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Am ersten Sonntag im Monat Dezember setzt das Syndikatbureau den Tag nach Weihnachten als Datum für den bedeutenden Gang fest …
Am 15. teilte Guillemet dieses auf meine Anordnung brieflich den Sekretären einer jeden Abteilung mit, mit der Bemerkung, daß es notwendig wäre, alle Mitglieder davon zu verständigen, indem man ihnen noch einmal mitteilte, was von ihnen erwartet würde.
Aus Pericourt erreichte mich am 22. des Monats die erste Antwort. Sie war sehr klar:
»Kamerad!
Ich will Euch verständigen, daß wir uns versammelt haben, wir sechs Syndikalisten aus Pericourt, um die fragliche Angelegenheit nachzuprüfen. Wir haben einstimmig beschlossen, uns der Bewegung vom 26. dieses nicht anzuschließen. Wir sind hier nicht zahlreich genug; derart würde sich alles nur gegen uns richten, ohne daß jemand damit gedient wäre.
Wir wünschen den Kameraden der anderen Gemeinden einen guten Erfolg. Wenn sie das Glück haben sollten durchzudringen, würde das uns Syndikalisten viele neue Anhänger einbringen, und darauf wären auch wir in der Lage zu handeln …«
Zwei weitere Schreiben ganz ähnlicher Art kamen am nächsten Tag aus Fresnois und Firmelière.
Am 24. habe ich den Besuch meines Vaters, der von denen aus Cremery abgesandt worden ist, um mir klarzumachen, daß sie fernbleiben würden; eine Stunde später – den Besuch des Schriftführers aus Anlezey, der mir gesandt wird, um gleiches zu melden.
Marthe André hat ihre Schlachterei seit vierzehn Tagen verkauft, aber sie wohnt noch zeitweilig in Baugignoux; eine andere Witwe, die ihre Freundin ist, hat ihr in ihrer Wohnung zwei Zimmer abvermietet.
Am Weihnachtstag, nachdem ich um elf Uhr in Baugignoux angekommen bin, begebe ich mich ein wenig zu Marthe, die in der gegenwärtigen Unruhe meines Geistes die wahrhaftig mitfühlende Freundin geblieben ist, mit der ich mich zur vollen Zufriedenheit aussprechen kann.
»Weißt du,« sagt sie, »daß dein Freund Hervaux hier zum Flurjäger ernannt worden ist? Gestern hat sich das entschieden … Ich bin sicher, daß du das nicht erwartet hast!«
Ich bleibe eine Weile ganz verwirrt sitzen, unfähig zu glauben, und frage mich, ob Marthe sich nicht einfach über mich lustig macht. Hervaux Flurjäger! … Das ist ja prachtvoll … Er kann uns vielleicht zur Rede stellen, wenn wir mit der roten Fahne losgehen!
»Das muß ich sagen,« meinte ich dann endlich, »auf das bin ich nicht gefaßt gewesen. Ich merk das jetzt, daß ich mich noch wundern kann.«
»Ich will dir nur auch gleich sagen, daß ihr morgen Herrn Trochère nicht sehen werdet. Seine Magd hat mir erzählt, daß er heute abend für einige zehn Tage nach Südfrankreich reist, jedenfalls wegen Weineinkäufen. Es wird also unnötig sein, bei ihm zu demonstrieren. Ihr werdet die Frau nur erschrecken, die da nichts dazu tun kann … Die Arme, sie ist ganz unbeteiligt an allem.«
»Sieh, sieh, diese Reise des Herrn Bürgermeisters kommt gerade zur rechten Zeit, um ihn für den nötigen Augenblick der möglichen Verantwortlichkeit zu entheben! Sollte die Zeit nicht daraufhin ausgesucht worden sein? Sollte es von seiner Seite aus nicht eine ›politische‹ Reise sein?«
Ich habe gegen Mittag eine Zusammenkunft mit meinen Bureaukollegen verabredet; wir sollen unsere Wahrnehmungen austauschen und die letzten Anordnungen treffen in Hinsicht auf den kommenden Tag … Ich stehe auf, um mich von Marthe zu verabschieden, aber sie schlägt mir vor:
»Wenn du deine Sachen erledigt hast, komm doch vorbei und hol mich ab; ich gehe dann mit dir hinüber und bleibe einen oder zwei Tage in La Fayt, das heißt natürlich, wenn ich euch nicht störe … Morgen werde ich Jeanne Gesellschaft leisten in deiner Abwesenheit.«
Wir machen uns um drei Uhr auf den Weg. Die Luft ist weich, die Sonne erhellt ein wenig das Land; eine Schar kleiner Mädchen in bestem Sonntagsputz ist auf dem Weg nach der Kirche begriffen, deren Glocken mit vollem Klang die Vesper einläuten. Ein großes Empfinden der Ruhe steigt aus dem starr daliegenden Ackerland auf, und die von allem Geheimnisvollen entblößten Umrisse der entblätterten Bäume zeigen in diesem blassen Licht die Stärke und Zartheit ihres Aufbaus.
Wir gehen fast schweigend. Marthe hebt ihr Trauerkleid hoch des Schmutzes wegen; ihre Röcke bearbeiten dessenungeachtet die Hacken ihrer Überschuhe und beklagen sich durch ein Aufklatschen bei jedem Schritt. Sie ist des vielen Gehens entwöhnt; ihr Gesicht unter der Kapuze aus schwarzer Wolle färbt sich leicht: schließlich muß sie mich bitten, etwas langsamer zu gehen.
Jeanne, wie gewöhnlich mißmutig und ärgerlich, empfängt uns kühl, wird aber lebhafter, als Marthe den kleinen Wollmantel und die Kuchen auspackt, die sie für Maurice mitgebracht hat. Und von dem Augenblick an, wo ich das Haus verlasse, um meine Kühe zu melken, wird sie gesprächig, um unserer Freundin lange Auseinandersetzungen über ihr Elend zu machen.
Unserer Abmachung getreu bin ich um neun Uhr in Baugignoux. Der Flecken erwacht langsam und trübselig an diesem nebligen Morgen. Ungekämmte Hausfrauen fegen die Straße bis an die Rinnsteine der Abgüsse und Abfallsrinnen, vor denen ein Hundetrio herumlungert. Die Briefträger, mit vollgestopften Säcken und Paketen unter dem Arm, machen ihren Gang von Haustür zu Haustür. Zwei Betrunkene kommen ihren Zickzackgang von der Altstadt her. Ein Zug pfeift bei der Einfahrt in die Bahnhofshalle. Von der Kirche setzt ein düsteres Totengeläut ein.
Ich bin betroffen über das gleichgültige Aussehen aller Dinge, sodann über die Ruhe im Orte: nichts verkündet die Bedeutsamkeit eines Aufsehen erregenden Geschehnisses, das ist sicher!
Im Hotel Chambert beendet der Wirt, der heute spät aufgestanden ist, die Säuberung der Gaststube. Er erklärt mir, daß ein halbes Dutzend verspäteter Gäste ihn bis drei Uhr nachts aufgehalten habe. Unter anderen waren da auch zwei besonders lustige Bauern, der Vater Lavraud und der Vater Bernard, mit dabei gewesen.
»Ihr kennt sie ja auch, diese beiden Aufschneider? Na, und wenn die erst einmal die Nase ins Glas gesteckt haben, mein Freund, dann versichere ich Euch, daß sie keinen Trübsinn aufkommen lassen! Gegen Mitternacht hat der Vater Bernard zu dem anderen gesagt: ›Hör mal, du, Lavraud, wechseln wir mal unsere Frauen aus.‹ Und dieser hatte gleich eine Antwort bereit: ›Ah, du meine Güte, was denn nicht vielleicht gar, die meine ist doch viel zu hübsch und deine zu häßlich zu so etwas …‹ Ihr könnt Euch denken, daß man sich darauf etwas zugute getan hat. Debord war auch da und tischte seine Jagdgeschichten auf, und Civade, ich meine den, der mal Matrose war, hat uns immerzu von Tonkin erzählt … Man hat geschrien vor Lachen … Zum Schluß gab schon jeder etwas zum besten …«
Ich gab ihm durch ein paar Worte zu verstehen, daß ich das schon gerne spaßeshalber mitangehört hätte, um darauf mit einiger Verlegenheit, als ob es sich um etwas Lichtscheues handelte, zu fragen:
»Sagt mal, ist keiner von unseren Leuten gekommen?«
»Nein, noch nicht. Aber es sind Briefe für Euch da, wollt ich sagen … Der Briefträger hat sie mir soeben übergeben, aber ich hatte nicht mehr daran gedacht. – Ich habe, wahrhaftig, kein besseres Gedächtnis als ein Hase, und doch laufe ich nicht so viel …«
Ich greife rasch nach den Papieren. Es sind weitschweifige Entschuldigungen verschiedener Syndikalisten von Baugignoux. Fabre ist verpflichtet, in Buy einen kranken Onkel aufzusuchen, der ihn rufen ließ; Simonin bekommt seinen Schwager zu Besuch; Desormières fühlt sich krank …
Während ich die letzten drei Briefe in die Tasche stecke, kommt auf mich ein Junge zu, der kleine Knecht von Batifol, der mir ein Papier überreicht. Ich sehe nach: Batifol kommt nicht, da er genötigt ist, eine Kuh zu überwachen, die gerade kalben soll.
Mit einem Achselzucken sage ich enttäuscht:
»Potztausend, das hab ich erwartet, sie drücken sich alle …«
»Und was den Varennes anbetrifft, den werdet Ihr auch nicht haben,« bereitet mich der Wirt vor. »Er war heute nacht auch mit bei der Gesellschaft, und er ist schlapp wie ein altes Stück Lumpen weggegangen, der braucht reichlich seinen Tag zum Ausschlafen.«
Da taucht Roussel, unser Lagermeister, auf, er wendet den Kopf und besieht den Saal von einer Ecke zur anderen.
»Ganz allein, großer Anführer?« erkundigt er sich.
»Ja, ganz allein, und mit einer Menge Absagen …« Ich weise ihm die Papiere vor.
»Das ist ja recht mager. Und ich habe auch noch eine Absage auszurichten. Sie ist von Olivier. Wenn er darauf bestanden hätte zu gehen, wäre seine Frau wahnsinnig geworden, hat er mir gesagt. Aber ich sehe gerade Dard und Belhomme. Die werden sicher mitmachen.«
»Na ja, die vielleicht schon. Dard, dem gekündigt worden ist, und Belhomme, der selbst seinen Abschied eingereicht hat; die kommen, weil sie nichts zu verlieren haben.«
»Hört mal, Salembier, Ihr werdet jetzt aber bitter,« entgegnet der Lagermeister. »Keine Mutlosigkeiten! verfluchtes Donnerwetter nochmal.«
Dard und Belhomme treten beide zusammen ein. Der erste langsam in seinen Bewegungen und dazu dick, die großen runden Augen wie Marmelkugeln aus den Augenhöhlen hervorquellend; der andere groß und dürr, mit lebhaftem Gesichtsausdruck, einer gekrümmten Nase und einem harten Blick.
Sie sind beide nicht gerade sympathisch. Dard galt als nachlässig und langsam von Entschluß, dabei unfähig, seine Leute anzuleiten und zu lenken, er ließ alles seiner Wege gehen. Belhomme war eher das Gegenteil. Die Knechte und die Tagelöhner blieben nicht gerne bei ihm, weil er lästig, mißtrauisch und zänkisch war und immer aufgelegt zum Schimpfen und zum Mäkeln.
»Aha!« lacht er, »also sie haben alle gebremst? Das wundert mich nicht; die sind nur dazu gut, aus der Ferne zu schreien …«
»Da haben wir ja aber die Getreuen, unseren Herrn Schriftführer Guillemet mit seinem Freund Pintraud und noch ein paar andere junge Leute.«
Wir setzen uns bei einer Flasche Wein nieder, die Augen auf die Türe gewandt, die eigensinnig geschlossen bleibt. Gegen elf Uhr erscheint endlich Courtial, gefolgt von zwei anderen Kameraden aus La Clayette.
Ich stelle mit Genugtuung fest, daß Courtial vernünftig geblieben ist. Er ist allerdings nicht völlig nüchtern, aber die leichte Erregung macht ihn nur etwas lebhafter.
»Na also, hab ich nicht Recht behalten,« legt er gleich los, »das gibt einen gehörigen Reinfall. Ich dachte zu Hause, wir würden hier etwa dreißig Mann beisammen sein, und wir haben uns gerade sechs Mann hoch eingefunden, und noch kein einziger Hausvater ist dabei. Drei haben sich dort hingesetzt, um Karten zu spielen, und wir drei sind zum Zusehen herübergekommen. Als wir aus unserem Ort hinausgingen, wollten Guizard und seine zwei anderen Kumpane von der Ziegelei sich uns anschließen. Wir haben sie abfahren lassen: sie haben die ganze Nacht getrunken, sie sind in einem Zustand, sag ich euch! … Vielleicht sind sie uns doch von weitem gefolgt, gesehen haben wir sie aber nicht mehr hinter uns …«
»Dann sind wir, von allem abgesehen, doch zwölf Mann hoch,« stellt einer der jungen Leute fest. »Das genügt, daß wir einen kleinen Rundgang im Ort machen, um die Fahne etwas Luft schnappen zu lassen …«
Ich benutzte den gegebenen Augenblick, um aus der beängstigenden Sackgasse herauszukommen und mein Gewissen freizumachen.
»Wir haben doch nicht Fastnacht, um eine so lächerliche Maskerade aufzuführen … Wir werden jetzt, wenn ihr auf mich hören wollt, besser dran tun, jeder für sich nach Hause zu gehen. Und ihr könnt es auch allen Kameraden mitteilen, daß ich von heute ab meinen Abschied genommen habe … Ich werde mich mit Roussel bis zur Januarversammlung um die Geschäfte des Warenlagers kümmern, wo man dann einen Nachfolger ernennen mag; an dem Tag werde ich auch die Papiere abgeben und Rechnung ablegen.«
»Oho, oho, Salembier,« beeilt sich Courtial einzuwerfen. »Ihr müßt nicht gleich dieser Art die Axt hinter dem Stiel fortschmeißen!«
»Na aber, wenn Sie uns jetzt auch noch sitzen lassen wollen,« wirft mir Belhomme vor, und zeigt ein niedergeschlagenes Gesicht.
Dard sagt mit seiner ruhigen Stimme, ohne auch nur eine Bewegung des Staunens oder des Verdrusses zu zeigen:
»Zusammenbruch, verflucht! … und die Bourgeois werden ihre Freude dabei haben.«
»Das ist nun, wie es ist. Die Sache war nicht aus einem Bedürfnis entsprungen, muß man annehmen. Oder aber es muß sein, daß ich nicht der rechte Mann bin, der dafür nötig ist … Ein anderer wird es vielleicht besser machen … Während ich mich jetzt endlich meiner Familie widmen kann und meinen eigenen Geschäften: das ist nur recht und billig so …«
»Unser kleiner Laden«, sagt Roussel, »fing doch gerade an gut zu gehen, und er tat uns seine Dienste.«
»Er wird auch weiter bestehen, mein Lieber, er wird ruhig weiter bestehen, seid unbesorgt. Ihr, Roussel, werdet fortfahren, Eure Rolle des Lagermeisters weiter auszufüllen, in der Ihr zur Zufriedenheit aller gewirkt habt, und es wird sich wohl auch ein anderer finden, um die Verhandlungen mit den Lieferanten auf sich zu nehmen; kein Mensch ist schließlich unersetzbar.«
Darauf läßt sich Guillemet vernehmen:
»Ihr habt Euch während drei Jahren aufgeopfert, Salembier. Bereut es aber nicht, denn der Erfolg ist vielleicht doch bedeutender, als es heute den Anschein haben kann. Ihr habt gejätet und gesät; die Zeit der Ernte ist noch nicht gekommen, aber vielleicht kommt sie doch, denn Euer Werk wird zu leben fortfahren, das will ich hoffen. Wenn Ihr bei Eurem Entschluß bleibt, wird sich ein anderer von uns opfern, um seinerseits Eurem Beispiel zu folgen.«
Ich verstehe sehr gut, was unser Sekretär nicht offen sagen mag, und das ist, daß er selbst, wenn es nötig wäre, an die Spitze des Syndikats von Baugignoux treten würde, um mich zu ersetzen. Ich beglückwünsche ihn also:
»Mein lieber Freund. Ihr macht mir eine Freude, denn ich errate, daß Ihr derjenige seid, und keiner paßt auch besser dazu als Ihr … Die einzelnen Menschen werden mutlos, treten zurück und verschwinden: das ist nun einmal so … Aber die Werke fahren fort weiterzuleben, wenn sie einen Wert haben, weil nach dem einen Menschen dann ein anderer kommt. Guten Morgen, Kameraden, ich geh nach Haus! Die Frau ist krank, und ich sorge mich um sie …«
»Ich begleite Euch bis zur Ortsgrenze. Kommst du mit, Pintraud?« meint Guillemet recht bestimmt.
Ich reiche den anderen die Hand, die alle außer Roussel sich schweigsam und ablehnend verhalten. Sie beginnen untereinander zu flüstern, kaum daß ich aus der Tür hinaus bin: sicher wird mein Name da eine schlechte halbe Stunde durchmachen: einer wird mich doch wenigstens beschuldigen wollen, daß ich mich habe kaufen lassen.
Eine Gruppe kräftiger Burschen, wohl zehn an der Zahl, taucht weiter hinten bei der Kirche auf der Hauptstraße auf mit Lärm und Gesang.
»Auf, wir Verfluchten der Erde!«
»Auf, wir Sklaven des Hungers!«
»Warten wir sie erst ab,« schlägt der junge Pintraud vor.
»Wartet ruhig auf sie, wenn ihr wollt, Kameraden, aber was mich anbetrifft, so mache ich mich gleich auf den Weg. Wenn jetzt selbst die Dutzende oder Hunderte kämen, würde ich nicht einen Schritt zurückgehen; sie hätten eben zur rechten Zeit kommen sollen.«
In Begleitung Guillemets schwenke ich auf den Feldweg ab, der nach La Fayt führt. Der Jüngere bleibt beobachtend stehen, schließt sich uns aber nach ein paar Minuten wieder an:
Es waren die Ziegeleiarbeiter von La Clayette, von denen Courtial geredet hatte, mit noch ein paar anderen Burschen, denen sie auf dem Wege begegnet waren, nicht einmal Syndikatmitglieder, nur einfache Herumtreiber …
»Paßt auf, die wollen jetzt auch ihre Fahne zeigen.«
»Kein Wunder,« antwortet Guillemet, »diese plumpen, rohen Gesellen sind noch mit der Ehrfurcht vor einem Lappen behaftet! Wann endlich werden die Menschen hier verstehen, daß es der Wille allein ist und nicht die Farbe eines zwecklosen Lumpens, der einen neuen Zustand hervorrufen kann …«
»Mag sein, wenn sie weniger saufen werden,« entgegnet Pintraud.
Wie wohl mir diese Worte meiner Begleiter tun! Ich bin glücklich, sie diese bedeutsamen Dinge unter demselben Gesichtspunkt betrachten zu sehen wie ich … Mindestens haben diese beiden meine Gedanken völlig erfaßt!
»Glückauf,« meinte ich. »Es sind da welche, die immer von Revolution sprechen; aber Revolution ist etwas, das sich erst in einem jeden von uns vollziehen muß. Mögen doch diese Menschen erst einmal ihren Verstand ins Klare bringen, ihre Willenskraft entwickeln – sodann wird sich der neue Stand der Dinge von selbst einführen …«
»Das ist recht, aber sie werden kaum diese Wahrheiten anerkennen wollen …« bemerkt Pintraud, »sie haben gar nicht einmal den Wunsch, sich zu bilden …«
Wir sind jetzt schon ganz ins freie Feld gekommen, darum nehme ich jetzt Abschied von den jungen Männern:
»Auf Wiedersehen, geht mit den anderen heim und paßt auf, daß sie nicht zu viele Dummheiten machen. Ich habe Eile nach Hause.«
Jetzt bin ich allein; weitausschreitend gehe ich weiter, meine Augen ruhen auf der leicht sich senkenden Ebene der noch kahlen Felder, die sich immer weiter hinziehen, ganz weit … um hinter Cremery am nebligen Horizont zu verschwinden. Ein Glücksgefühl läßt mein Herz anschwellen, das sich so frei fühlt, wie lange nicht mehr. Oh, und Jeanne, wie die sich freuen wird, wenn ich ihr in einem Augenblick sagen werde, daß ich nichts mehr bin beim Syndikat. Wer weiß? die große Freude wird für sie vielleicht die gewaltige Gegenwirkung sein, die ihr die gewünschte Genesung bringt!
Welchen stillen, friedlichen Feierabend werde ich heute erleben, ganz unter uns mit ihr und mit Marthe. Ich genieße im voraus diese Wohligkeit und überrasche mich beim Singen eines Soldatenliedes aus der Militärzeit.
Der Hof ist öde, ich sehe Wagenspuren, die mich verwundern. Wer ist da gekommen? Wir haben keinen erwartet.
Marthe, die allein zu Hause ist, sitzt an der einen Ecke des Tisches über einer Mahlzeit aus zwei Spiegeleiern und frühstückt.
»Du bist schon da?« sagt sie. »Hast du es erfahren?«
»Was erfahren?«
»Eh, na, was hier vor sich gegangen ist. Weißt du, Alter, die Finger hab ich mir zerbissen, daß ich gerade heute gekommen bin, um das mit anzusehen. Wenn ich so etwas geahnt hätte …«
»Aber was denn bloß?« …
Daraufhin erzählt sie mir das Abenteuer, von dem sie noch ganz erregt ist. Ich mochte kaum eine knappe Stunde fort gewesen sein, als meine Schwiegereltern ganz wütend in einem Wagen ankamen, der mit Eseln bespannt war. Sie haben Wind von unserem Manifestationsprojekt bekommen und hielten es nun als ganz unumgänglich sicher, daß wir in einem großen Zug mit roter Fahne voraus von Schloß zu Schloß, von Bourgeoissitz zu Bourgeoissitz ziehen würden. Die Revolution war da, die gräßliche Revolution! und dazu durch mich entfesselt … Mutter Couturier versichert, daß ich ganz und gar verrückt wäre, erklärt, daß sie gekommen sei, ihre Tochter zu holen, denn sie würde ihr Lebelang sich nicht vergeben, ihre Tochter auch nur einen Tag länger mit einem Menschen, wie ich einer sei, leben gelassen zu haben.
Jeanne fängt darauf gleich an zu weinen, und Marthe versucht mich zu verteidigen, aber ohne anderen Erfolg, als die Alte um so mehr aufzuregen, die jetzt aus voller Kehle zu schreien beginnt: Nicht nötig, nicht nötig, wir brauchen keine Erklärungen! Ich weiß, was ich sage, etwa nicht? Packe gleich deine Sachen zusammen, Jeanne. Wir sind gekommen, dich mitzunehmen. In Amouraux ist noch genug Brot für dich da, ebensogut wie für deinen Kleinen …
Meine Frau widersetzt sich dennoch; sie sagt, daß ich ihr nichts Schlechtes zugefügt habe, daß ich gut zu ihr bin, und daß, was die Geschichten des Syndikates anbetrifft, die Dinge vielleicht nicht so vor sich gehen werden, wie man erzählt.
Der Schwiegervater hätte vielleicht nachgegeben, er hielt sich im Hintergrund ganz schweigsam und verlegen, aber die Alte war unnachsichtig. Sie begann jetzt selber in den Schränken zu kramen und die Kleider einzupacken. Und gegen Mittag machten sie sich daran aufzubrechen, ihre weinende und jammernde Tochter mit sich fortführend.
Mutter Couturier warf Marthe schon im Gehen noch zu:
»Wenn er zurückkommt, sagen Sie ihm, Madame, daß wir ihn nicht mehr kennen und unser Kind zurücknehmen. Aber er wird nicht so weit kommen zurückzukehren, man wird ihn erst einmal für lange Zeit einsperren!«
Immer dieselbe Idee, daß ich mich unfehlbar ins Gefängnis bringen würde …
»Du siehst, in welcher Lage ich bin,« fuhr Marthe fort. »Ich bin nun also seit einer Stunde immerzu im Gange gewesen, mich zu fragen, ob ich warten soll oder laufen und dich holen. Ich wäre vielleicht, nachdem ich etwas zu mir genommen hatte, gegangen.«
Ich war in der Mitte des Zimmers völlig bestürzt stehen geblieben und fühle keine Notwendigkeit, sie weiter zu befragen. Sie aber legt nach einem Augenblick des Zögerns ihre Hand auf meinen Arm und beginnt aufs neue mit sehr zarten Worten auf mich einzureden:
»Besinn dich, Armer, Guter … setz dich, hierhin … neben mich …«
Ich gehorche; sie nimmt meine Hände in die ihren und sieht mich mit einer unverkennbaren Zärtlichkeit an:
»Deine Lage ist nicht gut, ich kann das verstehen. Aber das ist schon so, meinst du nicht, daß die meine viel besser ist? Ein Mann, der allein dasteht, kann sich zum guten Glück noch herausziehen, aber eine Frau! … Du lieber Gott! Was mag bloß noch werden, wenn ich da so ganz allein hausen soll in Buy?«
Wollte sie damit etwas sagen, daß sie diese Worte gerade wählte? Verband sie in diesem Augenblick ihren Kummer mit dem meinen, um mich dazu zu bestimmen, ihr aus einer innigen und unmittelbaren Hingebung heraus vorzuschlagen:
»Dann gehen wir zusammen fort, Marthe, willst du? Gehen wir nach Buy oder anderswo, in irgendeine abgelegene Stadt, wo wir keinen kennen und wo keiner uns kennt. Verbinden wir unsere beiden zerstörten Leben … Würden wir uns nicht ganz sicher gut verstehen und uns lieben?«
Wer könnte das jemals erraten? Das Herz der Frauen ist immer geheimnisvoll, und diese hier war schwärmerisch genug, daß sie ein solcher romantischer Entschluß hätte locken können.
Was ich ihr jetzt sagte, war egoistischer und prosaischer zugleich:
»Du mußt machen, Marthe, daß du mit dem Essen fertig wirst, weißt du, und wirst dann nach Amouraux gehen. Du sagst den Couturiers Bescheid, daß ich nichts mehr bin im Syndikat, daß ich alles hab fahren lassen. Du fragst sie, mir zu erlauben, meine Frau wieder zu holen; füge, wenn du willst, hinzu, daß ich mich in aller Form verpflichten werde, mich von jetzt ab völlig nur meiner Wirtschaft und meinem Haus zu widmen.«
Sie seufzt, ein plötzliches Frösteln läßt sie erschauern, und die Starrheit ihres Blickes macht mich verwirrt … Schließlich sagt sie:
»Nun, das ist vielleicht das klügste, was du tun kannst. Der Auftrag ist aber recht heikel, und er muß schon von dir kommen, daß ich ihn auf mich nehme … Höre zu also, wenn der Empfang günstig ist, werde ich die Nacht dableiben und morgen, ganz in der Frühe zurückkommen mit einer Nachricht für dich … Im anderen Fall aber kehre ich gleich nach Baugignoux zurück und schreibe dir ein paar Worte durch die Post. Ich will nicht zurückkommen, um hier zu nächtigen. Du wirst das verstehen, man könnte sich sonst leicht was daraus zurechtreden …«
Indem ich die Sache hinterher durchdenke, sage ich mir, daß ich wohl eben zu rücksichtslos gewesen bin und daß ich ihr wohl wehe getan habe!
Die Nacht ist schon völlig hereingebrochen, als ich mit meinen Gedanken völlig im Reinen in mein Haus zurückkomme. Die Stube ist dunkel, kalt und stumm, die Traurigkeit kriecht aus allen Ecken hervor und hüllt mich wie in ein schweres eisiges Schweißtuch ein.
Ich beschäftige mich damit, in dem Ofen wieder Feuer anzuzünden. Er fängt auch schließlich an aussichtsvoll zu rattern, als sich der am wenigsten erwartete Besuch einstellt, Charles Hervaux, mein ehemaliger Busenfreund, den ich seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Sogleich fängt er mit seinem wohlwollend lustigen und frohen Geplapper an:
»Na, Alter, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mich gefreut habe, als man mir gesagt hat, daß du dich heute morgen in Baugignoux auf und davon gemacht hast … Da blieb ja auch nichts anderes übrig! Es wäre lächerlich gewesen, wenn du dich mit diesen Dummköpfen aus La Clayette hättest aufspielen wollen … Was die anderen Bauern anbetrifft, so laß sie aus sich selber klüger werden, ist das nicht wahr? Wenn sie zu dumm sind, ihren Vorteil einzusehen, um so schlimmer für sie! Aber du konntest doch nicht für Zeit und Ewigkeit ihren Zuaven spielen, der dumm genug ist, sich für andere hinzuschlachten und das alles noch dazu, um nichts anderes zu erzielen, als dich zum Schluß noch von diesem und jenem bekritteln zu lassen …
»Was mich anbelangt, so hab ich Erfolg gehabt, wie du siehst und wohl schon weißt! Du siehst mich hier, wie ich vor dir stehe, als den Flurjäger von Baugignoux; ich trete zum ersten Januar in Dienst. Das ist ein ganz netter Posten, sag ich dir. Ich denke mir das Leben da bequem einzurichten … Wir waren zu acht vorstellig geworden: es war nötig, daß der Vater Trochère sich für mich verwendete …
»Und mit Germaine ist das jetzt auch auf dem besten Wege. Die Alten haben anfangs eine Fratze geschnitten, aber jetzt sieht es im Gegenteil aus, als ob sie entzückt von mir wären. Du kannst bald anfangen deine Stiefel zu putzen, denn vor Ablauf von sechs Wochen ist Hochzeit …«
Wahrhaftig, trotz der peinlichen Umstände ließ mich die großartige Sorglosigkeit dieses großen Jungen lächeln. Und dann, wenn man bedenkt, daß er wohl ebenso aus gutem Glauben gehandelt hat wie heute, als er mich damals zur syndikalistischen Tätigkeit und zu Gewalttaten drängte!
»Wann bist du in Amouraux gewesen?« frage ich.
»Erst gestern … Und ich geh jetzt von hier aus gleich wieder hin. Ich möchte nämlich, daß wir uns heute abend über den Tag einigen … Aber das sag ich dir, die waren nicht über dich erbaut gestern, Mutter Couturier und ihr Mann; wir sprachen über euer famoses Projekt des Umzuges mit der roten Fahne, und na ja … verflucht! haben die ein Gesicht gemacht. Selbst der Alte, der Großvater, hat aus seinem Bett heraus gar nicht mehr aufhören wollen zu schimpfen.«
»Ah! das tut mir leid … Na also, weil du doch hingehst, könntest du mir einen Gefallen tun und bestellen, daß nicht nur nichts passiert ist heute, sondern auch, daß ich alles habe fahren lassen … Das wird ihnen Vergnügen machen … Übrigens sind Jeanne und der Kleine in Amouraux bis morgen. Alle werden froh sein, Nachricht zu bekommen. Gute Nacht denn, Herr Verliebter! Umarme deine Liebste … Ich bin müde und will, ohne mich lange zu besinnen, zu Bett.«
Und wahrhaftig lag ich schon von acht Uhr an in meinem Bett. Das verhinderte aber nicht, daß ich recht schlecht geschlafen hatte, diese Nacht da …
»Beruhige dich jetzt, verstehst du,« sagte mir Marthe am folgenden Morgen. »Ich bin die Bringerin einer guten Nachricht: man wird dir keine Schwierigkeiten in den Weg legen, deine Frau wiederzuerlangen. Man hatte dir nur deine Rolle als Agitator vorzuwerfen, in dem Augenblick, wo das wegfällt, fällt auch aller Grund zu Besorgnissen weg … Nebenbei gesagt, ist auch Jeanne gleich auf meiner Seite gewesen. Sie hat dich nie gänzlich verlassen wollen, hat sie mir versichert. Joseph Girard, dein Schwager, Marie und Germaine haben auch für dich gesprochen. Da stand denn also die Sache für dich gut. Die Alten haben nicht länger gegen anzugehen gewagt, wo die Meinung der anderen für dich war.«
Mit einer herzlichen Überschwänglichkeit dankte ich Marthe, meiner wahren Freundin! Und es ist mir angenehm, feststellen zu können, daß ihr ruhiges stilles Gesicht nichts nachbehalten hat von dieser flüchtigen Erregung des vergangenen Tages …