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22. Kapitel

Ein Frühlingssonntag Ende April oder Anfang Mai; über das Datum dieses Tages hat mich meine Erinnerung im Stich gelassen …

Germaine ist seit Ostern nach Amouraux zurückgekehrt, wohin sie die Anhäufung von Arbeit berief. Jeanne ist immerzu kränklich, und ich lasse sie so wenig wie möglich allein. Ich habe trotzdem im Laufe des Vormittags einen Abstecher nach Baugignoux gemacht, von wo ich gegen zwei Uhr zurückgekommen bin.

Es war auch schon Zeit, denn jetzt kamen nach und nach eine Anzahl Gäste: Großvater und Vater Couturier, Joseph Girard mit seiner Frau und seinem Jungen, und nach Ablauf einer kleinen Viertelstunde, wie auf vorherige Verabredung zwischen den beiden Familien, mein Vater und meine Mutter …

Die Frühlingsnachmittage sind lang, das Wetter ist schön; darum hat man in der Waldhütte wie in Amouraux denselben Gedanken gehabt: nachsehen, wie es sich bei denen in la Fayt, in ihrem neuen Heim macht …

Wir sind jetzt also auf dem Weg nach meinen Kornfeldern, die Männer voran. Wir regeln unsere Schritte nach denjenigen des Großvaters, der nicht schnell gehen kann; die zweiundachtzig Jahre lasten auf ihm, beugen ihn etwas vornüber, steifen seine Muskeln und ziehen Nebel über seine Augen. Manchmal aber hat er die Hände um den Stock gekrampft, und eine plötzliche Kraft kommt über ihn, seine zumeist etwas meckernde Stimme bemächtigt sich wieder eines bestimmten, herrischen und rechthaberischen Tonfalls, der nach dem Ton des Familienoberhaupts und des Hausherrn klingt. Visionen glänzender Ernten, minderwertiger Ernten und verschiednerlei Unbille beschwört seine Erinnerung herauf. Er redet vom Jahre siebenundvierzig, das ein Jahr war, in dem die großen Regengüsse im Sommer das reife Getreide auf den Feldern faulen ließen, vom Jahre einundsechzig, in dem der Hagel Ursache von furchtbaren Verheerungen wurde, vom Kriegsjahr, wo sie einen so furchtbaren Winter hatten …

An meinen Vater wendet er sich mit besonderer Vorliebe. Es muß bemerkt werden, daß die alten Bauern gewöhnlich ihren Nachkommen gegenüber einen Ton kalter Zurückhaltung anschlagen; sie verübeln es ihnen, daß sie sie verdrängt haben und daß sie nicht mehr allen ihren Ratschlägen folgen, während diese alten Leute gegenüber einem Fremden, den sie soweit kennen, daß keine Verlegenheit aufkommt, vertrauensvoll ihre freiwillige Zurückgezogenheit beiseite lassen und ganz stolz darüber, daß man auf sie hört, mit der Achtung, die ihnen zukommt, ihren ersten Platz mit Glück zu behaupten wissen.

Mein Getreide gewährt keinen schlechten Anblick, wenn auch die Halme in den Niederungen ein etwas bleichsüchtiges Aussehen haben, infolge der Nässe, die in den drei letzten Monaten geherrscht hat. Die Ansicht von Papa Couturier, die durch diejenige meines Vaters bekräftigt wird, ist die, daß eine leichte Ausstreuung von salpetersaurem Salz ihnen notwendig wäre. Aber der Großvater versichert giftig, daß salpetersaures Salz dranzuwenden grad so viel wäre, wie Geld in den Wind auszustreuen, und daß das Ergebnis, wenn auch die Pflanzen während einiger Tage von dieser neuen Kräftezufuhr Nutzen zu ziehen schienen, doch bei der Ernte gleich Null würde.

Hinter uns, nur einige Schritte zurück, folgen die Frauen in einer Gruppe für sich. Meine Mutter ist ganz glückselig, ihren Enkel zu tragen und ihn dabei zu schaukeln und zu liebkosen. Das vor drei Jahren geborene Kindchen der Girards läuft zwischen den beiden Gruppen hin und her, indem es ohne Unterlaß lebhaft, flink und ungestüm vor sich her trippelt; aber es ermüdet dennoch recht schnell infolge der vielen Furchen, über die es klettern muß und die große Hindernisse für seine Beinchen sind; schließlich nimmt es sein Vater auf die Schultern huckepack, damit es sich seine kleinen Beinchen etwas schonen kann.

Es ist gerade jetzt die Brütezeit, und ich höre meine Schwägerin Jeanne fragen:

»Hast du viele kleine Kücken?«

»Ich habe achtzehn von zwei Glucken, das ist nicht gerade viel … Aber eine andere wird jetzt auch bald zum Schluß kommen.«

Meine Mutter beklagt sich, sie hätte fünfzehn wundervolle Gössel gehabt, aber sie haben einen unheilvollen Regenschauer mit abbekommen, gleich am Ende der ersten Woche; drei sind totgegangen, und die anderen haben sich noch nicht wieder erholt von ihrem Mißgeschick …

Auf diese Art gehen wir unter dem hohen weiten blauen Himmel, zwischen dem jungen Grün des neuen Frühlings einher, unsere kleinen Angelegenheiten unter uns beredend. Wir gehen die ganze Familie beieinander, alle Generationen sind vertreten, vom alten Großvater, in dem sich die Erfahrung der Jahre angehäuft hat und der instinktiv alle Neuerungen mißbilligt, bis zu dem Enkelkind, das entzückt ist, bei jedem Schritt etwas Neues zu entdecken und dem späterhin einmal irgendwelche Neuerungen natürlich erscheinen werden, die unsere starr gewordenen Gehirne sich weigern werden aufzunehmen.

Geheiligter Gang voll patriarchalischer Würde, voll Sittigkeit und Poesie. Laben wir uns an diesen kostbaren, schönen Augenblicken, die schnell vorübergehen und sich vielleicht nie wiederholen!

Aber ich freue mich nicht, nein! Eine drückende Erbitterung folgt mir auf Schritt und Tritt. Nichts ist mir so unerträglich wie diese Familiengespräche, von denen ich schon im voraus den Inhalt kenne, ein Gemisch von nichtssagender Banalität und Hohlheit. Und im Grunde, was steckt hinter dem allen? Die Couturiers können mich nicht leiden, und meine Eltern verurteilen mich … Ich habe Lust, ihnen allen zuzurufen:

»Nutzt das schöne Wetter aus, lauft spazieren, redet so viel ihr wollt, prüft alles nach Belieben: die Ernte wird doch das sein, was sie sein soll, trotz eurer Prophezeiungen von heute. Geht, redet, ihr seid richtig drin in eurer Rolle, ich geh meine zu erfüllen, denn ich habe keine einzige Minute wahrer Freiheit, und ich werde morgen, werde schon heute diesen verlorenen Abend bereuen …«

Aber man muß sich zusammennehmen können … Alsdann kommen mir Gewissensbisse, solche Gedanken gehabt zu haben: ich fürchte schon eine Art Ungetüm zu sein und ärgere mich darüber …

Der Spaziergang hat endlich sein Ende erreicht. Nach der Rückkehr drängen Jeanne und ich darauf, unseren Eltern einen kleinen Vieruhrimbiß anbieten zu dürfen. Sie beschließen schließlich, sich niederzusetzen. Jeanne bringt Brot, Käse und einen Rest Kuchen; ich bringe einen Krug Wein. Wir stoßen an, wir schneiden das Brot an. Aber, oh weh! meine Schwägerin läßt offenherzig ihre Meinung laut werden, die sie lieber für sich hätte behalten sollen:

»Das ist also der berühmte Syndikalistenwein, der überall als schlechte Ware verschrien ist, den finde ich aber gar nicht schlecht …«

Darauf mein Vater:

»Das hängt vom Geschmack ab. Ich hab ein Viertel von demselben, mit dem ich recht zufrieden bin. Sicherlich, daß die Weinhändler nicht ebensolchen liefern zum selben Preis.«

Papa Couturier ist kein forsch vorgehender Mann, er beschränkt sich darauf zu sagen:

»Wir können uns nicht beklagen, der Herr selber schickt uns meist immer den Wein …«

»Trochère versteht sich auf das Weinpantschen,« mischte sich mein Schwager hinein.

Vom alten Großvater kommt mir daraufhin die schon gewohnte Lektion:

»Er gibt ihn uns, und sicherlich ist der Wein gut … Und Ihr tätet besser dran, Euren Wein bei ihm zu kaufen und Euer Land in Ruhe zu bearbeiten, als aus reiner Lust an den Reichen herumzumäkeln und Euch dann Geschichten zuzuziehen. Habt Ihr jemals gesehen, daß ein irdener Topf einen eisernen zerschlägt? Das wohl sicherlich nicht, aber das Gegenteil habt Ihr schon oft gesehen … Ich habe immer die Furcht, daß Ihr Euch auch mal so zerschlagen läßt! Diejenigen, die so die Klugen spielen wollen, meine Junge, schließen immer schlecht ab: erinnert Euch nur daran, was ich gesagt habe …«

Was sollte ich dem Alten sagen? Ich mußte etwas einfältig lachen, ehe ich ein paar versöhnliche Worte zur Antwort hervorbrachte:

»Schadet nichts, Großvater, wenn es niemals einer wagte, seine Stimme zu erheben, bliebe das, was schlecht ist, immer schlecht …«

Er antwortete hitzig:

»Und Ihr glaubt, daß Ihr mit Euren Gemeinschaften etwas daran ändert? Ihr werdet nur das Elend herbeiführen, das ist alles!«

Mein Vater kam mir zu Hilfe, und ich wußte es ihm zu danken:

»Aber, Marcel, laß uns doch mal in deinen Garten hineinsehen, danach wird es dann auch Zeit werden, daß ich geh …«

Ein Gang durch den Garten, ein Gang durch den Stall, und die Eltern verzogen sich ohne neue Zwischenfälle. Die Luft war jetzt im Begriff sich aufzufrischen, der Abend war nah daran hereinzubrechen.


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