hals hatte.«

»Das ist dasselbe Gesetz: Die Athener wollten eigentlich auch sagen, der keinen solchen Strick am Halse habe.«

»Wie unanständig!«

»Wally!«

Wally lachte: es war ein hübscher, vertraulicher Ton, in dem ihr Cäsar drohte. »Was machen Sie mit Leuten, die Ihnen gefallen?« fragte sie ihn, ohne zu wissen, was sie fragte.

»Alles, nur nicht ihre Bekanntschaft.«

»Das ist auffallend! Doch können Sie recht haben.«

»Wonach beurteilen Sie die Menschen, Wally?«

»Nach ihren Werken! – O Gott, nein; dies wäre ja albern geantwortet, wie im Katechismus. Sagen Sie?«

»Nach dem, was sie sind?«

»Nein, nach dem, was sie imstande wären.«

»O Wally, Sie sind liebenswürdig! Woran würden Sie denken, wenn Sie jemanden prüfen wollten, der zu lieben wäre?«

»An die außerordentlichen Fälle.«

Cäsar schwieg. Diese Antwort war zu ernst. Er betrachtete die fünf Ringe, die er über seinen Handschuhen trug, und fragte dann: »Sie reisen ins Bad?«

»In acht Tagen.«

»Sie werden den Rhein sehen?«

»Von Mainz bis Köln.«

»Von Mainz bis Düsseldorf. Sie dürfen einen Besuch bei den Malern und bei Immermann nicht unterlassen. Läge Düsseldorf in Thüringen, es würde ein zweites Weimar werden.«

»Sind die Ufer in der Tat so reizend?«

»Gefällig sind sie und da schön, wo Sie etwas von Rührung einfließen lassen in Ihre Betrachtung.«

»Das versteh' ich nicht.«

»Das Schöne, Wally, ist immer das Überraschende. Ich bin ursprünglich kalt gegen alles, was in Deutschland für schön ausgegeben wird. Am Lurleyfelsen, wo der Rhein sich wie ein See verengt, wo Flinten abgeschossen und Waldhörner geblasen werden, um die Echos, von denen die Handbücher sprechen, zu beweisen: da werden Sie durch diese Zurüstungen zur Wehmut übermannt werden. Ihr blondes, bescheidenes Deutschland, dem Sie nichts zutrauten, nicht einmal das Echo des Lurley, wird Sie rühren, und bei einer fließenden Träne werden Sie sich gestehen müssen, daß der Rhein in der Tat ein schöner Strom ist.«

»Sie wollen sagen, die Natur spräche nur zu uns, je nachdem unser Auge und Herz sie ansieht.«

»Ich stand in dem Kölner Dome. Sie kennen das zerrissene Prinzip unserer Zeit, nichts anzunehmen, was vielleicht richtig ist, aber von Leuten proklamiert wurde, die uns widerstehen. Der Enthusiasmus der einen erkältet immer die andern. Ich wollte den Kölner Dom ironisch betrachten und mußte weinen, da ich ihn sahe, über das Unvollendete der Idee, über die dünnen Hammerschläge der Ausbauer, welche durch die mächtigen Räume picken, über mich selbst, der sein Herz künstlich verhärtet und zu einer gemachten Empfindungslosigkeit herabgestimmt hatte.«

»Die Dampfschiffe fahren zu schnell.«

»Sie fahren zu langsam und sind für das Auge ermüdend. Der Gedanke einer feurigen, über das Wasser kriechenden Schildkröte steht vor unsrer Einbildungskraft, und wir sind einmal daran gewöhnt, das Kriechen für langsam zu halten.«

»Ein sonderbares Bild! Worüber nur meine Tante so lacht?«

»Ihre Tante ist eine Spinne, die über den Ozean kriecht.«

»Wieso?«

»Sie spekuliert in Papieren.«

»Sie spricht über Politik: ich verstehe nichts davon.«

»Verstünden Sie davon, so glichen Sie einem Schmetterling, der sich in die gaserleuchtete Verwirrung eines Salons verflogen hat.«

»Schmetterlinge sind zu Gleichnissen verbraucht.«

»Wie die Unsterblichkeit selbst.«

Wally errötete. Sie blickte auf Cäsars frivoles Lächeln und nahm dies Lächeln für eine Gewißheit, die sie erschrecken machte.

»Wir sähen uns nicht wieder?« fragte sie beklommen.

»Gesetzt, nur die Guten sähen sich«, antwortete Cäsar, »so läßt die Tugend so viel Nuancen übrig, daß nichtsdestoweniger im Jenseits eine Mannigfaltigkeit entstünde, die in seiner nächsten Nähe zu haben Gott kein Vergnügen machen würde. Ja, wir selbst würden uns weigern, alle die zu lieben, welche im Leben ehrliche, aber oft die langweiligsten Menschen waren. Ich weiß aber nicht, wie aus einem langweiligen Menschen plötzlich ein interessanter Engel werden könnte.«

»Sie sind kein Christ?«

»Glauben Sie, daß Christus von den Toten auferstanden ist?«

»O Gott, lassen Sie, ich kann darüber nicht nachdenken. Ich –«

Sie stockte. In ihrem Auge sprach sich ein zerreißender Schmerz aus. So hatte sie Cäsar noch nicht gesehen. Sie erhob sich unruhig und war für diesen Abend verschwunden. Cäsar begriff hievon nichts. Er war so leichtsinnig, an alles zu denken, nur nicht an die Religion. Aber Wally hatte ihn entzückt. Soweit Menschen dieser Art noch lieben können, war Cäsar außer sich. Er folgte Wally ohne Aufenthalt.


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