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Die Gleichartigkeit der europäischen Großstädte, dieser Kreuzungsprodukte moderner, geistig noch nicht gemeisterter technischer Entwickelung und volkswirtschaftlichen Wachstums hat viel dazu beigetragen, daß die Kenntnis des Dorfes für das Studium nationaler Eigenart weniger verlangt und berücksichtigt wurde. Und doch bietet gerade das Bauernland, das sich weithin um die Großstädte dehnt – und dieses nicht nur im Osten Europas, wo das Bauerntum sichtbar überwiegt – eine Fülle von Aufschlüssen, an denen man nicht vorübergehen sollte. Die Tatsache, die uns der jetzige Krieg mit besonderem Nachdruck zu Bewußtsein gebracht hat, daß die europäischen Völker durchaus nicht das sind, als was sie sich in ihrem kosmopolitisch gefärbten Großstadtleben zeigen, wird den Wert der Beobachtungen und Bekenntnisse aus dem Bauernleben für eine praktische Völkerpsychologie augenscheinlicher machen. Auch das Interesse an dem Wohl und Wehe des Nährstandes der Nation, der für die Gegenwart und die kommenden Zeiten eine ganz neue Wichtigkeit erlangt hat, kommt noch hinzu. Es wird vielleicht gerade nach den Erfahrungen dieses allgemeineuropäischen Völkerringens begreiflicher, wenn man behauptet, die Kulturabstände, die das Bauerntum verschiedener europäischer Völker gegeneinander abgewogen zeigt, wären so groß, daß sie in einzelnen Fällen selbst einen Jahrhundertunterschied aufwiesen. Für eine Wertung des Bauernstandes ist dieser Umstand allein jedoch nicht ausschlaggebend, da hier die jeweilige soziale Stellung des Bauerntums im Volksganzen, das rassekulturelle Kapital, das in ihm noch erhalten blieb, die Beschaffenheit des Bodens, auf dem es sitzt, der klimatischen Verhältnisse, die seine Tätigkeit bedingen, und auch das Interesse, welches ihm die führenden Klassen widmen, mit in Betracht kommen müssen. Das Bauerntum kann eine zentrale politische Stellung einnehmen, wie in Dänemark, Bulgarien, Norwegen, es kann eine zukunftsträchtige latente Macht sein, wie in Rußland oder Polen, es kann der Heger des Konservatismus der Rasse sein wie in Deutschland oder Proletariat wie in Belgien oder Irland. Abgesehen davon steht es aber heute fast überall auch im Banne des Industrialismus, der bis jetzt unaufhörlich an der Abbröckelung des Dorfes zugunsten der Großstadt und der Fabrik gewirkt hat, so daß ihm auch die Klänge jenes Schicksalsliedes gelten, das Emile Verhaeren seinen belgischen Dorfleuten gesungen hat:
Mit ihrer Katz und ihrem Hund
Und nichts für Magen Herz und Mund,
So trotten den Weg ins Abendrevier
Die Leut, die armen Leut von hier! ...
Im allgemeinen wird man finden, daß Völker, die vom Industrialismus noch nicht so stark berührt sind, einen Reichtum an Bauern-Epen aufweisen, der bei den industrialisierten Völkern Westeuropas nicht mehr zu finden ist. Die künstlerische Darstellung des Dorfes strebt bei den industrialisierten Völkern aus dem ruhigen Fluß des Epischen heraus. Ob man dieser Tendenz ausschließlich die Abwesenheit eines großen modernen französischen Bauernromans zuschreiben soll, der nach Balzacs 1844 verfaßtem Bauernfragment im französischen Schrifttum überhaupt nicht versucht wurde, ist dennoch zu bezweifeln.
Frankreich ist trotz seiner hochentwickelten Industrie immer noch als ein Ackerbaustaat anzusehen, was die Berufsstatistik mit ihren 41,7 % im Ackerbau tätiger und nur 20 % in der Industrie beschäftigter Einwohner der Republik beweist. Die Zahlenverhältnisse mögen sich seit der letzten Berufszählung vom Jahre 1906 etwas verschoben haben, doch vollzieht sich diese Wandlung im Vergleich zu Deutschland in einem bedeutend langsameren Tempo. Immerhin ist die Landflucht auch in Frankreich keine neue Erscheinung; sie dauert an seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, was am besten aus den folgenden Zahlen ersichtlich sein wird. Im Jahre 1846 betrug Frankreichs Landbevölkerung (bei einer Gesamtbevölkerung von 35,4 Millionen) 26,6 Millionen, während sie im Jahre 1906 (bei einer Gesamtbevölkerung von 39,2 Millionen) nur 22,7 Millionen ausmachte. Die städtische Bevölkerung Frankreichs war seit 1846 von 8,7 Millionen auf 16,5 Millionen gestiegen, wobei jedoch ein großer Teil der Auswanderer ausschließlich auf die größeren Städte mit über 30 000 Einwohnern entfällt. Der Prozentsatz der wirklichen Landbevölkerung Frankreichs ist seit der Zeit, in der Balzac seine »Bauern« schrieb, von 75,6 %der Gesamtbevölkerung auf 57,9 % gesunken und läßt auf eine bedeutende Veränderung des bäuerlichen Bildes schließen. Diese Veränderung ist immerhin lange nicht so gewaltig, wie in Deutschland, wo das Bauerntum eine ganz andere Stellung einnimmt und von seiner eigenartigen Rassekultur mehr nationale Werte zu verlieren hat. Das moderne Frankreich ist wie das gegenwärtige England ein Staat, in dem der bäuerliche Nährstand nicht mehr die Rolle spielt, die ihm naturgemäß zukommen sollte. Wenn auch die Verhältnisse, aus denen sich der Zustand entwickelt hat, in England ganz anders liegen, als im fruchtbaren Frankreich, so zeigt das Bauerntum der beiden Länder doch typische Abweichungen vom mitteleuropäischen Typus, die ganz andere Gesichtspunkte bei seiner Beurteilung erfordern.
Der ungeheure Reichtum Frankreichs, der dem Lande immer wieder erlaubte, alle seine Wunden überraschend schnell zu heilen, ist auf die außerordentliche Fruchtbarkeit des französischen Bodens und Frankreichs blühende Landwirtschaft zurückzuführen. Weder die Wunden des Krieges von 1870/71, noch die Verheerungen der Reblaus, oder die durch die amerikanische und indische Konkurrenz erzeugte Entwertung landwirtschaftlicher Produkte, haben die französische Landwirtschaft ernstlich erschüttern können. Ihre unter einem milden Himmelsstrich sich entfaltenden Ernten, denen es weder an genügender Feuchtigkeit, infolge der vortrefflichen Meereslage Frankreichs, noch an Sonnenschein mangelt, die Weizen und Wein, das prächtigste Gemüse und die begehrtesten Früchte in reichlichster Fülle schenken, machen auch heute noch das altbekannte Wort von dem guten Leben in Frankreich wahr. Sollte die Klage Verhaerens, der seine in die steinerne Umarmung der Stadt, »der gigantischen Buhlerin« ziehenden Landleute schildert, auch auf Frankreichs Landflucht ihre Anwendung finden dürfen?
Die Ernte gab nur kargen Bund
Den Scheunen, drin die Fäulnis saß.
Ihr Pflug, der in den Boden fraß,
Biß sich den Zahn an Kieseln wund.
So daß schließlich ihr Zorn das Herz der Erde
Verfluchte und zu zerreißen begehrte.
Wenden wir uns dem französischen Schrifttum zu, mit dem Wunsch, eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, so harrt unser dort Verwirrung und Enttäuschung. Die Bauern, welche die neuzeitige französische Dichtung darzustellen sich ab und zu herabgelassen hatte, sind seltsame Geschöpfe ohne Seele, die uns wenig über das Dasein des Bauern zu sagen vermögen. Weder Zola noch Guy de Maupassant haben den französischen Bauern gekannt, sie haben ihn nur äußerlich, zuweilen sehr malerisch und eindrucksvoll, aber immer nur von diesem Gesichtspunkt aus, darzustellen versucht, sie brachten für das Dorf den Blick des Städters auf Sommerfrische, der sich für diese und jene Äußerlichkeit lebhaft interessiert, dem jedoch die Kenntnis innerer Zusammenhänge fehlt. So wuchs vor uns das Bild des erdgebundenen schlauen und habgierigen Landtölpels auf, das sehr bald literaturfähig in ganz Europa wurde, heute aber, Gott sei Dank, überlebt ist. Es gibt zu denken, daß eine Wandlung in dieser Betrachtung des Bauerntums im französischen Schrifttum bis in die allerneueste Gegenwart nicht erfolgt ist. Die einzigen französisch schreibenden Darsteller des Bauernlebens, die wirklich von der Seele des Bauerntums Wertvolles und Eindringliches zu sagen hatten, stammen aus jenem Belgierland, für dessen »bäurische Klotzigkeit« Baudelaire nur die Worte rückhaltsloser Verachtung fand. Daß dieses Verhältnis sich auch in der Folge nicht bedeutend gewandelt hat, zeigen die gegen Camille Lemonnier in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Paris angestrengten Sittlichkeitsprozesse, in denen die Verteidigungsrede des belgischen Rechtsanwalts Edmond Picard ein Meisterstück der Charakteristik jenes Gegensatzes schuf und zu einer glänzenden Apologie der vlämisch-bäuerischen Kunst wurde. Und tatsächlich zeigen jene hervorragenden französisch schreibenden Ausleger bäurischer Art von de Coster bis Lemonnier, Georges Eekhoud und Verhaeren einen unverkennbaren vlämischen Einschlag. Ihren Hauptwerken dieses Charakters, dem »Tyll Ulenspiegel«, dem »Dorfwinkel«, dem »Es geht ein Wind durch die Mühlen« ( Le Vent Dans Les Moulins), dem »Kees Doorik«, den »Kermesses« und den » Les Flamandes« hat die französische Literatur nichts Gleichwertiges an die Seite zu stellen. Es muß geradezu gesagt werden, daß trotz Zolas » La Terre« und Maupassants »Bauernerzählungen« trotz der Werke ausgesprochen bäurisch-ländlichen Charakters wie diejenigen eines Léon Cladel, René Bazin, Jules Renard, Charles Géniaux, Léon Lafaye, Desprez, Henri Feìre und Eugène Le Roy der französische Bauer für Europa eine » terra incognita« geblieben ist. Selbst der sonst so beredte Nicolas Beauduin, das Haupt der Pariser »Paroxysten«, dem für die Lobpreisungen der Macht der Städte so reicher Ausdruck zur Verfügung steht, hat in seinen 1912 erschienenen » Les Campagnes en marche« die Seele des französischen Dorfes nicht zu enthüllen vermocht. Es scheint, als ob der städtische Lebenskreis den französischen Geist derartig gefangen genommen hätte, daß er weder Sinn noch Fähigkeit besitzt, sich diesem Bann zu entziehen, für den Paris, Frankreichs »Stadt der Städte«, das lebendig gewordene Symbol ist.
Im Gegensatz zu diesem geistigen Übergewicht der Stadt hat sich in Emile Guillaumin eine Stimme Geltung verschafft, die ganz unmittelbar aus dem französischen Bauerntum kommt. Guillaumin als einer von jenen Schriftstellern, die zugleich Feder und Pflugsterz führen, bildet ein eigenartiges Gegenstück zu den Dichtern-Ackerbauern im Osten. Außer der äußeren Ähnlichkeit, die sich aus der Doppelseitigkeit seiner Betätigung ergibt, verbindet ihn jedoch mit jenen polnischen und russischen Berufsgenossen, von denen bereits in der Einleitung zum ersten Werk der »Bauernspiegelfolge«, den »Polnischen Bauern« W. St. Reymonts die Rede war, kaum ein weiterer Zug. Die stille Resignation eines Proletarierkämpfers unterscheidet ihn durchaus von dem zuversichtlichen und unverdrossenen Streitermut jener träumenden Kinder einer weniger ertragreichen Scholle. Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit haben diesem nüchtern abwägenden Bekenner, dessen Phantasie wie ein leicht vorüberhuschendes Lächeln auf dem ernsten Gesicht eines Denkers ist, die Feder in die Hand gedrückt. Seine Werke sind zugleich volkswirtschaftliche Beiträge zur französischen Bauernfrage, ohne dabei ihre eigenen schmucklosen Kunstgesetze zu verletzen, deren redliche Schlichtheit so auffallend gegen die Wunderbauten der in der Literatur den Vorrang behauptenden französischen Wortkünstler absticht.
Um das richtige Verhältnis zu diesem neuzeitigen Bekenner des französischen Bauerntums zu gewinnen, muß man sich allerdings vergegenwärtigen, daß Guillaumin einen bestimmten Teil des französischen Bauerntums vertritt. Frankreich ist der großen Zahl der Grundbesitzer nach ein Land des Kleingrundbesitzes. Es besitzt 2 235 405 landwirtschaftliche Betriebe von weniger als 1 ha Land und 2 617 558 mit 1-10 ha Land, denen 711 118 Betriebe mit 10 bis 40 ha und 138 671 mit mehr als 40 ha gegenüberstehen. Diese letzten 2 ½ % besitzen fast ebensoviel Land als die 85 % der Kleingrundbesitzer. So ist Frankreich eigentlich nur der großen Zahl der Grundbesitzer nach ein Land des Kleingrundbesitzes zu nennen. Von den nahezu 7 Millionen in landwirtschaftlichen Betrieben arbeitenden Männern, die mit ihren Familien eine Bevölkerung von 17 ½ Millionen Menschen ausmachen, bebauten etwa über 2 Millionen ihr eigenes Land, über 1 Million waren Pächter ( fermiers) und etwa 344 168 Halbpächter (métayers), während über 3 Millionen als Angestellte, Arbeiter, Tagelöhner in landwirtschaftlichen Betrieben arbeiteten. Von den fermiers waren aber die Hälfte etwa auch Grundbesitzer, desgleichen etwa 1/3 der métayers und 1/5 der Angestellten und Arbeiter. Einerseits gibt es also in Frankreich wenige Großgrundbesitzer, anderseits wenig Bauern, die nicht auch Grundeigentümer sind, wenn auch diese kleinen Betriebe meistens zum Unterhalt einer Familie nicht ausreichen. In solchen Fällen pachtet der Kleinbauer einige Felder hinzu oder sucht anderen Nebenerwerb. Diese überwiegende Anzahl der französischen Landbewohner kommt durch Guillaumin zu Wort. Sie bildet eine Art ländlichen Halbproletariats, aus dem der eigentliche Kern der ländlichen Bevölkerung Frankreichs besteht, nach welchem Zola in seiner » Fécondité« bei seinem Unternehmen Frankreichs Geburtenrückgang zu bekämpfen, besonders eifrig geschielt hat, sie neigt jedoch mehr den revolutionären, als den konservativen Elementen zu, wie das gerade das vorliegende Buch beweist. Auch in einer anderen Hinsicht ist das Buch für einen deutschen Leser von Interesse. Es schildert den nordfranzösischen Bauer, also den unmittelbaren Nachbar und den Bewohner jenes Gebietes, das nachweisbar das fruchtbarste von ganz Frankreich genannt zu werden verdient, und in bezug auf die landwirtschaftlichen Erträge den Löwenanteil der französischen Ernte beisteuert. Neben dem französischen Ackerbauer nehmen außerdem noch der Weinbauer, der Obst- und Gemüsebauer eine besondere Stellung in der französischen Landwirtschaft ein; dieser zahlenmäßig nicht überwiegende, aber wirtschaftlich beachtenswerte Teil der Landbevölkerung, dessen Lebensbedingungen ganz eigenartig sind, kommt bei den vorliegenden Schilderungen nicht in Betracht. Einen angemessenen literarischen Ausdruck hat er auch meines Wissens im französischen Schrifttum bis heute nicht gefunden.
Emile Guillaumin als Vertreter des französischen Bauerntums, so wie es heute in seiner überwiegenden Mehrheit ist, darf mit Recht Beachtung beanspruchen. Er vermag uns in das neuzeitige Wollen, Fühlen und Trachten der ländlichen Bevölkerung Frankreichs einzuführen, obgleich er, wörtlich genommen, lediglich die Lebensverhältnisse des nordfranzösischen Bauerntums schildert. Die Bekenntnisform seines vorliegenden Buches verbindet Selbsterlebtes mit Typischem. Die dem französischen Bauernroman der Neuzeit ziemlich geläufige Form eines Bekenntnisbuches – wir finden sie mehr oder minder klar ausgeprägt bei Léon Cladel, Eugène Le Roy, Charles Géniaux, Jules Renard – empfängt bei ihm den Ausdruck einer tieferen Wahrhaftigkeit, die über das Einzelschicksal hinaus von dem Dasein der Art Kunde gibt. Er verliert sich nicht in Schilderungen der Äußerlichkeiten wie die naturalistischen Beobachter des Bauerntums, denen schließlich dadurch eine klare Synthese nicht mehr gelingen will; weder die Enge eines an und für sich so feinsinnigen Kleinmalers des Dorfes wie Jules Renard, (siehe dessen » Nos frères farouches«), noch die Stilisierung eines René Bazin (siehe dessen: » Le blé qui lève«, » La terre qui meurt«), welche Dorfmotive nach Zolas Rezept ins Literarische überträgt, beeinträchtigt seine Schilderungen, die zugleich Vergangenheit und Gegenwart des französischen Bauerntums zum einheitlichen Ausdruck zu bringen versucht und sich nicht in geschichtliche Rückblicke verstrickt, wie Eugène Le Roys sonst in mancher Hinsicht vortrefflich ansetzender » Jacquou le Croquant«. Dennoch ist Guillaumins »Ein Kampf um die Scholle« literarisch gewertet ein Buch, das nicht ohne weiteres zur »epischen Dichtung« gezählt werden kann. Eine solche epische Bauerndichtung besitzt, wie gesagt, das neuzeitige französische Schrifttum ebensowenig wie das englische. Die innere Gleichgültigkeit für das Leben des Dorfes hat die Möglichkeiten einer Entstehung eines solchen Werkes sehr beschränkt. Das französische Dorf ist durch diese Gleichgültigkeit gezwungen, geistig unproduktiv zu leben; es findet höchstens einen öffentlichen Ausdruck seiner wirtschaftlichen und politischen Interessen, dieser letzteren in einem recht beschränkten Maße allerdings, wie Guillaumin bezeugt. Da ihm auch die religiösen Quellen zum größten Teil verstopft worden sind, so ist die geistige Leere noch empfindlicher. Um diesen Zustand besser zu verstehen, würde es sich lohnen, einen Vergleich zwischen einem der beliebten modernen deutschen Schilderer des Dorflebens, z. B. Gustav Frenssen und dem in einer annähernd gleichen Anzahl von Auflagen als Dichter des französischen Dorfes erscheinenden René Bazin zu ziehen, welcher nebenbei gesagt, Mitglied der » Académie Française« ist. Der gewaltige Abstand zwischen den beiden in jeglicher Hinsicht kann mehr als alle Ausführungen die geistig trostlose Lage verdeutlichen, in der sich das französische Dorf befindet. Bei den geistigen Ansprüchen der französischen Nation muß dieser Tiefstand zunächst befremden. Je mehr man sich jedoch mit den inneren Zusammenhängen bekannt macht, die die Bekenntnisse Guillaumins enthalten, um so deutlicher wird einem das vollständig anders geartete Problem des französischen Dorfes. Denn Guillaumins Bekenntnisse sind eine Klage und Anklage zugleich – eine Anklage, die zurückgreift bis auf die Grundlagen des französischen Königtums und angesichts ihrer Aussichtslosigkeit unter dem parlamentarisch-republikanischen Regiment des neuzeitigen Frankreichs sich zu einer resignierten Klage bescheidet. Dabei kann man kaum behaupten, daß sich die Lage des französischen Bauerntums im Laufe der Zeiten nicht gebessert hätte. Die Gründung von landwirtschaftlichen Kreditgesellschaften ( caisses régionales de crédit agricole) und schon früher die Gründung des Crédit foncier, der französischen Hypothekenbank (1852 nach deutschem Muster) haben zugleich mit der Entwickelung der Technik dazu beigetragen, daß der Ertrag stetig gesteigert wurde, obgleich eine ununterbrochene Abnahme der Ackerbau treibenden Bevölkerung Frankreichs festzustellen ist. Guillaumins Buch fällt außerdem in die Zeit der beginnenden Vergenossenschaftlichung des kleinbäuerlichen Lebens, ist diesem Prozeß sogar in der Hauptsache gewidmet. Wenn auch die durch Guillaumin geschilderten Kleinbauern-Syndikatgründungen zunächst scheitern, so scheint durchaus kein Grund vorzuliegen, an ihre dereinstige Verwirklichung zu glauben. Dennoch ist der Grundzug dieses modernen französischen Bauernbekenntnisses tiefer Pessimismus. Um diese Stimmung besser zu verstehen, wird man sich die geistige Silhouette des französischen Bauern, wie sie Guillaumin zeichnet, vergegenwärtigen müssen. Anstatt des konservativen, bodenständigen Grundtons macht sich bei diesem modernen Bauer ein sozialistisch-revolutionärer bemerkbar. Die geistige Stumpfheit der Alten hat einem tiefen Mißtrauen der Jungen gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung Platz gemacht. Die Hoffnung auf das allein selig machende Mittel der Revolution, wie sie die französisch schreibenden Belgier vor allem aber Georges Eekhoud so eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht haben, tritt bei den Jungen immer wieder in den Vordergrund in allen erdenklichen Schattierungen, vom bewußten Kalkül bis zur gedankenlosen Prahlerei. Im Gegensatz zu ihr macht sich ein Mangel an Entschlossenheit bei gemeinsamen Unternehmungen wirtschaftlich-sozialen Charakters bemerkbar, man könnte es einen Mangel an gemeinschaftlichem Zusammengehörigkeitsgefühl nennen. Zur Steigerung des Pessimismus trägt auch die revolutionistische Geschichtsauffassung bei, die sich in einem scharfen Widerspruch zu jeglicher Tradition befindet. Ein beredtes Beispiel dafür liefert Guillaumins geschichtlicher Entwurf, der das Leben der französischen Bauern im Laufe der Jahrhunderte, »diese beklagenswerte Odyssee in Knechtschaft und Elend«, wie er es nennt, dem Helden seines Dorfromans Marcel Salembier, dem Halbpächter und Gründer des Bauernsyndikats von Baugignaux in die Feder diktiert (siehe Seite 47 des vorliegenden Romans). Das Verhältnis dieser jungen Bauerngeneration zur Scholle ist dem eines Heimarbeiters zu seinem Maschinenwerkzeug sehr ähnlich. Der tiefere, religiöse Zusammenhang mit dem Heimatboden, mit dem Land der Väter ist einerseits durch die geschichtliche Auffassung, andererseits durch das Versiegen religiöser Empfindungen im französischen Volke unter den Jungen kaum mehr vorhanden. Schon längst ist die spöttische Frivolität, mit der Marillac, der Prokurator des Königs, in der Volksversammlung vom Jahre 1560 die dem französischen Bauern auferlegte Sondersteuer, jene sogenannte »gemeine Steuer« rechtfertigte zur geistigen Waffe auch der unteren Klassen Frankreichs geworden. Damals hieß es: »Die Landbevölkerung soll sich in alles geduldig fügen und Gott danken, wenn man sie mit der gemeinen Steuer und mit Auflagen belegt, ohne viel danach zu fragen, warum es so ist, denn es ist Gott selbst, der die gemeinen Steuern und Auflagen zuläßt.« Heute hat sich derselbe Spott gegen Gott selbst gewandt und äußert sich offiziell in Reden von Volksvertretern, so zum Beispiel in der vom ganzen Hause bejubelten Ansprache des Abgeordneten Beauquier in der von Briand (dem damaligen Minister des Inneren) präsidierten Kammersitzung vom 46. Januar 1911: »Da Gott allmächtig ist, muß er dafür sorgen, daß seine Kirchen nicht zusammenstürzen und sie selbst ausbessern … Wenn er dieses Wunder nicht vollbringt, so will er nicht, daß es geschieht, und wenn er es nicht will, müssen wir uns vor seinem Willen beugen.« Wie tief bis ins unterste Volk dieselbe Stimmung geht, dafür liefert die von Maurice Barrès »Das trauervolle Schicksal der Kirchen Frankreichs« verfaßte Anklage beredten Ausdruck. Eine besonders charakteristische Stelle dieser berühmt gewordenen Schrift vom Jahre 1913, die Otto Grautoff, der feinsinnige Kenner des modernen Frankreichs, in seinem bemerkenswerten Buch »Kunstverwaltung in Frankreich und Deutschland« anführt, möge hier folgen:
»Henry Carbonelles wohnte der Auktion (gemeint ist die Versteigerung der Kirchengegenstände in der Kirche des reichen Marktfleckens Grisy-Suisnes in der Gegend von Brie-Comte-Robert) bei und berichtete darüber folgendes: Als ich in Grisy eintraf, begegneten mir auf der Straße, die vom Bahnhof zum Dorf führt, drei oder vier junge Leute aus der Gegend, die Chorknabenkleider erworben hatten. Sie hatten Soutanen angezogen und kleine Kardinalkäppchen übergestülpt. Sie gestikulierten lebhaft und sangen obszöne Lieder.
In der Kirche selbst standen etwa 50 Personen um Herrn Paillard (den Magistratsdiener), der den Taxator abgab. Paillard übte dieses Amt auf einer zurechtgezimmerten Tribüne vor dem Hauptaltar aus; neben ihm schrieb sein Schreibergehilfe die Preise auf.
† 15 Fr. ein Beichtstuhl … 15 Fr.! …
† 16, 17, 18 …
Für 19 Fr. wurde der Beichtstuhl losgeschlagen.
Ein Arbeiter trug für 2 Fr. im Triumph einen Stuhl davon. Eine Jungfrau in Stein ohne Kopf und Arme brachte 401 Fr., während ein nagelneuer und ganz weißer, heiliger Joseph mühsam 1.50 Fr. erreichte. Allerdings stammte die Jungfrau aus dem 15. Jahrhundert. Das Harmonium brachte 115 Fr., die Glocke, die 500 Kilo wog, wurde für 800 Fr. zugeschlagen.
– Das ist zu teuer, murmelte ein Händler neben mir. 1 Fr. das Kilo wäre gut bezahlt.
Es dunkelte; man zündete die Kerzen an. Einige Raucher benutzten sie, um sich ihre Pfeifen und Zigaretten daran anzuzünden. Die Auktion ging noch weiter: 5.50 Fr. der Christus, 35 Fr. der Altarteppich, 28 Fr. der Stock des Schweizers, 25 Fr. eine Kreuzabnahme. Inzwischen war es völlig Nacht geworden in der Kirche, die jetzt einem Trödlerladen glich; man mußte aufhören.
– Morgen kann ich nicht, sagte der Magistratsdiener.
Er stritt mit dem Bürgermeister. Endlich erklärte Paillard mit seiner großschnauzigen Stimme: Die Auktion wird nächsten Samstag, am Weihnachtstage, um 1 Uhr, fortgesetzt.
Auf dem Wege zum Bahnhof fand ich vor der Tür eines Wirtshauses die aufrührerischen, jungen Leute wieder, die immer noch ihre Soutanen trugen, jetzt aber nicht sangen, sondern tranken. Nach den Möbeln verkaufte man die Geräte und dann erschienen die Abbrucharbeiter. Clair-Guyot, ein Journalist vom Echo de Paris, hat sie bei der Arbeit gesehen.
Als ich ankam, erzählt er, waren die Mauern schon eingerissen und die Steine zu gleichförmigen Stößen um das alte Schiff herum aufgebaut. Die Leute hatten Mühe, mit Hilfe von großen Hebeln, die Fundamentierung einer Strebemauer herauszunehmen. Unter ihren vielfältigen Anstrengungen lösten sich endlich die Steine und die ganze Gesellschaft brüllte: Sieg!
– Ja, Alterchen, sagte einer der Arbeiter, wir haben's geschafft. Immerhin, sie haben damals gut gebaut!
– Sicherlich, meinte ein anderer, haben sie nicht geglaubt, daß man eines Tages wagen würde, ihre Kirche einzureißen. Wenn sie den schäbigen Rest heute sehen würden!
Mittlerweile kam der Feldhüter.
– Mir scheint, sagte er, ihr habt feste darauf losgeschafft. Habt ihr denn etwas gefunden?
– Ja, sagte einer der Erdarbeiter, eine Bronze, ein altes Stück von 1610. Der Meister war so zufrieden, daß er uns einen Liter spendiert hat.
Der Meister ist nicht etwa der Unternehmer, wie man glauben könnte, sondern der Herr Bürgermeister.
– Nicht erstaunlich, erwiderte der Feldhüter, er hat sich wohl gedacht, daß sich da irgend etwas finden ließe, denn während eures Frühstücks hat er schon mit seinem Stock herumgestöbert … Hast du denn in dieser Grube nachgesehen, da muß noch irgend ein Kadaver liegen.
Der Erdarbeiter begann zu hacken, die herumstehenden Kinder versteckten sich hinter einem Steinhaufen, um im besten Augenblick nicht davongejagt zu werden. Unter den Schlägen der Hacke brach das Steinwerk des alten Schiffes zusammen, die Erde öffnete sich und man sah menschliche Knochen. Da warfen die Arbeiter ihr Werkzeug fort und rissen mit den Händen die Reste derjenigen, die man ehemals in der Kirche begraben hatte, heraus. Zuerst holte man einen Schädel hervor, der mit einer Erdhacke durchbohrt, beiseite geworfen wurde, dann grub man ein Becken und enorme Schenkelknochen aus.
– Ein feistes Luder, sagte einer der Arbeiter, … Alterchen, der Pfaffe hat auch nicht geglaubt, daß man ihn noch einmal ausgraben würde … Halt, der soll uns mal einen tanzen.
Er nahm das Becken zwischen die Kniee, befestigte die Schenkelknochen daran und ließ sie dann sich rhythmisch bewegen, indem er dazu pfiff. Alle lachten.
Ich hatte genug, ich floh.«
Wenn auch in Guillaumins Buch dieser frivole Cynismus nicht hervortritt, so läßt es uns doch über seine völlige Gleichgültigkeit gegenüber Dingen der Religion außer Zweifel. Vielleicht würde sein Marcel Salembier die Worte des » fermier« Rouleau aus Nicolas Beauduins » Les Campagnes en Marche« wiederholen: »Wie es der Grosbida sagt, der die Wissenschaft studiert hat, also gut, das Kalkphosphat, das du in dir hast, wird wieder zu Kalkphosphat, die Kieselsäure zu Kieselsäure, das Fleisch zu Humus, Erdendreck, wenn du es besser verstehen willst. Und was nun? wo bleibt die Seele? Hast du schon eine Seele gesehen, ha? Ich sage dir, das ist alles albernes Gerede! Ganz wie das mit dem Fegefeuer; weiß du, was das ist? Ich will es dir sagen, mein Junge, – das ist das, was dazu dient, die Fleischtöpfe der Herren Pfarrer zu füllen!« Nichts steht einer solchen Äußerung Salembiers im Wege. Ob die Träume, die er zuweilen spinnt, von einem Dorfgemeindeglück auf kommunistischer Grundlage stark genug sind, die Leere zu ersetzen? – Er selbst spricht von ihnen mit folgenden Worten: »Ah, der wunderschöne Traum! Wie hilft er mir gut meine Zeit totzuschlagen! Denkt euch, wie ich mir da gefalle, auf diesen unseren bäuerlichen Sonntagsabendfesten im Schutze der mächtigen, schattenspendenden Bäume, oder in den schönen Sälen der ehemaligen Bourgeoiswohnung! Wie glücklich man sich fühlt, sich frei in den Herrlichkeiten zu ergehen, die einem früher verboten waren und die man jetzt frischweg genießen kann!« – Und schließlich scheint er selbst diesen hedonistischen Anwandlungen wenig Gewicht beizulegen, da er sich zu der endgültigen Resignation bekennt: »Meine Persönlichkeit ist ausgelöscht, ich bin nichts mehr, als ein Bauer der Hochebene des schweren Bodens, der viel arbeitet, bedachtsam lebt und zum Schluß des Jahres die beiden Enden mühselig zusammenbringt. Ich bin nichts anderes mehr, als ein Bauer, der sich unter das Gesetz der Allgemeinheit beugt …« Von keiner geistigen Aussicht noch Hoffnung gemildert tritt das Bild der Wirklichkeit, jener kapitalistischen Wirklichkeit nur noch krasser hervor. Der Glaube an den Parlamentarismus ist erschüttert. »Ich hoffe wenig von den Wahlergebnissen,« bekennt Guillaumins Dorfreformator Salembier. »Sie machen zu viel Lärm und wirbeln zu viel Staub auf, ohne von den sauberen Machenschaften zu reden, von denen das große Publikum nichts weiß. Sie sind unheilvoll für die persönliche Bildung, die die Grundlage aller sozialen Verbesserungen ist. Ich werde keiner Versammlung beiwohnen.« Man wird begreifen, wenn man diesen Gedankengängen nachgeht, warum das Buch des französischen Bauers kein Epos, sondern ein Proletarierbekenntnis werden mußte. Sollte er »die sterbende Erde« – » La Terre qui meurt« – besingen, wie René Bazin, der Städter es tut, indem er naturalistische Studien aus dem Dorfleben zu einem gangbaren Roman zurechtfrisiert? Die Hoffnung verschönt ihm nicht die Aussicht in die Ferne, um seine Phantasie zu lockenden Visionen anzuregen. Nüchtern in seinem Fühlen, seinem Glauben und seinem Wollen kann er auch nicht anders als nüchtern in seinem Stil sein. Das ist seine Wahrhaftigkeit! Er weiß, »daß das Leben auf dem Lande immer schwerer wird«, er bekennt es, rechnet es sachlich vor … und weiß keinen Ausweg! Auch vor seinen Blicken erhebt die Stadt die »gigantische Buhlerin«, nach der »mit ihrer Katz und ihrem Hund« die armen Leute Verhaerens trotten, ihr lichtumfunkeltes, verführerisches Haupt. Sie hat jenem glaubensbaren Hedonismus der schon halb Entwurzelten etwas Positives zu bieten. Die einzige Frage nur, die ihn mit einem mystischen Erschauern erfüllen könnte, ist die, ob er wohl ihr glücklicher Auserwählter wird? Dabei verfügt Frankreich über das klimatisch wie seiner Fruchtbarkeit nach verlockendste Stück europäischen Bodens und besitzt die größte Mannigfaltigkeit landwirtschaftlicher Erzeugnisse von allen Staaten Europas.