Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

30. Kapitel

Ich war am Morgen in guter Laune aufgestanden. Nach der langen Zeit der niederdrückenden Untätigkeit war ich darüber glücklich, mich beschäftigen zu können. An jeder noch so bescheidenen Arbeit, jedem noch so kleinen alltäglichen Werke fand ich eine ungewöhnliche Freude. Von dem unseligen Stoß der Heugabel war nichts mehr zurückgeblieben als eine leichte Steifheit an der Stelle, wo die Wunde gewesen war; aber die Muskeln gewannen in der Bewegung schnell ihre gewöhnliche Geschmeidigkeit wieder.

Ich war geradezu lustig, als ich gegen sechs Uhr anfing die Kartoffeln auszunehmen, und zwar auf demjenigen Feld am Hof, von dem ich einige Monate vorher Herrn Paul Doulon-Meuget hatte kommen sehen. Dazu stieg die Sonne strahlend und in voller Pracht am wolkenlosen Himmel auf … Der Tag versprach schön zu werden.

Ob es nun der Anblick des armen verschrumpften Kartoffelkrauts ist oder die Beobachtung, daß schon einige Blätter an den Sträuchern der Hecke gelb werden? Jedenfalls setzten nach einer Weile fast ohne Übergang schwarze Gedanken bei mir ein. Irgend etwas Übermächtiges, Quälendes, Geheimnisvolles kam über meine Seele. Ich fühlte mich schwach und klein gegenüber dem Schicksal, gegenüber allen schlechten Zufällen und Nöten des Lebens, die uns immer bedrängen und von denen irgendeins uns plötzlich erreicht und uns verräterisch zu Boden schlägt. Sind wir denn nicht immer in der Lage faszinierter Tiere, gegen die die Schlange ankriecht oder auf die der Habicht niedersaust?

Meine Uhr zeigte die achte Stunde an: Ich beschloß daher, die Arbeit einzustellen, um die Morgensuppe essen zu gehen, als auf dem Weg ein Alter aus Baugignoux auftauchte; er war ein altersschwacher, verhutzelter Mensch, eine elende, häßliche Mißgeburt, bekannt unter dem Spitznamen »Dickschädel«, obgleich er Prevost hieß. Da er unfähig war, eine regelrechte Tätigkeit auszuüben, verwandte man ihn zu allerlei Gelegenheitsdiensten oder sonst welchen dringlichen Bestellungen.

Eigentlich war ich nicht überrascht; ich begriff sogleich, daß er die schlechte Botschaft brachte, die meine andauernd trübsinnigen Gedanken von vorhin mich hatten vorahnen lassen. Und die Worte, die mir der kleine Alte über die Hecke hinweg mit seiner kratzigen Stimme zuwarf, die den Klang eines gesprungenen Kessels hatte, verursachten mir kaum eine besondere Erregung.

»Euer Vetter, der Schlachter Alfred Laporte, ist soeben gestorben. Als er heute früh bei Morgengrauen sein Pferd hat anspannen wollen, um nach Verneuil zu Markt zu fahren, ist er plötzlich auf der Straße gerade vor seinem Stall umgefallen. Man hat ihn schnell in seine Wohnung getragen, der Arzt ist gekommen, aber er hat nichts mehr machen können: er ist etwas vor sieben Uhr gestorben. Das ist seine Frau, die mich schickt, sie ist ganz ratlos geworden; sie läßt Euch das sagen; wenn Ihr hinkommen wolltet, würde ihr das eine große Erleichterung sein.

*

† Das ist Marthe, die mit rotgeweinten Augen und verstörtem Gesicht sich in meine Arme wirft, ihre Brust hebt und senkt sich vor unterdrücktem Schluchzen:

»Oh Gott, oh Gott! Marcel, tot ist er, mein armer Dicker … nein, ich kann es gar nicht glauben … das heißt zu schnell weggehen, … so fröhlich wie er gestern abend noch gewesen ist! …«

Reglos, ausgestreckt auf seinem Lager, starr in der großen, letzten Unbeweglichkeit, eingekleidet in seinen schönen schwarzen Tuchanzug, den er niemals anzog und der ihm die Glieder länger zu machen scheint, liegt er da, der arme Dicke, mit eingezwängten Nasenflügeln, das Gesicht so fahl, oh so fahl! unter dem weißen Gazeschleier, mit einem weißen Taschentuch um sein rundes, pausbackiges Kindergesicht. Irgendeine düstere Ironie liegt über dieser dunklen Erscheinung; sie mag daher kommen, daß der Tote die Fröhlichkeit so sehr geliebt hat, daß er nicht gut lange auf demselben Fleck hat aushalten können, daß er ein so rosiges, lustiges Gesicht hatte …

Im übrigen, hatte er nicht den Tod gehabt, den er sich gewünscht hatte? … Dieser Mann, der bis zum Ende ein Junge geblieben ist, und der immer das Leben für gut befunden hat, weil es ihm freie Gelage, die fettesten Späße und das schallendste Gelächter gewährt hat?

Kränkelnd und gebunden an einen Zwang, als Gefangener in seinem Zimmer, wäre er gewiß sehr unglücklich gewesen, und wieviel hätte dann seine Frau darunter leiden müssen!

Seine Frau … die hatte er geliebt und geschätzt auf seine Art. Marthe hatte sicherlich oft lästige Stunden durch ihn verlebt, aber sie hatte sich im Laufe der Jahre an ihn gewöhnen müssen und ihren Platz ausfüllen müssen unter den Daseinsbedingungen, die er ihr bot. Darum hatte ich ihre Tränen und ihr Weinen im Augenblick als ganz aufrichtig gefühlt. Ist es nicht ganz selbstverständlich, daß sie ihren Lebensgefährten, den Begründer ihres gesicherten Daseins, den Hausherrn und auch ihren »Dicken« beweint …?

Ach! wie wir doch so schnell dem uns vom Schicksal bestimmten Abgrund zugleiten, der uns geschickt nacheinander beiseite zu schaffen weiß. Ich bin noch jung und habe schon so viele darin verschwinden sehen! Über die Bescheidenen und die Mächtigen, die sich wichtig taten, ist dieser grausame Wind gestrichen und hat sie alle gleich gemacht im glättenden Vergessen! Noch ein weniges und unser Gebein, die wir hier auf dieser steinigen Ebene wohnen, zwischen der Valzette und dem Frigouzy, unserer aller Gebein, reich oder arm, Freund oder Feind, wird in der gemeinsamen Erde bleichen! …

Aber wozu denn sich aufregen über eine Einrichtung, die ebenso alt ist, wie die Erde selbst? Wir verkennen es ja nicht, du lieber Gott, daß wir sterben müssen, – ich sage wir, die armen Leute, aber wir wissen auch recht gut, daß wir inzwischen leben müssen; wir wissen, daß unser Leben mit Elend durchsetzt ist, daß wir Rechte haben auf die reichsten Freuden des Lebens … daß wir die Pflicht haben, uns zu rühren, um sie zu erlangen …

Auf diese Art philosophiere ich, und der Syndikatsapostel taucht wieder hinter dem Menschen Salembier auf, der Syndikatsapostel, der manchmal ratlos war in seinem eignen Amte und der es nötig hat, sich selbst von seinem Recht zu überzeugen. So philosophiere ich denn nun, in der Dämmerung des Totenzimmers sitzend, an einem kleinen Tisch, auf dem ein Buchsbaumzweig in einem weißen Krug zwischen zwei flackernden Kerzen zu sehen ist.

Marthe berührt mit ihren zarten Fingern meine Schulter und flüstert mir mit leiser, zerquälter Stimme ins Ohr:

»Marcel, mein Lieber, willst du nicht zum Herrn Pfarrer gehen, wegen dem Begräbnis, und dann zum Küster wegen dem Totengeläut, auch den Totengräber müßtest du sprechen; befasse dich auch mit den Leichenträgern. Geh doch zu meinem Vater hinüber, ihr verständigt euch miteinander, und du machst dann alles zurecht, so gut du kannst …«

Ich sah sie darauf nach vierzehn Tagen; sie weinte nicht mehr, aber sie blieb traurig, und ihr Witwenkleid hob noch die Blässe ihrer gebräunten Gesichtsfarbe.

»Man denkt nicht mehr an die Fehler, wenn der Tod dazwischen gekommen ist,« sagte sie mir, »er fehlt mir sehr. Ich fühle mich jetzt schwach und wie verloren … Was soll ich tun? Ich kann diese Schlachterei doch nicht weiter führen, ich will sie verkaufen, und wenn ich alles abgeschlossen habe, übernehme ich, wenn etwas Geld übrigbleibt, die kleine Buchhandlung in Buy-le-Château von einer alten Base, von der ich dir öfters gesprochen habe. Dieser kleine Laden würde mir ganz gut gefallen, und ich würde mir sicherlich das Nötige zum Leben verdienen …


 << zurück weiter >>