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14. Kapitel

Das Kindchen, das wir zu den ersten Tagen im Mai erwarteten, entschied sich, erst zum 16. Mai seinen Eintritt in dieses »unser Tal der Tränen« zu halten. Es war ein rosiger, lebendiger Bube, der gut seine acht Pfund wog; man nannte ihn Maurice.

Auf Grund des zu erwartenden Ereignisses hatte ich die Waldhütte schon seit annähernd drei Wochen nicht verlassen, diese Ruhepause machte es, daß ich mich ein wenig erholte von meinen eifrigen syndikalistischen Feldzügen der verflossenen drei Monate. Unterdessen kamen mir recht wenig ermutigende Nachrichten. Die verschiedenen Ortsgruppen verblieben in ihrem Keimzustande, ohne endgültig eine feste Gestalt anzunehmen. Anhänger zu werben war keine leichte Sache, aber einen Vorsitzenden, einen Schriftführer und Beisitzenden unter ihnen zu finden, machte noch ganz andere Schwierigkeiten. Keiner wollte diese Verantwortlichkeit und Mühe auf sich nehmen. Man hatte keine Zeit … Man war nicht »gerissen« genug. Diejenigen, die zeitweise ein Amt auf sich genommen hatten, und dabei noch nach endlosen Umständen, zeigten sich nicht auf der Höhe ihrer Aufgabe, und sie machten auch keine Anstrengung, sie zu erreichen. Die Briefe selbst, die ich von ihnen empfing, die wirr und weitschweifig, voll von falschen Redewendungen und Naivität waren und von orthographischen Fehlern wimmelten, verrieten ihre Unwissenheit und ein völliges Fehlen von jeglichem selbständigem Antrieb. Oftmals ärgerte ich mich darüber, sie so einfältig und abgenutzt zu sehen. Sie schienen mich als ihren Propheten zu betrachten, als den erwarteten Messias, durch den alle neue Lebensordnung für die Landleute errichtet werden sollte; sie bekundeten mir ein Vertrauen, auf das ich stolz war, aber zu sich selber hatten sie gar kein Vertrauen …

Und ich, wo ich doch eigentlich so wenig noch von allem wußte, konnte gar nicht darüber fertig werden, wie mein kleiner Schatz an Wissen, den ich mir durch mein Lesen errungen hatte, mich so anders machte als meine Kameraden, und wie ihnen alle Begriffe außerhalb der kleinen Tatsächlichkeiten des materiellen täglichen Lebens fremd waren …

Ganz unbestimmt hatten wir unter Gleichgesinnten davon geredet, vor dem Sommer in Baugignoux die tüchtigsten unter den Anhängern einer jeden solchen werdenden Gruppe zusammenzurufen, um uns über die vorzunehmenden Maßnahmen zu beraten. Am 18. Mai kam Hervaux, den Zeitpunkt mit mir zu besprechen, er nahm es auf sich, alle daran Beteiligten zu verständigen. Unsere Wahl fiel auf Donnerstag, den Tag der Himmelfahrt, der zehn Tage später war. Zum Unglück wußte ich noch nicht, daß meine Mutter und die Schwiegermutter auf diesen Tag die Taufe des Kleinen festgesetzt hatten.

Meine Schwiegermutter, die gekommen war, um Jeanne zu pflegen, bewies mir eine recht offenkundige Kälte, deren Grund zu erraten nicht schwer war. Ich wußte durch meinen Schwager, Joseph Girard, wie stark sich die Couturiers über meinen syndikalistischen Feldzug erregten. Sie erörterten diese Sache häufig bei sich zu Hause. Der Herr Pfarrer, der Herr Trochère und Herr Auburtin hatten ihnen gesagt, daß ich mich recht schuldig gemacht hätte, indem ich meinen häuslichen Herd vernachlässigte, um umstürzlerische Ideen verbreiten zu gehen. Solche Äußerungen brachten sie außer sich. Ein großes Unglück war über ihre Familie gekommen, ein ebenso schweres Unglück, als ob der Mann ihrer Tochter sich durch irgendwelche verbrecherische Handlung in Unehre gebracht hätte oder verrückt geworden wäre. Hatten sie es etwa verdient, daß die Vorsehung ihnen solch ein Unglück brachte? Girard versicherte mir, daß Mutter Couturier sich entschlossen hatte eine Novenne zu beten, um meine Bekehrung zu erbitten.

Die Mittagsmahlzeit am Mittwoch, den 20. Mai. Mit dem liebenswürdigsten und unschuldigsten Gesicht bitte ich, daß man so gut sein möchte, die Taufe auf Sonntag, den 1. Juni festzusetzen, weil ich am Himmelfahrtstag genötigt wäre fortzubleiben.

Allsogleich lehnte sich Mutter Couturier ganz aufgebracht dagegen auf:

»Das habe ich mir gedacht, daß du uns noch mit deinen Geschichten einen Stock zwischen die Räder stecken wirst! Ich sehe nicht ein, wahrhaftig, warum wir den armen kleinen Engel so lange ohne Taufe lassen sollen.«

Ich entgegnete darauf vielleicht etwas zu scharf:

»Schließlich macht die Geschichte am Donnerstag, wenn ihr es durchaus wollt, es ist ja nicht unumgänglich nötig, daß ich dabei bin!«

Sie widersetzt sich ganz rot vor Wut:

»Das würde nur noch gerade fehlen, daß du bei der Taufe deines Kindes nicht zugegen bist. Das ist nun einmal das Unglück, daß du nicht wie alle Welt zufrieden bei deiner Familie bleiben kannst.«

Meine Mutter mischt sich hinein mit ihrer vollen breiten Herzlichkeit und ihrer versöhnlichen guten Laune:

»Was wollt Ihr, meine gute Helene, jeder sieht die Dinge nach seiner Art, und das meine ich nur, Ihr würdet auch nicht recht zufrieden sein, wenn man Euch Vorwürfe wegen dem machte, daß Ihr zu oft zur Messe geht, nicht wahr? Man soll den Menschen ihren freien Willen lassen. Da Marcel am Himmelfahrtstage abwesend sein muß, so warten wir also bis Sonntag, und damit ist alles zurecht. Der Kleine ist kräftig, es ist nichts Unpassendes dabei, wenn man sich noch ein paar Tage länger geduldet.«

»Wahrlich nicht,« gibt mein Vater zu, »was soll das schaden!«

Die Schwiegermutter fügte sich murrend, und ich machte mich schnell aus der Stube, in der Befürchtung, daß das leidlich beschwichtigte Gewitter wieder ausbrechen könnte.


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