Karl Gutzkow
Wally, die Zweiflerin
Karl Gutzkow

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Wir sollen Gott fürchten und lieben! Dies eine Gebot untergräbt meine Ruhe; denn ich kann es weder befolgen noch mich anklagen deshalb, weil ich es nicht tue. Wir sollen Gott zürnen, heißt das Gebot meiner Weltansicht, welche eine unglückliche ist und freilich sich nicht damit zufriedengibt, daß jährlich vier Jahreszeiten kommen und man im Frühjahr Erdbeeren ißt, welche mit Zucker und Milch ein so vortreffliches Surrogat der Vanille sind. Es ist im Grunde nicht viel, was wir besitzen auf Erden. Wir werden geboren oft in den elendesten Verhältnissen. Wir kriechen tierisch auf dem Boden und werden nur allmählich aufgerichtet, wie Schlinggewächs an das Spalier der Bildung. Not, Mühsal verfolgt uns überall; selten ein Genuß, der nicht durch eine Anstrengung erkauft ist. Wir haben so viel mit der Materie zu kämpfen. Wir wälzen einen Stein wie Sisyphus den Berg hinauf; warum müssen wir es tun? Der Fluch, nicht der Segen der Götter begleitet uns. Warum sind wir? Oh, könnt' ich mir irgendeinen erweislichen Grund vorstellen, warum diese Planeten im Weltsysteme irren, warum wir auf unserm Planeten so armselig und hülflos kriechen müssen? Was bezweckte Gott damit? War dies eine Grille von ihm? Was kömmt darauf an, ob das Gute oder Böse in der Weltordnung produziert wird? Ich bin so unglücklich. Ich weiß hierauf keine Antwort.

Die Fähigkeit, Fragen aufzuwerfen, ließ Gott bei der Schöpfung oder bei der ewigen Schöpfung, bei unsrer Geburt, ohne die entsprechende Fähigkeit, auch Antwort darauf zu geben. Diese Halbheit einer Gabe ist so feindselig. Gott duldete es, daß der Glaube an ihn die Tagesordnung der Geschichte wurde; er duldete es, daß noch heute der Atheismus wie das größte Verbrechen von den Völkern behandelt wird. Nun, ich denke an Gott; aber warum gab er uns nicht die Fähigkeit, ihn begreifen zu können? Verlangt er die Folgen, warum ließ er mich ohne die Voraussetzungen? Alle Nationen kommen darin überein, daß man von Gott nichts wissen könne. Dann weiß ich auch nicht, warum sie an ihn glauben. Oder es darf mich niemand tadeln, wenn ich denke, die Existenz Gottes anzunehmen war eine ganz äußerliche, politische und polizeiliche Übereinkunft der Völker. Denn warum haben wir halbe Vernunft, halbe Erkenntnis, halben Geist? Warum zu allem nur die Elemente? Und wir sind so vermessen und bauen auf diesen trüben Boden Systeme, welche den Schein der Vollendung tragen und uns mit Verpflichtungen willkürlich belasten!

Und zuletzt der Tod! Dieser Schrecken des Tods! Die Krankheit mit ihrer unsäglichen Hülflosigkeit! Das allmähliche Verschwinden des Bewußtseins! Und dies alles nicht einmal so entsetzlich als das Zunehmen an Jahren. Jetzt bin ich zwanzig Jahre: welche Empfindungen werd' ich haben, wenn ich vierzig, fünfzig bin und es nun heißt: noch zehn, noch fünf sind die Wahrscheinlichkeit! Dies ist eine so folternde Grausamkeit des Schicksals, ein solcher Fluch der menschlichen Natur, daß ich mich nie entschließen kann, das Gebot der Gottesliebe zu befolgen. Man gab uns einiges, und das meiste wurde uns versagt. Das einzige, was wir in seiner ganzen Vollkommenheit zu besitzen scheinen, ist die Fähigkeit, unsern unglücklichen Zustand zu begreifen und alle die Dinge zu nennen, welche wir vermissen sollen.

 

Ich habe mir ein merkwürdiges Buch verschafft, von dem ich einmal durch Cäsar hörte: die »Fragmente des Wolfenbüttler Ungenannten«, welche Lessing herausgegeben hat. Es liegt viel Puderstaub auf dem Buche, viel altfränkisches Wesen; aber das hab' ich abgewischt und mir von meiner Lektüre eine ganz moderne Vorstellung gemacht. Der Verfasser soll ein ehemaliger Hamburger Arzt, Reimarus, gewesen sein. Die vollständige Prüfung des Christentums steht in einem Glasschranke auf der Hamburger Bibliothek. Sie wollen das Buch nicht herausgeben. Sie fürchten, daß aus dem vergilbten Papiere jener Kritik Motten fliegen, die das Christentum selbst anfressen. Warum Lessing nur sagt, daß der Verfasser jener Fragmente Schmidt heiße!

 

Die »Fragmente« nehmen meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Ihr nüchterner, leidenschaftsloser Ton erschreckt das Gewissen nicht. Ich lese in der besten Laune. Wie der Autor die Bibel zerfleischt, wie er in den glattgescheitelten Mienen jener Fischer und Zöllner, welche das Christentum predigten, den Schalk entdeckt, denselben Schalk, den der gottselige Pietismus so oft im Nacken führt! Und doch jammert mich's jener kindlichen, märchenhaften Sage, die der Autor mit so vieler Gelehrsamkeit vernichtet! Nur eines bestimmt mich, ihm beizupflichten, der Hinblick auf das, was uns umgibt, auf unsre Priester, auf – ach! wie hängt das alles zusammen! Aus jenem kleinen christlichen Senfkorn ist ein ganzes Senfpflaster geworden, das der gesunden Vernunft die brennendsten Blasen zieht!

Ganz männlich werden meine Ausdrücke!

 

Und doch können die »Fragmente« nicht befriedigen. Sie deuten auf eine Naturreligion, mit deren Voraussetzungen sich die heutige wissenschaftliche Bildung kaum noch begnügen würde. Die Frage muß höher liegen. Sie dringt dort nicht in das Innre der Christuslehre ein, sie hält sich nur an deren historische Offenbarung. Ich suche Trost. Wo? Wo?

 

Ich war gefaßt auf diese Eiseskälte, mit der mir Cäsar seinen Entschluß anzeigt. Was ich vermutete, ist eingetroffen. Delphinens Situation reizt ihn. Er wird um ihre Hand bitten. Die Eltern sind ohne Vorurteile, und ich werde ihn verloren haben. Ich bin ruhig. Ich habe keine Tränen für diesen Verlust. Ich bin in einer fürchterlichen Seelenstimmung. Ist dies nicht ein neuer Fluch des Himmels? Oh, jetzt sind mir die Blitze des Schicksals willkommen, denn die Donner, welche ihnen nachrollen, wecken mich immer mehr aus der dumpfen Betäubung meiner Gedanken. Ich muß Licht haben, Aufschluß, Einsicht! Ich denke an Cäsar nicht mehr. Ich will wissen, erkennen. Warum? Wozu? Oh, das sah' ich alles voraus.

 

Ich bin krank, ich fühl' es. Sollte das auf ein Zunehmen deuten? Ist auch im Geistigen wie im Körper Wachstum eine Krankheit?

 

Glückliche Naivetät der vergangenen Zeiten! Ich komme von einer Ausstellung alter Gemälde. Auf vielen, die Transfigurationen und Glorien der Heiligen vorstellen, sah' ich Engel, welche die Geige spielten. Dies würde mir weniger auffallend gewesen sein, wenn sie es nicht nach Noten getan hätten.

Und doch gleicht die Malerei selbst, die Kunst, diese Lächerlichkeit aus. Die Poesie würde es nicht können. Die Poesie hat diese Einfachheit nicht; sie würde solche Anomalien immer nur als Travestie geben.

Und wie entwürdigt sie sich, wenn sie es tut! Man sollte den Spott über das Heilige, das Wühlen der Mistkäfer in duftenden Blumen, bitter verfolgen, auch die Freigeister sollten es; sie, die alle Sorge tragen müssen, nicht mit den Spöttern verwechselt zu werden.

 

Es würde mir viel leichter werden, den göttlichen Begriffen mit Sicherheit nachzuhängen, wenn ich vom Nichts eine Vorstellung festhalten könnte. Aber dies ist unmöglich. Ich habe schon früh an dieser Verzweiflung gelitten. Ich wollte schon als Kind mir zuweilen alles wegdenken, was ich sahe und denken konnte, Europa, Asien, Afrika, die ganze Erde, den Himmel, alle Schöpfung, und dann war es immer, als stürzt' ich von einer unermeßlichen Höhe ins Leere hinunter und fiel ohne Aufenthalt. Fast möcht' ich sagen, ich bin seither mit Eindrücken beladener, und es würde mir schwieriger sein als ehemals, eine solche Vorstellung des Nichts zu fixieren. Ach das hohle, weite Chaos, diese dumpfe Leere, worin das Nichts unsichtbar schlummert! Und Gott, der dieses Nichts selbst ist, nämlich dasselbe Nichts, das später doch ein Etwas wurde! Gott, der in dem Nichts ist und doch wiederum auch in dem Etwas nicht sein soll, weil dies die Welt selbst vergöttern heißen würde! Der pantheistische Gedanke widerstrebt mir, und ich glaube, Frauen werden ihn niemals hegen können, weil sie durch sich selbst schon gewohnt sind, alle Dinge in aktive und passive einzuteilen. Wir werden immer anthropomorphische Ideen haben; das Christentum unterstützt uns darin. Die Vorstellung eines über uns thronenden Werkmeisters ist ein Bedürfnis, das unsere Phantasie immer geltend machen wird. Jedes andre, ach, alles, alles ist uns verschlossen.

 

Cäsar wird in Ländern wohnen, wo das französische Recht herrscht. Er ist glücklich, sich ohne die Kirche verheiraten zu dürfen. Eine bürgerliche Verbindung wird zwischen ihm und Delphinen stattfinden. Wenn er nur meinen Zustand schonte! Aber er kennt ihn nicht. Wüßte er, wie mich seine leichte Manier über die Religion so tief verwundet! Das Peinlichste ist dies, daß er sich öfter das Ansehen gibt, als ließen sich einige Wahrheiten sogar im christlichen Glauben unumstößlich beweisen. Dann tut er's und beginnt über die schwierigsten Punkte Entwickelungen, welche er mit ernster Miene durchführt und, wenn er zu Ende ist, für phantastischen Witz erklärt. So begann er neulich folgende Auseinandersetzung der christlichen Lehre von der Dreieinigkeit, eines Begriffes, den ich noch gar nicht anrührte, weil ich mit seinen Prämissen noch nicht im reinen bin. Er sagte: Die bloße Vaterschaft Gottes ist relativ, sie ist unerkennbar oder, wie Jakob Böhme gesagt hat, ein dunkles Tal. Licht und Erkenntnis kömmt erst durch den Sohn. Beide dürfen nicht isoliert gedacht werden, ihre Ergänzung, ihre Wechselseitigkeit ist der Heilige Geist. Gott als das bloße Alles oder das bloße Nichts ist unerkennbar. Gott muß sich etwas gegenüberstellen, einen Schatten seiner selbst, er mußte sich negieren aus seiner Ruhe heraus und schuf die Natur. Die Natur ist nicht Gott, denn dann müßte die Natur ein Zustand sein. Nein, die Natur ist eine Tätigkeit Gottes, und alles in Gott Tätige, auf die Außenwelt Bezügliche, ist in ihm das Englische. Die Engel sind die Herolde des göttlichen Willens, und ihre Zahl ist so unendlich, wie, fast möchte man sagen, die Atome der Welt. Die Engel wohnten ursprünglich in Gott; denn seine Tätigkeit ist seinem Sein immanent. Darum mußten die Engel auch gut sein ursprünglich. Luzifer aber empört sich, Luzifer, der Lichtbringer, der die Finsternis erhellt. Dies Empören ist eine Tätigkeit Gottes, das heißt Gott wird das Gegenteil seiner selbst, Gott wird Satan. Ja, die Natur ist Teufel, dieselbe Natur, welche für Gott durchaus nicht vorhanden ist, da sie nur sein Atem ist. Die Natur vor Gott ist so, als wäre sie nicht. Vor Gott gibt es auch einen Teufel, als gäb' es ihn nicht. Je höher bei dem einen oder andern das philosophische Bewußtsein ist, desto weniger existiert für ihn auch der Teufel. Im Christentum ist der Teufel ideell gänzlich ausgetrieben, denn Gott sonderte die menschliche Individualität von der Natur ab und gab dieser in seinem Sohne eine eigne Offenbarung. Gott wollte den Widerspruch seiner selbst durch sich selbst strafen und an sich seinen eigenen Prozeß büßen lassen. Er wurde gekreuzigt, und es herrscht hinfort nicht mehr Gott, nicht mehr Satan, nicht mehr der Mensch, nicht mehr die Natur, sondern das Reich des Geistes, der Freiheit und der Wahrheit.

Was hatt' ich nun von dieser Improvisation! Mit einer Art von komischem Atheismus schloß Cäsar seine mystische Deduktion, welche Menschen von größerer Einbildungskraft, als ich besitze, viel Beruhigung gewähren mag. Ich soll schon an den Sohn glauben und bin noch mit dem Vater unbekannt.

 

Ich habe mich drei Wochen lang täglich in Vergnügungen berauscht. Ich mußte der Welt zeigen, daß ich Cäsars Entfernung ertragen kann, ich mußte es mir selbst zeigen. Aber es erquickt mich nichts mehr. Cäsars Liebe war die schönste Zerstreuung meiner unglücklichen Seelenstimmung. Ich sinke immer tiefer in Nacht und Verzweiflung. Man erkennt mich nicht wieder. Oft bin ich so von Wehmut aufgelöst, daß ich in die Kammer stürze, wo die Erinnerungen meiner ersten Kindheit aufbewahrt liegen. Ich räumte auf in der Verwirrung, um mich zu zerstreuen. Ein Stilett fiel mir in die Hand. Wie mag das hierhergekommen sein?

 

Ich glaube, Cäsar müßte sich schämen, noch zu leben, wenn er keine Auskunft geben kann. Seine Scherze verdecken nur eine Überzeugung, die vielleicht folgerichtig ist. Ich habe ihm geschrieben, sie auch mir zu geben. In Heidelberg muß ihn mein Brief treffen; er wird sich sogleich hinsetzen, um mir, ich hab' ihm die Hand aufs Herz gelegt und ihn feierlichst beschworen, seine ernsthafte Meinung über Religion und Christentum zu sagen. Ich zittre, wenn seine Darstellung einläuft.

Das Stilett gehörte meinem Bruder, der in demselben Alter gestorben ist, in welchem ich mich jetzt befinde.


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