Karl Gutzkow
Wally, die Zweiflerin
Karl Gutzkow

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Schelling und Hegel, jener von katholischer, dieser von protestantischer Seite, stellten den letzten Versuch an, die Philosophie mit der Offenbarung in Einklang zu bringen. Schelling übertrug allerhand Analogien des Naturprozesses auf die Geheimnislehren des Christentums: er wußte Opfer, Menschwerdung usf. durch witzige Bilder von seiten der Phantasie annehmlich zu machen. Hegel stützte sich auf den Geschichtsprozeß, auf die innerlichen Ruhemomente seiner metaphysischen Logik, deren ganzes Schema allein schon den Begriff der Trinität ausdrückte. Hegels Philosophie scheint mir auch wahrlich die einzige, die imstande ist, das Christentum zu beurteilen. Ihr Standpunkt ist der historische. Sie bringt einen Schematismus in die Begebenheiten, welcher den innern und äußern Sinnen wohltut. Wodurch ist auch das Christentum eine so imposante Erscheinung? Durch seine historische Stellung. Hegel hat die Verschiedenheit der Zeiten immer vortrefflich charakterisiert und das Eigentümliche des Christentums darin gefunden, daß sich logische und historische Begriffe daran akkommodieren lassen. Aber mehr gelang ihm nicht. Seine Philosophie des Christentums konnte nur da erst anfangen, als die Entwicklung der christlichen Lehre zu Ende war. Hegels Maßstab ist überall die Vergangenheit. Seine Erklärungen sind typischer Art, seine Philosophie ist eine Auslegung. Schelling und Hegel stehen an der Spitze jenes christlichen Dilettantismus, der aus künstlerischen Interessen sich mit verstopftem Ohre in eine grundlose Flut versenkt. Das Christentum selbst muß dabei seinen Kredit verlieren, wenn nur noch Dichter, Grübler, Künstler, verzweifelte und polizeilich beaufsichtigte Menschen sich für die Erklärung seiner Satzungen interessieren. Der gesunde Teil der Menschheit wird in eine andere Strömung des stürmenden Weltgeistes gerissen werden.

Unser Zeitalter ist politisch, aber nicht gottlos. Wie gern verbände es die Freiheit der Völker mit dem Glauben an die Ewigkeit! Aber unchristlich ist unser Zeitalter, denn das Christentum scheint sich überall der politischen Emanzipation in den Weg zu stellen. Daher jene merkwürdigen Erscheinungen, welche die neuere Zeit auf dem Gebiete, man weiß nicht, soll man sagen, der Politik oder der Religion hervorgebracht hat. Überall Sektengeist, Religionsstifter, Religionen auf Aktien, Religionen auf Subskription, jede Religion, nur kein Christentum. Man spricht von Priestern, von einer Theokratie, von Gottesdienst, nur nichts Christliches. Es ist erstaunenswert, daß diese Dinge in Frankreich auftauchen, in einem Lande, das für Europa die Mission der Freiheit hat, in einem Lande, das in der neuern Geschichte für alle Fragen der Kultur die Initiative übernommen zu haben scheint. Wir reden hier vom St. Simonismus und den »Worten eines Gläubigen«.

In diese beiden Bekenntnisse ist zuerst die Anerkennung der politischen Tendenz des Jahrhunderts niedergelegt. Man hat hier die Unverschämtheit vermieden, welche die hungernden Arbeiter auf das himmlische Brot des ewigen Lebens anweist. Die Religion der Entsagung mag für Jahre passen, wo die Ernte nicht geraten ist; aber wo Fülle und Verschwendung rings ihre Feste feiern, da murrt die Menschheit über eine Religion, welche immerfort an das Sichschicken, an die Demut, an den Ratschluß Gottes appelliert. Von dieser Seite des Christentums überhaupt, die sich dem Zeitgeiste entgegenstellt, kann nicht mehr die Rede sein. Der Unterschied zwischen den beiden Bekenntnissen ist der, daß der St. Simonismus das Christentum antiquiert und durch einige materielle Philosopheme nebst kirchlichen, freilich dem alten Glauben entnommenen Institutionen zu ersetzen sucht, die »Worte eines Gläubigen« dagegen auf den demokratischen Ursprung des Christentums zurückgehen und unverhohlen eine republikanische Tendenz desselben aussprechen. Der St. Simonismus will den Staat von der Kirche, die »Worte eines Gläubigen« wollen die Kirche vom Staate befreien. Jener weist auf die Zukunft, diese auf die Vergangenheit. Beide aber kränkeln an ähnlichen Gebrechen: der St. Simonismus an der Philosophasterei: La Mennais am Katholizismus. Wie soll man in der Kürze über beide Tendenzen urteilen? Beide sind keine Revolutionen, aber sie sind Symptome. Der St. Simonismus verrät ein Bedürfnis der Menschheit: die »Worte eines Gläubigen« suchen es zu befriedigen, aber sie befriedigen es nur zur Hälfte.

Ich habe die Tatsachen der Vergangenheit verfolgt und breche da ab, wo alles, was nun kommen muß, nicht so von mir vorgezeichnet werden kann, sondern in die Hand der Zeitgenossen gegeben ist. Lasset mich an einem Orte innehalten, den wir selber auszufüllen haben, bei jenen weißen Blättern der Geschichte, die hinfort von uns beschrieben werden sollen!

Ich höre draußen ein simultanes Glockengeläut: katholische und protestantische Töne. Es ist Pfingsten, ein Fest, wo man zwar nicht mehr plötzlich wie einst in Jerusalem gut Englisch, Spanisch und Sanskrit lernt, was mir sehr lieb wäre: wo aber der Heilige Geist auf alle Welt ausgegossen wurde. Wir leben in der Zeit des Heiligen Geistes, von dem Christus selber sagt, daß er uns in alle Wahrheit führen und freimachen würde. So scheint es sogar jener Mann gewußt zu haben, daß die Geschichte immerdar ihre eigne Autorität bleibt, daß der Weltgeist rastlos wirkt und in uns schafft und die Wahrheit zuletzt nur der Gottesdienst im Tempel der Freiheit ist. Wir werden keinen neuen Himmel und keine neue Erde haben; aber die Brücke zwischen beiden, scheint es, muß von neuem gebaut werden.

 

Es schlug Mitternacht, als Wally das saubergeschriebene Heft durchlesen hatte. Die Wachskerze war tief heruntergebrannt, ihre Augen glühten, sie hatte Tränen nötig, um den heißen Brand zu löschen. Aber die Tränen kamen nicht. Sie saß da, versteinert wie Niobe, der man das Liebste und Teuerste wegschießt. Rings war alles grauenhaft still, nur der Uhrpendel schwang sich unterm Glase hin und her und zählte die Minuten, die den Geistern auf Erden zu wandeln vergönnt waren. Wally lebte nur in den Worten, die sie gelesen hatte, und flüsterte sich zu: »Ich sterb' auch mit ihnen.« Dann ergriff sie mechanisch den kleinen Kerzenrest, der noch brannte, und schritt in ihr Schlafgemach, einen finstern, dämonischen Schatten werfend.

 

Noch sechs Monate hielt Wally ein Leben aus, dessen Stütze weggenommen war. Sie, die Zweiflerin, die Ungewisse, die Feindin Gottes, war sie nicht frömmer als die, welche sich mit einem nicht verstandenen Glauben beruhigen? Sie hatte die tiefe Überzeugung in sich, daß ohne Religion das Leben des Menschen elend ist. Sie ging nun damit um, dem ihrigen ein Ende zu machen.

Je unerschütterlicher sich dieser Gedanke bei ihr festgesetzt hatte, desto mehr suchte sie ihn äußerlich zu verbergen. Sie zeigte sogar, je gewisser sie mit sich selbst wurde, eine heitre Unbefangenheit, die die Rückkehr ihrer frühern Laune hoffen ließ.

Sie war viel auf ihrem Zimmer allein, weinte und rang; aber beten konnte sie nicht. Sie warf sich wohl oft verzweifelnd auf die Knie, aber wie eine eherne Mauer stand es vor ihr, wenn sie flehend die Hand ausstreckte. Sie schrieb noch einzelne ihren Seelenzustand verratende Aphorismen in ihr Tagebuch; die meisten bewegten sich um den Gedanken des Todes. An der Ursache desselben hatte sie nichts mehr, was sie in sich ändern konnte. Eine Stelle, welche man später im Buche fand, war ganz mit Tränen durchnäßt. Man konnte das an der geronnenen Dinte und dem zerknitterten Papiere sehen. Sie hieß:

 

O Jesus! Nie warst du mir teurer als tränenvergießend im Garten von Gethsemane! Jesus! Du batest Gott, daß er den Kelch dieses herben Todes möchte an dir vorübergehen lassen, du, du, der die Welt verändert hat! Und die Jünger schliefen. Sie achteten deiner flehenden Stimme nicht, daß sie mit dir wachten, daß sie mit dir weinten auf dem Ölberge. Ach, um mich schlafen sie alle, und niemand kennt den Schmerz, der mich verzehrt, niemand wacht mit mir, niemand betet für mich!

 

Es war an einem trüben und regnerischen Herbsttage. Die Kastanien prasselten von den Bäumen. Der Wind schlug die Regenschauer an die nassen Fenster. Alles in der Natur schien zu Grabe zu gehen. Wally saß einsam in ihrem Zimmer. Eine Uhr lag neben ihr. Neben der Uhr ein rotes Tuch, das einen unsichtbaren Gegenstand bedeckte.

Eine Stunde verrann nach der andern. Um die sechste dunkelte es. Man brachte ihr Licht. Sie winkte stumm mit der Hand, als man nach ihren Befehlen fragte.

Sie trat ans Klavier und schlug einige Akkorde an. Es schlug sieben Uhr.

Dann setzte sie sich und schrieb einige Zeilen:

 

Ich muß sterben, denn hassenswert schien' ich mir, wenn ich mich durch die Welt schliche und mir selbst verbergen wollte, was ich leide. Wir erkennen Gott nicht. Nun und nimmer mehr. Das tragische und der Menschheit würdige Schicksal unsers Planeten wäre, daß er sich selbst anzündete und alle, die Leben atmen, sich auf den Scheiterhaufen der brennenden Erde würfen. Alle müßten sie sich opfern – aus Haß gegen den Himmel; opfern, wie man Rechnungen verdirbt, die ohne den Wirt gemacht werden. Alle! Alle! Dann wäre das Problem gelöst, und Gott müßte eilen, sich neue Menschen, neue Sklaven zu schaffen. Barbarischer Mord der Völker untereinander, glaubt ihr, werde das Ende der Dinge sein? Die wiedererwachende Roheit der Natur? Hyänen, die sich untereinander zerfleischen, sind euch der Zweck der Geschichte? Gräßlicher Gedanke! Prophezeihung, würdig eines Henkers! Sie werden sterben, aber sie werden alle den Dolch in ihre eigene Brust senken und eine große Kette der Freundschaft schließen, die Menschen! Sie werden sich fassen alle an ihrer Hand und mit der Rechten den Stoß vollbringen und noch im Tode sich mit ihren Küssen bedecken. Sie werden sterben, weil sie reif sind, weil sie das Höchste erreichten in Wissenschaft und Kunst, weil sie alle ineinandergerechnet der Gottheit gleichkommen. Aber die Gottheit sitzt hinter einem Vorhange und verbirgt nach wie vor ihr sprödes Antlitz und zögert, zu kommen und sich zu enthüllen. Was haben wir ihr getan?

 

Es schlug acht Uhr. Sie war in eine Aufregung gekommen, welche für ihren Entschluß nicht paßte. Was ist Sturm, Ungewitter, Herbst, was selbst der Schmerz der Seele und des Herzens, wenn der Geist seine Gedanken aufrüttelt und die Denkkraft ihre Fühlfäden ausschießt? Das Denken erhält den Mut, den man am Wissen verliert. Wally war so nahe daran, ihre Verirrung zu fühlen. Aber sie war ein weibliches Herz, das nicht so leicht vergißt, was es einmal wollte, und in sich selbst kein großes Register von Entschließungen hat, wo sie wählen könnte. Sie fiel in den alten Schmerz zurück.

Um neun Uhr griff sie noch einmal nach der Feder und schrieb:

 

Lebet wohl! Alle! Alle! Armselig war mein Leben; wie klein, wie nichtig alle die Beziehungen meiner Jugend! Und das war wohl des Todes wert; denn ich bin nichts, nur Staub, nur Vernichtung. Mein Leben ist unnütz. Grüßet sie alle, grüßet den Frühling des kommenden Jahres, wo ich tot sein werde und keines Vogels Ruf mich wieder wecken wird. Ich danke euch allen, die mich liebten, und Dir, Dir, Cäsar; allen! Allen!

 

Sie mußte noch viel geweint haben. Auch diese Zeilen waren verronnen in nasse Punkte. Sie mußte dann den Stoß vollbracht haben mit jenem Dolche, der ihrem toten Bruder gehörte.

Man fand sie auf dem Bette ausgestreckt. Das Licht stand zu ihren Häupten. Sie hatte mit beiden Händen den in das rote Tuch gewickelten und darin auch von ihr während des Stoßes gelassenen Dolch in ihr Herz gedrückt und lag da, nicht lächelnd und ruhig, wie wohl in andern Fällen hier getroffen ist, sondern mit krampfhafter Verzerrung ihres schönen Antlitzes und einem Ausdrucke der Verzweiflung in den starren Augen, der erschrecken machte.

Sie wurde mit Gepränge bestattet. Die, welche am Grabe standen, beweinten nicht sie selbst, sondern nur ihre Jugend.


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