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1. Kapitel

Gewisse Jugenderinnerungen, die mein Vater zu erzählen liebte, machten der Marthe André viel Spaß.

»Erzählt doch von den schwarzen Fischchen, Pate …«

Sie sagte »Pate« und »Patin« zu meinen Eltern, was eigentlich nicht der Wahrheit entsprach, aber zu dem vertraulichen Verhältnis paßte, in dem sie zu ihnen stand.

Sie hatte sehr früh ihre Mutter verloren, die eigentlich die Milchschwester meiner Mutter war. Der Vater, ein Krämer in Baugignoux, hatte sich kurz darauf wieder verheiratet. Nach dem ersten Kind, das dieser zweiten Ehe entsprossen war, sagte meine Mutter mitleidig:

»Die arme Marthe tut mir leid, sie sieht wie eine kleine Vernachlässigte aus …«

Unter dem Vorwand, ihr etwas von der freien Wiesenluft zukommen zu lassen, bot sie sich an, sie auf eine Woche in ihre Obhut zu nehmen. In Wirklichkeit blieb Marthe fast einen ganzen Monat da. Danach kam sie regelmäßig, ihre Osterferien und einen guten Teil der großen Ferien bei uns zu verbringen. Sie war mir im Alter um zwei Jahre voraus, wir verstanden uns aber recht gut; wir waren selbst große Freunde.

»Pate, erzähl es uns doch, wie du hinter den kleinen schwarzen Fischlein hergewesen bist …«

Darauf erzählte uns mein Vater, wenn er gut gelaunt war, verschiedene Begebnisse aus jener Zeit, die er als Bediensteter bei den Larose in Gerbillets in der Gemeinde Verneuil zugebracht hatte.

Diese beiden Jahre lasteten auf ihm wie eine Zwangsvorstellung und blieben für ihn gräßlich wie ein Alp.

Die Larose waren keine schlechten Leute, aber sie kämpften mit großer Mühe gegen die Armut an. Keiner konnte sich da bei ihnen jemals zur Genüge satt essen. Zweimal am Tag kam die Suppe auf den Tisch, und was war das für eine Suppe! Eine Zwiebelbrühe mit wenig Butter und wenig Salz, in der schmale Stückchen Roggenbrot, das dazu noch schleifig und grau war, herumschwammen. Teller benutzte man bei den Larose nicht. Man löffelte die Brühe zu gleicher Zeit aus den beiden Schüsseln, die an beiden Enden des Tisches standen, wobei sich ein jeder der allzu seltenen kleinen schwarzen Fischlein zu bemächtigen suchte, die in den Wellen der durch so viele Löffel aufgeregten Flüssigkeit flüchteten. Einmal warf die Magd aus Ärger darüber, daß sie kein einziges erwischt hatte, den Löffel weg. Und mein Vater, um sie zu necken, sagte:

»Ihr hättet ihn mit der linken Hand fassen sollen; anstatt immerzu hinter den Fischlein drein zu sein, hättet Ihr auf sie warten können, und sicher wäret Ihr besser dabei weggekommen.«

Nach der Suppe schnitt der Hausherr jedem sein Stück Brot ab, und diese Stücke waren nicht sehr groß. Er blieb über dem Brotlaib mit aufgestützten Ellenbogen sitzen und fragte gegen Ende der Mahlzeit:

»Haben alle Mann genug Brot?«

Wer es aber gewagt hatte, noch ein Stück zu verlangen, wurde den ganzen Tag lang scheel angesehen …

Als Gericht gab es Kartoffeln in Wasser gekocht, oder in der Pfanne geschmorte rote Rüben. Kartoffeln waren für jeden gerade nur eine, und es blieben noch manchmal außerdem ein paar über. Dann hatte man es eilig, die erste hinunterzuschlucken, um noch zu einer mehr zu gelangen. Die Gierigsten machten sich nicht die Mühe, sie zu schälen. Sie bissen in die Kartoffel hinein so wie sie war. Was die »Beeten« aber zum Beispiel anbetraf, versuchte keiner, die Begünstigung einer zweiten Ration zu erlangen: das geringste Zuviel büßte man mit einem Durchfall …

»Denkt euch nur,« schloß mein Vater, »ob man bei einer solchen Wirtschaft noch Mut zur Arbeit haben konnte. Immerzu fühlte man sich schwach und hatte ein Gefühl, als wäre der Bauch ganz leer … Das ist doch hart, bei vollem Wachstum von einem Ende des Jahres bis zum andern Hunger zu leiden … So ein verfluchtes Elend, wenn man daran nur zu denken anfängt! …«

Und Marthe André, die sich über die Jagd nach den schwarzen Fischlein amüsierte, wurde ganz ernst bei diesem Schluß, der von so viel Leid und Elend Kunde gab.

So kam es also, daß Denis Salembier keine zärtlichen Gefühle für die Vergangenheit übrig hatte und daß er die Gegenwart schätzte, die es ihm erlaubte, Tag für Tag eine gute Specksuppe zu essen, auch Weizenbrot nach Belieben, hin und wieder einen Schluck Wein und zum Festtag einen Topf Fleisch mit Brühe oder einen Kaninchenbraten und selbst sogar ein Hühnchen, wenn man Gäste hatte.

Es war ihm nicht schlecht gegangen, nachdem er durch seine Heirat aus der Stellung eines Bediensteten zum Pächter emporgestiegen war und endlich um die Vierzig herum dazu kam, das kleine Pachtgut Waldhütte in Pacht zu nehmen, welches er gut kannte, weil er es schon als Kolonist mit halbem Gewinnanteil am Ertrag wohl an die zehn Jahre bewirtschaftet hatte. Der Besitzer dieses Grund und Bodens, Herr Monternier, war kein Bourgeois im richtigen Sinn, er war ein reicher Unternehmer von Zimmermeisterarbeiten aus Carivanne. Man sah ihn aber sozusagen gar nicht.

Mein Vater, als ein Mensch von klarem Verstand, dabei intelligent und wißbegierig, litt sehr darunter, Analphabet zu sein. Darum schickte er mich sehr regelmäßig in die Schule und das bis fast zu meinem vierzehnten Jahre, im Gegensatz zu den andern Bauern, die den Schulzwang als eine ärgerliche Belästigung betrachteten und ihre Kinder gleich nach dem zwölften Lebensjahr aus der Schule nahmen, um sich auf diese Weise neue Arbeitskräfte zu verschaffen.

Ja, obendrein, sobald ich so weit vorgeschritten war, fließend zu lesen, opferte er sogar jährlich 11 Franken, um sich zwei Blätter zu halten: die »Gazette du Village«, die in Paris herausgegeben wurde, und den »Aufklärer von Carivanne«, eine kleine republikanische Wochenzeitschrift, die in der Kreisstadt erschien.

Was war das dann auch für eine Freude für ihn, sich die Zeitung vorlesen zu lassen. Er horchte in gespannter Haltung, den Oberkörper vorgeneigt, den Kopf etwas vorgereckt, seine ganze Aufmerksamkeit anspannend, um nichts von diesen magischen Worten zu verlieren, die ihm alle Neuigkeiten und Wahrheiten der Welt zutrugen. Er wollte alles erfassen.

»Fang noch mal mit diesem Abschnitt an, Marcel,« gebot er mir, wenn ihm der Sinn eines Satzes unklar war.

Er begeisterte sich für bestimmte Artikel und Abhandlungen. Die schönen Redewendungen, die aufregenden oder Klage führenden Ausfälle bewegten ihn stark, und zuweilen war er nahe daran zu weinen. Ebensogut aber auch vor Freude wie vor Traurigkeit, denn er hatte eine wahre Freude daran zu wissen, daß man sich da oben um das Elend der Geringen bekümmere und daß man über die Mittel nachdachte, Abhilfe zu schaffen. Er glaubte, daß alles Unrecht, das noch vorhanden war, bald verschwinden würde und daß die Morgenröte einer froheren Zukunft sich schon anzukündigen begonnen hatte.

Da begannen sich die niedrige, verräucherte, tief in die Talmulde hineingebettete Strohhütte, die ärmlichen Möbel und alltäglichen Dinge, die sie füllten, mit zu erhellen von dem Schein der hochstrebenden Gedanken und beseligenden Hoffnungen …

Ich war ein guter Schüler, und ich blieb ein lernbegieriger junger Bursche, der sich mehr zum Lesen und zum Lernen hingezogen fühlte, als daß ihn die lärmenden Vergnügungen locken konnten, an denen die Kameraden seines Alters Vergnügen fanden. Die Roheit vieler unter ihnen und ihr Gefallen an gemeinen Reden stießen mich ab. Ich hatte weder Bruder noch Schwester, ich war allein und still für mich in diesem weltverlorenen Landstrich aufgewachsen, und der Aufenthalt von Marthe André, meiner kleinen Zufallsschwester, hatte nur noch fördernd gewirkt in mir ein Feinempfinden zu entwickeln, das sicherlich aus meinen innersten Gefühlen kam. Marthe war keines jener Mädchen von jungenhaftem Benehmen. Sie liebte es weit mehr, anstatt weit herumzuschweifen, die Kücken zu versorgen, Eier einzusammeln, im Garten Blumen zu pflücken oder Bilder auszuschneiden. Später, als bei dem größer gewordenen Mädchen das Kindhafte ganz verflüchtigt schien und sie zu groß für die kurzen Röcke wurde, als sie aufgehört hatte ihre schwarzen Haare in Zöpfe zu flechten, als die frischen Farben des reiner gewordenen Blutes durch den Schmelz ihres sehnsüchtigen Gesichts hindurchzuschimmern begannen und ihr ganzes Wesen voll einer fröhlichen Gemessenheit ward, befaßte sie sich mit verschiedenen Arbeiten: sie verfertigte schöne Spitzen, stickte oder nahm eine Strickarbeit vor. Ich hielt mich dennoch in ihrer Nähe, um meine Schularbeiten zu machen, dabei manchmal ihren Rat einholend, um damit zu enden, einen lauten Wortwechsel zu beginnen, wenn wir nicht gleicher Meinung waren. Darauf unterhielten wir uns damit, Geschichten zu erzählen oder auch zu erfinden, bis zuletzt manchmal meine Mutter mit ihrem gesunden Sinn für das Positive mit ihrer rauhen Offenheit dazwischenfuhr:

»Aber, nun hör mal, Marcel, geh doch zu deinem Vater; das hat doch keine Art für einen Jungen, sich immer zwischen Weiberröcke zu stecken …«

Mein Vetter Eduard Fillot, der im Alter von Marthe war, kam auch manchmal zu uns, als er noch Kind war, aber nie für lange. Er war der Sohn eines Bruders meiner Mutter, eines Briefträgers in Pericourt. Er stellte sich als ziemlich wild heraus und schleppte mich durch die Wiesen, um Frösche zu angeln; wir hielten uns am Rande aller Lachen, die uns begegneten, lange auf, ein benachbarter Fluß, der Frigouzy, in dem wir nach Gründlingen und Barschen zu fischen versuchten, hielt uns noch länger fest. Schließlich aber machte mir das alles doch kein großes Vergnügen, es bedrückte mich selbst, das arme Getier leiden zu sehen, das in unsere Hände fiel.

Da kam das Jahr meines ersten Abendmahls. Eduard Fillot trat bei einem Barbier in die Lehre; der große Freund des Lebens im Freien sah sich in einen Raum von zwanzig Quadratmetern eingezwängt; weil er aber die ganze Woche hindurch genügend freie Zeit hatte, machte er sich daran, allerhand Abenteuerromane zu verschlingen. Er schrieb mir manchmal und teilte mir sein großes Verlangen mit, sobald wie möglich nach Kanada, Afrika, Australien oder dem fernsten Osten zu reisen. Voraussichtlich gingen seine Wünsche darauf, die Meere in einem neuen »Nautilus« zu befahren oder sich bis zum Mond, wenn nicht selbst zum Planeten Mars hinaufzuschwingen. Aber inzwischen, nachdem seine Lehrzeit vorüber war, mußte er sich entschließen, eine Stellung als Gehilfe bei einem Barbier in der Rue de la Republique in Carivanne anzunehmen.

Es kam der Tag, an dem mir unsere beiden Blätter nicht mehr genügten. Ich schrieb an Eduard, mir etwas zum Lesen zu schicken, irgendwelche interessanten Werke, die mir dazu dienen sollten, die langen Winterabende totzuschlagen.

Nun war es aber so, daß seine Begeisterung für Boussenard und Jules Verne anfing abzuflauen. Der Einfluß eines Kameraden hatte dazu geführt, daß er Geschmack an fortschrittlichen politischen Büchern fand, und er setzte einen Stolz darein, fortschrittliche Meinungen zu haben. Er sandte mir eine ganze Anzahl Broschüren der revolutionären Propaganda, die den Vorzug haben, nicht teuer zu sein und in wenig Seiten viel Inhalt zu umfassen. So kam es, daß ich begierig »Die Gespräche des Philosophen mit der Marschallin« von Diderot, »An meine bäuerlichen Brüder« von Reclus, »Unter Bauern« von dem Italiener Malatesta und viele andere Bücher las. Ich erkannte dadurch, daß es in der Welt noch andere Meinungen gab als diejenigen, die der »Aufklärer« brachte.

Diese Lektüre habe ich für mich allein betrieben. Mein Vater zeigte sich ein wenig unwillig und eifersüchtig darüber, und er regte sich selbst auf, wenn er sah, daß ich mit so viel Interesse dabei war:

»Nur nicht zu weit gehen, mein Junge, es lenkt dich von der Arbeit ab, und das könnte dir schaden: man hat gerade genug gehabt an unseren Zeitungen.«

Ich lächelte bloß darauf oder antwortete mit ausweichenden Redensarten und machte mir nichts aus seinen Ratschlägen. Ich entdeckte um uns herum Abgründe von Ungerechtigkeiten, welche den fernen Verfassern dieser Traktate unbewußt geblieben waren, und träumte davon, sie allen bekannt zu machen. Von dem Fieber meines Apostelamts ergriffen, wollte ich ein treuer Kämpfer für diese neue freiere brüderliche gesellschaftliche Ordnung sein, von der jene Vorläufer sprachen …


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