Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am folgenden Morgen bot sich Wally sogleich eine Ursache zur Verstimmung an, als wenn sie die Erinnerung des gestrigen Abends nicht gehabt hätte. Sie hörte im Nebenzimmer das zufällige Gespräch zweier Leute ihrer Bedienung, die sich über den Geiz und die Geldspekulationen der Herrschaft beklagten. Sie staunte über das ökonomische Talent ihres Mannes, der mit Milch gehandelt und Bier gebraut haben würde, wenn er in Paris zufällig die Anstalten dazu gehabt hätte. Nach jedem Diner ließ der Gesandte die Weinreste zusammengießen und führte seine Bedienten selbst an, wie sie von den Leuchtern die Kerzen nehmen und sie zum Lichtgießer tragen mußten, der sie gegen brauchbares Wachs eintauschte. Wally verstand viel zu wenig von solchen Dingen, als daß sie ihnen eine rechte Würdigung hätte geben können. Sie fühlte ein allgemeines Mißbehagen ihrer Seele, das sie verhinderte, diesmal das Lächerliche an dem Geize ihres Mannes zu entdecken. Es war eine gefährliche Stimmung, in der sie an Cäsar schrieb.
Als sie den Brief beendet hatte und sah, wie nur Kleinigkeiten der Pariser Konversation, satirische Bagatellen und viel Albernheiten aus ihrer Feder geflossen waren, da hatte sie bessre Laune bekommen. Sie freute sich, in Cäsar einen Mann gefunden zu haben, bei dem der Ernst sich hinter so vielem Scherz verstecken durfte, der nicht pedantisch war und vom Gefühl keine Überflutungen verlangte. Das Gefühl war einmal da, nicht in Gestalt einer das Herz betreffenden Empfindung, sondern in Gestalt einer Tatsache, der sich keine andere Auslegung als die einer Neigung geben ließ. Wally liebte jetzt Cäsar wahrhaftig, ohne sich darüber ein Geständnis zu machen. Sie hatte sich ihm auf ewig durch jene mystische Szene verpflichtet. Und doch war es weder Scham, was sie an ihn fesselte, noch der Gedanke, ihn besitzen zu wollen. So viel Unschuld bei so vieler Freiheit!
Als Jeronimo zu ihr eintrat, konnte sie mit Lachen seinen heißen Liebesbewerbungen zuhören, so heiter war sie. Jeronimo machte eine Miene, als wäre ihm ein großes Glück widerfahren, als hätte er ein Unterpfand, das ihn gegen Wallys Scherze sicherte. Sie sagte ihm: »Wie tief sind wir doch schon in den Wahnsinn der Liebe versunken! Bart, Kleidung, alles seh' ich heute an Ihnen vernachlässigt! Sie gleichen jenen Shakespeareschen Liebenden in seinen Lustspielen, die so jämmerlich von dem Schmerz ihrer Brust verzehrt sind und, je verliebter sie werden, desto länger ihre schwarze Wäsche tragen. Und vor acht Tagen sahen wir uns zum ersten Male.«
»Vor sechs Monaten«, entgegnete Jeronimo.
»Wie, Sie kennen mich länger?«
»Länger, als Sie leben, Madame! Ich kannte Sie schon, als Sie nur noch ein Gedanke waren, der im Schoße Gottes schlummerte. Meine Liebe zu Ihnen ist nur die Erinnerung eines alten Glückes. Diese schwellenden Lippen, diese jetzt so spröde Brust: ich weiß es, ich habe sie schon einmal geküßt, ich habe sie schon einmal umarmt.«
»Fabelhafte Dinge muß ich hören, Jeronimo. Was würde die Vikomtesse von Hericourt denken, wenn Alfred Jardinier, dieser bürgerliche, aber liebenswürdige Anbeter, ihr solche Dinge sagte.«
»Lasen Sie Plato, Madame?«
»Nein!«
»Die Seelen meiner Person und der Ihrigen, Wally, sollen einem Schoß entsprossen sein. Die Bilder und Urtypen unsrer Persönlichkeit kannte schon die Ewigkeit, und was wir Liebe nennen, ist nur ein Tribut, den wir unsrer Vergangenheit, unserm Gedächtnisse und unsern früher eingegangenen Verpflichtungen schuldig sind.«
»Sie werden mich überreden wollen, daß Sie urweltliche Rechte auf mich haben; daß Sie diese Hand, welche Sie mir für eine Zärtlichkeit viel zu heftig drücken, schon vor der Sündflut besessen haben. Sie tun Unrecht, eine so kleine Frau, wie ich bin, in die großen Hallen der Philosophie einführen zu wollen.«
»Was Philosophie, Wally! Im Schoße Gottes trugen Sie einst dieselben gelben Pantoffeln, mit welchen Ihr Fuß noch jetzt so reizend kokettiert.«
»Mit all Ihrer Philosophie sind Sie doch im Irrtum über die gelben Pantoffeln. Es sind Schuhe, mein Herr; ich erwarte nun von Ihnen, daß Sie sie zu binden versuchen. Machen Sie es ordentlich, und vernachlässigen Sie mir künftig lieber den Plato als Ihre Toilette, die ganz geschmacklos ist.«
Während die Situation, die jetzt folgte, noch nicht beendigt war, trat ein Diener ein und zeigte an, das Cabriolet Jeronimos sei vorgefahren. Sie nahm ihren Schal, klagte viel darüber, daß er mit nichts umzugehen wisse, und stieg, sich auf ihn stützend, die Treppe hinunter. Jeronimo faßte selbst die Zügel des Pferdes und lenkte das gebrechliche Fahrzeug mit einer Ungeschicklichkeit, die Wally nicht erschreckte, da sie davon nichts verstand. Sie fuhren durch die Boulevards. Jeronimo wollte fahrend sprechen. Er hörte nicht auf, den Schoß Gottes im Mund zu haben. Wally hielt ihm diesen wahnsinnigen Mund zu; er übersah sein Pferd und rannte bei der Porte St. Martin so heftig in die Kutschen der Schauspielerinnen hinein, die vor der Tür des Theaters, wo eben Probe war, hielten, daß seine Bemühungen, sich herauszuwickeln, vergeblich wurden. Die Peitsche brauchte er nur zu seinem Mißgeschick. Das Pferd bäumte sich und hob die Gabel des kleinen Wagens so hoch, daß die beiden darinnen rücklings überfielen und Gefahr liefen, aus ihrem Sitze herausgeschleudert zu werden. Hier mußte ein Unglück geschehen.
Wally verlor einen Augenblick lang die Besinnung. Als sie wieder im Zusammenhang der schrecklichen Szene war, sahe sie den Wagen aus jener Verwirrung herausgeführt und das Pferd von einem Manne beschwichtigt, in welchem sie zu neuem Schreck Cäsar erkannte. Gott, jetzt fiel es ihr ein, sie hatte ihn schon zwei-, dreimal heute an dem Rande der Boulevards gesehen. War er es gewesen, so konnte die Rettung kein Wunder sein. Er mußte sie verfolgt und den Augenblick der nötigen Hülfe wahrgenommen haben.
Jeronimo staunte, wie er bei der weiten Fahrt statt Vorwürfe von Wally nur Scherz und Lachen vernahm. Er stotterte Bitten heraus, die sie nicht verstand. Sie war außer sich vor Entzücken. Jeronimo wußte sich nichts zu erklären und eilte, ihrem Wunsche nachzukommen. Sie wollte nach ihrer Wohnung zurück.
Wally stand den ganzen Vormittag wie auf Kohlen. Sie kam nicht vom Fenster, weil sie jede Minute hoffte, Cäsar an dem Torwege zu sehen. Sie nahm mechanisch an der Mittagstafel teil, ging nicht ins Theater; aber Cäsar kam nicht. Jetzt erst fiel es ihr ein, daß sie sich getäuscht haben konnte, und rief einem ihrer Leute, den sie unverzüglich zu Herrn von Werther, dem preußischen Gesandten, schickte, um über ihren Anblick Gewißheit zu haben.
Der Bote brachte die vernichtende Nachricht, Cäsar hätte sich seit länger als vier Wochen in Paris aufgehalten und habe seinen Paß zur Abreise bereits zurückgenommen.
Wally blieb stumm vor Schmerz. Sie hielt das erblaßte Haupt auf der krampfhaften Hand gestützt und gerann in Eis statt in Tränen. Womit hatte sie diese Demütigung verdient! Sie kannte Cäsar genug, um zu wissen, wie dieses Betragen mit seinem Wesen zusammenhing. Ach! auch dies nicht ganz so wunderbare, wozu Cäsar es machen wird, Begegnen an der Porte St. Martin, sagte sie vor sich hin, wird er wie eine Romanenepisode nehmen, um sein ewiges Selbstennui, seine hypochondrische Quälerei damit zu würzen und aufzustutzen.
Wally seufzte tief auf und durchmaß mit Verzweiflungsschritten ihr Zimmer. Es schien ihr der herbste Schlag, der sie treffen konnte. Das Gehen machte sie ruhiger. Sie setzte sich, und jetzt erst konnte sie weinen.
»Womit verdient' ich das?« war ein erstickter Ton ihrer Stimme. Woran dachte sie jetzt! Was hatte sie alles getan, um ihm eine Liebe zu zeigen, an die er, an die sie nicht glaubte und die sich doch so unvertilgbar in ihre Herzen eingenistet hatte! »Womit verdient' ich das?« Unglückliche Wally! Was hattest du nicht dem Egoismus eines Mannes geopfert? Du gabst ihm deine Seele, deine Gedanken, deine Scham, alles, was du außer dem armseligen Stand der Verheiratung hattest; und dies alles dem Egoismus, dem Lächeln, vielleicht dem Verrat? »Oh, das wäre entsetzlich«, schrie sie auf; dem Verrat? Das nicht, Wally! Aber sein Herz ist kalt, er lebt nur von Gefühlen, die er raffinieren und filtrieren kann, er trotzt gegen sich selbst; du bist die Leiche, die er mit Füßen tritt. Wally! Wally! Ihr Blick fiel auf den noch offenen Brief, den sie an ihn geschrieben hatte. Welches Vertrauen, welche Harmlosigkeit! Wie treue, kindische Worte! Wie alles so selig, so unbewußt verbrecherisch, so süß in etwas, was zuletzt immer eine Übertretung ihrer Pflicht war! Sie hatte ihm alles gegeben! Sie weinte; ihre Gedanken schwammen fort auf ihren nassen Augen, ihr Bewußtsein sank hin in eine allgemeine Erschöpfung, in eine Ohnmacht, die von einem hitzigen Fieber abgelöst wurde. Sie sollte erst nach langer Zeit von diesem Schmerze erwachen.