Karl Gutzkow
Wally, die Zweiflerin
Karl Gutzkow

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Drittes Buch

Wallys Tagebuch

Es ist zu spät, das Leben ihres Bluts
Ist tödlich angesteckt, und ihr Gehirn,
Der Seele zartes Wohnhaus, wie sie lehren,
Sagt uns durch seine eitlen Grübeleien
Das Ende ihrer Sterblichkeit vorher.
Shakespeare

Die Einsamkeit meiner jetzigen Lebensweise zwingt mich, den Kreis, in welchem ich mich bewege, nun doch auch in allen seinen Teilen auszufüllen. Wie beglückt mich Cäsars Liebe! Ich will aber nicht ungerecht sein gegen die Außenwelt und mich wenigstens schriftlich mit ihr beschäftigen, soweit sie ein Recht dazu hat. Viele verdienen es, daß ich auf sie achte: nicht alle. Cäsar sagt mir, ich wäre egoistisch gegen die Welt, er nennt mich sogar grausam. Er meint es gewiß damit aufrichtig. Ich will mich auch mit den andern beschäftigen; aber schriftlich: täglich will ich drei Vormittagsstunden darauf verwenden. Täglich –

Ob ich das Vorige ausstreiche? Fünfmal hab' ich gegen meinen Vorsatz gesündigt, und multipliziere ich die drei vergessenen Stunden mit den fünf vergessenen Tagen, so tat ich's fünfzehnmal. Ich schreibe ungern, denn ich denke viel schneller, als mein bleierner Stil folgen kann. Cäsar sagte mir, man müsse die Menschen in ihrem ganzen Wesen anatomieren. Dadurch lerne man und vergnüge sich. Cäsar hat immer recht.

Ich will einige meiner alten Freundinnen zu schildern suchen. Ich vernachlässige alle; wenn ich sie sehe, zeig' ich ihnen, was ich von ihnen schrieb und daß ich sie doch liebe. Ich will Delphinen charakterisieren, sie ist so verschieden von mir.

Delphine gefällt, ohne schön zu sein. Man kann ihr nicht einmal einen ausgezeichneten Wuchs zugestehen, nur ihre Haltung, ihr schwebender Gang kann den Mann veranlassen, auf sie zu achten. Sie trägt sich mit erstaunenswerter Einfachheit. Ihr Haar ist gescheitelt; ein weißer Kantenstrich, wie man ihn unter Hüten trägt, hebt diese Einfachheit zu dem lieblichsten Eindruck. Weiß und hellblau stehen ihr gut; eine rote Schleife auf der Brust gibt dieser Monotonie der Toilette eine lachende Auffrischung. Delphine hat einen kleinen Fuß. Sie geht sehr schön. Das will viel sagen! Das Blaue in Delphinens Auge ist nicht rein, es ist mit zu viel Weiß gemischt. Für die Augenbrauen ist eine schöne Wölbung da; aber sie ist nicht stark aufgetragen; dieser Reiz verschwindet. Sie hat einige hübsche Gewohnheiten. So faßt sie z. B. oft mit der linken Hand in die Gegend der Stirn, öffnet sie, schließt mit dem Daumen und dem Zeigefinger einen Kreis und beginnt diesen Kreis allmählich zu öffnen, indem sie aus der Tränendrüse des linken Auges zurückfährt, das ganze Auge umkreist und die Öffnung der beiden Finger wieder schließt am Ende des Auges. Diese sonderbare Bewegung erfolgt mit Blitzesschnelle und ist deshalb so hinreißend, weil sie immer mit einer Erregung ihrer Seele zusammenhängt. Der größte Zauber in Delphinens Erscheinung kömmt aber von ihrer eigentümlichen Seelenstimmung her. Diese muß man, um kurz zu sein, sentimental nennen; obschon der Ausdruck sie nicht ganz erschöpft. Besser würde man sagen, sie ist musikalisch gestimmt. Denn Musik drückt ihr ganzes Wesen aus: und zwar nach jener einseitigen Richtung hin, wo die Musik nur Wollust der Empfindung ist. Für plastische Gestaltenschöpfung in der Musik, soweit die Musik diese erreichen kann, für Opern im französischen Geschmack, kurz, für das Dramatische in der Musik ist sie nicht. Die Richtung ihrer Seele ist lyrisch. Alles, was sie mit einem wunderlieblichen Organe spricht, nimmt den Ausdruck des Zarten, Schonenden und Bittenden an. Bittend sind die meisten Töne ihres Lautregisters. Nichts kann hinreißender sein als dies flehende, mit einer gewissen lächelnden und doch schmerzlichen Selbstironie hervorgebrachte: »O Gott!«, womit sie so vieles begleitet, was sie spricht. »O Gott!« Dieser Ausdruck soll ihr ewiges Überwundensein, ihre Hingebung an die Menschheit, an die sie glaubt, ausdrücken. Wer könnte widerstehen, wo solche Töne anschlagen! Delphine ist so willenlos, daß sie die Beute jeder prononcierten Absicht wird. Mit liebenswürdiger Naivetät gestand sie mir einst: Sie würde jeden lieben, der sie liebt. Oh, wie nötig ist es, bei einer solchen Willensschwäche, daß sie in die Hut eines Mannes kömmt, der so viel geistiges Leben besitzt, um sie ganz durchströmen zu können mit seiner eignen Willenskraft! Delphine liebte unglücklich, mehrmals; aber sie ist so unentweiht, ihre früheren Zärtlichkeiten sind so wenig sichtbar in ihrem Benehmen, daß sie dem Manne immer noch als kaum erschlossene Knospe erscheinen muß. Delphine besitzt äußerlich die Reize nicht, einen Mann auf die Länge zu fesseln, aber wer sie einmal, sei es aus Liebe oder Illusion, eroberte, der wird sie nie verlassen können, weil ihre Hülflosigkeit, ihre Hingebung entwaffnet. Vielleicht arbeitet sie noch mehr an ihrem Geiste. Sie hält einige Minuten lang die Dialektik eines bloß verständigen logischen Gesprächs aus; aber dann kann sie es nur fortsetzen, wenn es entweder auf einen gemütlichen und Gefühlston übergeht oder auf einen bestimmten vorliegenden Fall, den sie erlebt hat. Über einen Fall, den man ihr bloß erzählt, kann sie nicht urteilen, weil sie alle Menschen für gut hält und alle nach sich selbst richtet. Delphine sollte viel lesen. Sie liest, aber fragmentarisch. Sie ist reich, sie sollte sich durch vielfache Lektüre darin zu bilden suchen, was über die Musik und das bloße Gefühl hinausliegt. Ihr Organ macht, daß sie schön, ihre keusche Seele, daß sie fast alles richtig liest. Ich hörte sie Gretchen im »Faust« lesen, so wahr und hold, wie es der Peche in Wien und Höffert in Braunschweig kaum gelingen möchte. Cäsar muß ihr Bücher geben. Was er wohl über sie urteilt! Er ist ihr diametral entgegengesetzt und sagte mir doch einmal: er müsse jede lieben, die ihn liebe, und würde auch jeder treu sein in seiner Art. Bei ihm ist das Egoismus, bei Delphinen Schwäche. Sie können sich aber nicht begegnen. Delphine ist eine Jüdin.

 

Ich habe das gestern nur so hingeworfen, daß Delphine eine Jüdin ist. Aber welche eigentümliche Richtung mußte dies ihrem Wesen geben! Sie wurde unter sehr glänzenden Verhältnissen erzogen. Das Judentum in seinem Schmutz, mit seinen Zeremonien und Priestern nahte sich ihr niemals. Sie findet keine Reue darin, irgendeines der jüdischen Gebote zu übertreten, von welchen sie den größten Teil gar nicht kannte. Wie originell ist doch ein Mädchen, das den ganzen Bildungsgang christlicher Ideen nicht durchmachte und doch auf einer Stufe steht, welche ganz Gefühl ist, und das so viel Liebenswürdigkeit entwickelt! Delphine kann von der Religion nur wenige Nachrichten haben, einen weiblichen Gottesdienst gibt es in ihrem Glauben nicht, eine häusliche Verehrung kömmt in Form von Zeremonien, Gesang oder sonst einer Weise nicht vor, die Konfirmation ist unter uns den Juden nicht erlaubt – wie auffallend ist dies alles, und doch hat man es dicht neben sich!

Glücklich ist Delphine zu nennen, denn niemals wird ihr die Religion irgendeine Ängstlichkeit verursachen. Ein gewisses unbestimmtes Dämmern des Gefühls muß für sie schon hinreichend sein, die Nähe des Himmels zu spüren. Sie braucht jene Stufenleiter von positiven Lehren und historischen Tatsachen nicht, die die Christin erst erklimmen muß, um eine Einsicht in das Wesen der Religion zu bekommen. Wir sind weit schwieriger in diesem Betracht gestellt und sollten im Grunde, wenn die Religion die Tugend befördert, weit weniger tugendhaft als die Juden sein; denn unsere Religion ist ein so hoher Münster, daß man ihn zwar ersteigen, aber nicht zu jedem Sims, zu jedem Vorsprunge, zu jedem Seitenturme gelangen kann. Eins aber bemerk' ich, was charakteristisch ist. Niemals könnt' ich als Christin über meine Religion zu Delphinen sprechen und sie eine Verzweiflung über meinen Glauben blicken lassen. Es ist dies eine Scham und ein Stolz, welcher unvertilgbar in uns niedergelegt ist und die uns nicht verlassen würde, selbst wenn vom Christentum alles in uns morsch geworden ist.

Für christliche Männer, welche widerspenstig gegen den Katechismus sind, muß die Liebe einer Jüdin von besonderm Reize sein. Sie nehmen hier weder Bigottismus noch eine Zerrissenheit wie die meinige in den Kauf, sondern weiden sich an der reinen, ungetrübten, natürlichen Weiblichkeit, an einem sinnlichen Schmelz der Liebe, welcher die der Christinnen bei weitem übertreffen soll. Bei einer Jüdin reduziert sich alles einseitig auf ihre Liebe, Rücksichten tauchen nirgends auf: ihre Liebe ist ganz pflanzenartiger Natur, orientalisch, wie eingeschlossen in das Treibhaus eines Harems, der alles erlaubt, jedes Spiel, jede weibliche (aber wollüstig-ergreifende) Gedankenlosigkeit, alles, alles: darum schwillt Delphine von Liebe. Das Segel ihres Herzens ist niemals schlaff, sondern immer aufgebläht, rund und voll, immer auf rauschender Fahrt.

Cäsar entdeckt, glaub' ich, in der Liebe zu Jüdinnen noch einen andern Reiz. Er hat eine ganz heillose Ansicht von der Ehe und will die letztere durchaus nicht als ein Institut der Kirche gelten lassen. Das Sakrament der Ehe ist nach seiner Theorie die Liebe, nicht des Priesters Segen. Wie glücklich würde Cäsar sein, wenn er je heiratete, es ohne kirchliche Zeremonie tun zu dürfen!

Eine Ehe zwischen einer Jüdin und einem Christen kann zwar nicht bei uns, aber in andern Ländern geschlossen werden; natürlich ist dies eine Ehe ohne den christlichen oder jüdischen Priester; es ist eine rein zivile Ehe vor den Gerichten, ein Akt der geselligen Übereinkunft. Ich glaube fast, Cäsar könnte deshalb seine Neigung zu Delphinen ins Äußerste treiben. Schon bemerk' ich, wie eifrig er sie sucht.

 

Wie leichtsinnig bin ich gestern über die Abgründe meines Denkens hingewandelt! Ohne weiteres konnt' ich mich damit beruhigen, diese Zweifel an meinem Glauben hinzunehmen als etwas, das ich mir längst selbst gestanden habe, und doch weiß ich aus meinem frühern Leben, wie unglücklich ich war, daß ich über diese Dinge nichts zu denken wagte. Oh, wie mächtig ist der Liebe Zauber! Ein männliches Herz, das uns liebt, ist der Wächter aller unsrer Gedanken und muß die stille Verantwortung dessen tragen, was in der Seele des Weibes Sünde und Empörung ist. Wie sicher fühl' ich mich, selbst im Entsetzlichsten, wenn ich nur die warme Hand meines Freundes drücken darf! Er nimmt alles auf sich: er ist heiter und lächelt und fürchtet nichts.

 

Wenn ich jetzt schon nicht ohne Zagen sehe, wie Cäsar sich Delphinen immer mehr nähert, wenn ich mir die grausame Wirkung denke, die ein Verhältnis zwischen beiden in mir Unglückseligen hervorbrächte: was muß dann kommen, wenn ich die Trümmer sehe, welche sich in meiner Seele aufgehäuft haben! Die Unruhe, über die Religion eine Ansicht zu haben, peinigt mich mehr als sonst. Sie hat eine solche, jetzt zur Not gedämmte Gewalt über mich, daß ich glauben muß, die Wegnahme dieses Dammes der Liebe bringt eine Überflutung in mir hervor, welche selbst den Schmerz über Cäsars Verlust mit fortschwemmt. Ich lebe und sterbe mit Cäsar. Leben kann ich nur mit Cäsars Liebe. Sterben muß ich, nicht weil Cäsar imstande war, eine andre mir, ein Mädchen einer Frau (ob er es wohl weiß, eine Unberührte einer Unberührten) vorzuziehen, sondern weil dann alles in mir zusammensinkt. Gott, ich glaube, fast brauch' ich Cäsar nur, um mich zu beschäftigen und meinen Gedanken eine unschädliche Richtung zu geben. Er kömmt.

 

Nur die Erkenntnis ist das Schwere. Das Dasein Gottes selbst bezweifeln hieße den gegenwärtigen Zustand meines Innern fortleugnen. Würd' ich diese Mühe haben, wenn es nicht in Wahrheit einen Gott gäbe! Das Resultat des Atheismus war auch nie ein andres, als daß er in ein System überging und zuletzt selbst eine Religion wurde. Konnt' es abergläubigere und bigottere Atheisten geben, als Chaumette, Anacharsis Cloots und Momoro waren!

 

Der Atheismus eine Religion! Eine Ironie, die man satanisch nennen möchte! In einer Reisebeschreibung las ich, daß einer der ersten Gottesleugner der Revolution, Billaud-Varennes, nachdem er auf seiner Flucht erst von der Dressur azorischer Papageien gelebt hatte, dann in Amerika Priester wurde, unter Indianer kam und zuletzt von ihnen als göttliches Wesen verehrt wurde, er, der Gott geleugnet hatte!

 

Diese satanischen Ironien reizen mich. Sollte es möglich sein, daß es noch einst im Himmel einen Gottesdienst gibt! Das Christentum (man lese nur die Offenbarung Johannis) gefällt sich in diesem lächerlichen Widerspruch, als wenn Gott vor sich selber Weihrauch streuen müsse. Er etabliert im Himmel eine vollendete Kirche mit Chören der Seligen und Altären, auf welchen die Cherubim thronen. Goethe benutzte diese Maschinerie für die Kanonisierung seines Faust.

Aber was jag' ich nach solchen Bemerkungen! Sie haben freilich lindernde Kraft, aber ich schäme mich, aus meinem Schmerze Tatsachen heraufzuwühlen und mich selbst als einen Gegenstand meiner Leiden zu betrachten.


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