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Mit jedem Tage fand Ilja an dem Ehepaar Awtonomow größeren Gefallen. Er hatte von Polizeibeamten schon viel Schlimmes gesehen, Kirik jedoch erschien ihm wie ein einfacher Arbeitsmensch, dabei gutmütig und beschränkt. Er war der Körper, seine Frau – die Seele. Er war selten zu Hause und hatte daheim nicht viel zu sagen. Tatjana Wlaßjewna benahm sich Ilja gegenüber immer formloser, sie bat ihn, ihr Holz zu hacken, Wasser zu holen, den Spüleimer auszugießen. Er erfüllte diensteifrig ihre Bitten, und ohne daß er es merkte, wurden diese kleinen Verrichtungen für ihn zur täglichen Pflicht. Da entließ die Wirtin das pockennarbige Mädchen, das bei ihr aufwartete, und ließ sie nur noch am Sonnabend kommen . . .
Zuweilen kamen zu Awtonomows auch Gäste. Öfters erschien der Assistent des Stadtteilaufsehers Korßakow, ein hagerer Mensch mit langem Schnurrbart. Er trug eine dunkle Brille, rauchte dicke Zigaretten, konnte die Droschkenkutscher nicht leiden und sprach stets von ihnen in großer Erregtheit.
»Niemand verstößt so oft gegen Ordnung und Anstand wie diese Droschkenkutscher«, räsonierte er. »Ein zu freches Volk! Die Fußgänger kann man im Straßenverkehr stets in Ordnung halten, es bedarf dazu nur einer Bekanntmachung in den Zeitungen von Seiten des Polizeimeisters: ›Wer die Straßen abwärts geht, hat sich rechts, und wer aufwärts geht, hat sich links zu halten‹ – und sofort ist in der Bewegung der Passanten die schönste Disziplin da. Aber diesen Kutschern ist mit gar keiner Bekanntmachung beizukommen. So'n Kutscher – der ist . . . na, weiß der Teufel, was er eigentlich ist! . . .«
Über die Droschkenkutscher konnte er einen ganzen Abend reden, und Lunew hörte ihn nie von etwas anderem sprechen.
Ferner kam zu Awtonomows noch der Inspektor des Kinderasyls, Gryslow, ein schweigsamer Mensch mit einem schwarzen Vollbart. Er liebte es, mit seiner Baßstimme das Lied »Übers Meer, übers blaue Meer« vorzutragen, und seine Gattin, eine stattliche, üppige Frau mit großen Zähnen, aß jedesmal bei Tatjana Wlaßjewna das ganze Konfekt auf, was den Awtonomows Veranlassung gab, nach ihrem Weggehen gehörig über sie herzuziehen.
»Das tut sie mir zum Possen!« meinte Tatjana Wlaßjewna.
Dann erschien auch, in Begleitung ihres Gatten, Alexandra Wiktorowna Trawkina, eine hochgewachsene, schlanke Person mit rotem Haar, die sich oft mit einem seltsamen Laut schneuzte – es klang, als ob ein Stück Shirting zerrissen würde. Ihr Gatte litt an einer Halskrankheit und sprach darum stets flüsternd, doch redete er unaufhörlich, und es kam aus seinem Munde wie das Rascheln trockenen Strohes. Er war ein vermögender Mann, hatte bei der Akziseverwaltung gedient und war im Vorstand irgendeiner wohltätigen Gesellschaft. Beide, er wie seine Gattin, zogen beständig über die Armen her, die sie der Verlogenheit, der Habgier und der Unehrerbietigkeit gegen ihre Wohltäter beschuldigten.
Lunew saß in seinem Zimmer und hörte aufmerksam zu, wie diese Leute über das Leben redeten. Was er hörte, blieb ihm unverständlich. Es schien, als ob diese Leute längst alle Fragen des Lebens entschieden hätten, als ob sie alles wüßten und alle, die anders dachten und lebten als sie selbst, unnachsichtlich verurteilten.
Zuweilen luden die Wirtsleute des Abends ihren Mieter zum Tee ein. Beim Tee scherzte Tatjana Wlaßjewna munter, und ihr Gatte schwärmte davon, wie schön es doch wäre, wenn er mit einemmal reich werden und sich ein Haus kaufen könnte.
»Dann würde ich mir Hühner halten . . .«, sagte er und kniff lüstern die Augen zusammen. »Alle Sorten von Hühnern: Brahmaputra, Cochinchina, Perlhühner, Truthühner . . . Und einen Pfau! Und dann so im Schlafrock am Fenster sitzen, eine Zigarette rauchen und zusehen, wie auf dem Hofe der Pfau – mein eigner Pfau! – sein Rad schlägt – das wär' ein Leben! Wie ein Polizeimeister würde er herumspazieren und in einem fort kollern: Brlju . . . brlju . . . brlju!«
Tatjana Wlaßjewna lächelte und schwelgte, während sie Ilja ansah, auf ihre Weise in zukünftigen Genüssen:
»Und ich würde dann jeden Sommer eine Reise machen, in die Krim oder in den Kaukasus, und im Winter würde ich in den Vorstand irgendeines Wohltätigkeitsvereins eintreten. Dann würde ich mir ein ganz schwarzes Tuchkleid machen lassen, ganz einfach, ohne allen Ausputz, und würde nichts weiter dazu tragen als eine Brosche mit einem Rubin, und Ohrringe mit Perlen. Ich hab' in der ›Niwa‹ ein Gedicht gelesen, darin hieß es, daß das Blut und die Tränen der Armen im Jenseits sich in Perlen und Rubine verwandeln . . .« Und mit einem leisen Seufzer fügte sie hinzu: »Rubine stehen brünetten Damen ausgezeichnet . . .«
Ilja schwieg und lächelte. Im Zimmer war es mollig und sauber, ein angenehmer Teegeruch und noch irgendein anderer angenehmer Duft erfüllten den Raum. In den Käfigen schliefen, zu kleinen Federklümpchen geballt, die Vögel, an den Wänden hingen ein paar grelle Bilder. Ein kleines Wandbrett zwischen den Fenstern war mit allerhand hübschen Büchschen, Hühnchen aus Porzellan und bunten Ostereiern aus Zucker oder Glas bedeckt. Alles das gefiel Ilja und erfüllte ihn mit sanfter, wohliger Wehmut.
Zuweilen jedoch – namentlich wenn er bei seinem Handel nichts verdient hatte – wandelte sich diese Wehmut in eine unruhige Verdrießlichkeit. Die Hühnchen, Büchschen und Eierchen ärgerten ihn dann. Er hätte sie am liebsten auf den Boden werfen und zertreten mögen. Sobald diese Stimmung über ihn kam, schwieg er trotzig, sah immer nach einem Punkt und fürchtete sich zu sprechen, um die lieben Leute nicht durch irgend etwas zu beleidigen. Eines Abends, als er mit seinen Wirtsleuten Karten spielte, fragte er Kirik Awtonomow, während er ihm trotzig ins Gesicht sah:
»Sagen Sie, Kirik Nikodimowitsch – den Mörder, der den Kaufmann in der Dworjanskaja erwürgt hat – den haben sie noch nicht gefaßt? . . .«
Als er die Frage heraus hatte, fühlte er in der Brust ein angenehmes, prickelndes Kitzeln.
»Den Kaufmann Poluektow?« sprach der Revieraufseher nachdenklich, während er in seine Karten sah. »Den Poluektow? Wa–wa–wa! Nein, den Poluektow haben sie noch nicht gefaßt. Wa–wa–wa . . . Das heißt natürlich nicht den Poluektow, sondern den, der ihn . . . Ich hab' ihn ja gar nicht gesucht . . . ich brauch' ihn überhaupt gar nicht . . . ich brauch' nur zu wissen: wer hat die Pikdame? Pikpikpik! Du hast die Drei gegen mich ausgespielt, Tanja – Treffdame, Karodame, und was noch?«
»Die Karosieben . . . mach' doch schneller! . . .«
»Er ist also einfach verschwunden?« fragte Ilja mit höhnischem Lachen.
Doch der Revieraufseher achtete nicht weiter auf ihn, er war ganz in den Gang des Spiels vertieft.
»Einfach verschwunden«, wiederholte er mechanisch. »Und dem armen Poluektow hat er den Hals umgedreht – wa–wa–wa . . .«
»Kirja, laß doch dein Wa–wa–wa«, sagte seine Frau. »Mach' rascher! . . .«
»Ein geschickter Kerl muß es sein, der ihn ermordet hat«, setzte Ilja ihm von neuem zu. Die Gleichgültigkeit, mit der Kirik seine Worte aufnahm, reizte ihn nur noch mehr dazu an, von dem Morde zu sprechen.
»Ein geschickter Kerl?« sprach der Revieraufseher gedehnt. »Nein – ein geschickter Kerl bin ich! Schwapp!«
Und mit den Karten laut auf den Tisch aufschlagend, spielte er eine Fünf aus. Ilja verlor die Partie. Die beiden Ehegatten lachten über ihn, was seinen Trotz nur noch steigerte.
»Am hellen Tage, in der Hauptstraße der Stadt einen Menschen zu ermorden – dazu muß man wirklich Kühnheit besitzen«, sagte er, während er die Karten gab.
»Glück war's, nicht Kühnheit«, belehrte ihn Tatjana Wlaßjewna.
Ilja sah zuerst sie und dann ihren Gatten an, lachte leise und fragte:
»Jemand totschlagen – das nennen Sie Glück haben?«
»Totschlagen und nicht ins Loch kommen . . .«
»Wieder haben sie mir den Karodaus aufgebrummt«, rief der Revieraufseher.
»Den könnt' ich jetzt gerade brauchen«, sagte Ilja ernst.
»Schlagen Sie einen reichen Geldprotzen tot – das ist der beste Daus«, scherzte Tatjana Wlaßjewna.
»Wart' noch mit dem Totschlagen – hier ist vorläufig ein Kartendaus«, rief Kirik laut lachend und warf zwei Neunen und ein Aß zu.
Lunew musterte wiederum ihre fröhlichen Gesichter, und er verlor die Lust, noch weiter über den Mord zu reden.
Seite an Seite mit diesen Leuten lebend, nur durch eine dünne Wand von ihrem behaglichen, ruhigen Leben getrennt, hatte Ilja immer häufiger Anfälle eines schmerzlichen Mißbehagens. Von neuem tauchten in ihm Gedanken über die Kontraste des Lebens auf, und über Gott, der alles weiß und nicht straft, sondern geduldig wartet . . . Worauf mag Er warten?
Aus Langerweile begann Lunew wieder zu lesen. Seine Wirtin hatte ein paar Bände der »Niwa« und der »Illustrierten Rundschau« und noch einige andere zerlesene Bände.
Ganz wie in seiner Kindheit gefielen ihm auch jetzt nur solche Erzählungen und Romane, in denen ein ihm unbekanntes Leben geschildert war, wie er es selbst nicht führte. Erzählungen aus der Wirklichkeit, aus den Kreisen des einfachen Volkes fand er langweilig und voll falscher Darstellungen. Manchmal belustigten sie ihn, noch häufiger jedoch schien es ihm, als seien sie von schlauen Leuten geschrieben, die dieses düstre, trostlose Leben absichtlich mit hellen Farben malten. Er kannte dieses Leben und lernte es immer genauer kennen. Wenn er durch die Straßen ging, sah er jeden Tag irgend etwas, das ihn zu kritischen Betrachtungen stimmte. So beobachtete er einst, als er auf dem Wege nach dem Krankenhause zu seinen Freunden war, eine Szene, die er sogleich Pawel erzählte:
»Schöne Zustände! Da sah ich vorhin, wie ein paar Zimmerleute und Stukkateure auf dem Trottoir gingen. Plötzlich erscheint ein Polizist: ›Heda, ihr Teufelskerle!‹ schreit er und jagt sie vom Trottoir herunter. ›Geht dort, wo die Pferde gehen, sonst macht ihr mit euren schmutzigen Kitteln den besseren Leuten Flecke in die Kleider! . . .‹ Bau' mir ein Haus – dich aber werf ich 'raus! . . .«
Pawel war gleichfalls voll Empörung und schürte noch den Brand. Er fühlte sich beengt in dem Krankenhause, wie in einem Gefängnis, seine Augen glühten in Schwermut und grimmem Trotz, und er wurde mager und elend. Jakow Filimonow gefiel Pawel nicht, er hielt ihn für einen halben Narren.
Jakow aber, bei dem sich Anzeichen der Schwindsucht eingestellt hatten, verlebte im Krankenhause glückliche Tage. Er hatte sich mit seinem Bettnachbar befreundet, einem Kirchenwächter, dem vor kurzem das Bein amputiert worden war. Es war ein dicker Mann von kleinem Wuchse, mit einem großen, kahlen Kopf und einem schwarzen Vollbart, der ihm die ganze Brust bedeckte. Seine Augenbrauen waren voll und buschig, wie ein Schnurrbart, und er bewegte sie ständig auf und nieder; seine Stimme klang hohl, wie wenn sie aus dem Bauche käme. Jedesmal, wenn Lunew im Krankenhause erschien, traf er Jakow auf dem Bett des Wächters sitzend an. Der Wächter lag da und bewegte schweigend seine Brauen, Jakow aber las ihm halblaut aus der Bibel vor, die ebenso kurz und dick war wie der Wächter.
»Des Nachts kommt Verstörung über Ar in Moab,« las Jakow, »sie ist dahin. Des Nachts kommt Verstörung über Kir und Moab; sie ist dahin!«
Jakows Stimme klang schwach und knarrend, wie das Geräusch einer Säge, die in Holz einschneidet. Wenn er las, hob er die linke Hand empor, als wollte er die Kranken des Saales herbeirufen, damit sie die unheilvollen Prophezeiungen des Jesaias anhörten. Die großen, grüblerischen Augen gaben seinem gelben Gesichte einen unheimlichen Ausdruck. Sobald er Ilja sah, warf er jedesmal das Buch hin und richtete an den Freund die besorgte Frage:
»Hast du Maschutka nicht gesehen?«
Ilja hatte sie nicht gesehen.
»O Gott!« sprach Jakow traurig. »Wie seltsam ist das doch . . . ganz wie im Märchen! Sie war da, und plötzlich hat ein Zauberer sie geraubt, und sie ist verschwunden!«
»Hat dein Vater dich besucht?« fragte Ilja.
Ein Zittern ging über Jakows Gesicht, und seine Augen irrten ängstlich hin und her.
»Ja, er war da«, erwiderte er. »›Hast dich lange genug hier herumgewälzt‹, sagte er. ›Laß dich gesund schreiben!‹ Ich hab' aber den Doktor gebeten, daß er mich noch nicht weglassen soll . . . Hier ist es hübsch . . . so still, so gemütlich . . . Da ist Nikita Jegorowitsch – wir lesen zusammen – in der Bibel. Sieben Jahre lang hat er darin gelesen. Alles kennt er auswendig und versteht die Prophezeiungen auszulegen . . . Wenn ich gesund werde, will ich mit Nikita Jegorowitsch zusammen leben, will weggehen vom Vater! Ich werde Nikita Jegorowitsch in der Kirche helfen und auf dem linken Chor singen . . .«
Der Wächter hob langsam seine Brauen empor, unter denen ein Paar runde, dunkle Augen sich träg in den tiefen Höhlen auf und nieder bewegten. Ruhig und glanzlos, mit starrem, mattem Blick schauten sie in Iljas Gesicht.
»Was für ein schönes Buch ist doch die Bibel!« rief Jakow mitten in einem Hustenanfall. »Auch jene Stelle ist drin – erinnerst du dich? – die der Bibelkundige in der Schenke zum Onkel sagte: ›Friedlich sind die Zelte der Räuber . . .‹ Sie ist drin – ich hab' sie gefunden! Noch Ärgeres steht drin!«
Jakow schloß die Augen und sprach mit aufgehobener Hand, in feierlichem Tone:
»Warum leben denn die Gottlosen, werden alt und nehmen zu mit Gütern . . . Gott behält das Unglück für seine Kinder . . . Wer ist der Allmächtige, daß wir ihm dienen sollen? Oder was sind wir's gebessert, daß wir ihn anrufen?«
»Steht das wirklich drin?« fragte Ilja ungläubig.
»Wort für Wort!«
»Nach meiner Meinung ist das sündhaft!« sagte Ilja.
Der Wächter verzog seine buschigen Brauen, daß sie seine Augen bedeckten. Sein Bart bewegte sich hin und her, und er sprach mit dumpfer, seltsamer Stimme:
»Die Kühnheit des Menschen, der die Wahrheit sucht, ist nicht sündhaft, denn sie entspringt aus höherer Eingebung . . .«
Ilja überlief ein Schauer. Der Wächter aber seufzte tief auf und fuhr ebenso langsam und vernehmlich fort:
»Die Wahrheit selbst gibt es dem Menschen ein: suche mich! Denn die Wahrheit – ist Gott . . . und es steht geschrieben: ›Ein großer Ruhm ist es, dem Herrn zu folgen‹ . . .«
Das mit dichtem Haarwuchs bedeckte Gesicht des Wächters flößte Ilja Achtung und Scheu ein: es lag in diesem Gesicht etwas Erhabenes, Strenges. Seine Brauen hoben sich eben wieder empor, er richtete die Augen gegen die Decke, und sein riesiger Bart geriet von neuem in Bewegung.
»Lies ihm doch aus Hiob vor, Jascha . . . den Anfang des zehnten Kapitels . . .« sprach er zu Jakow.
Dieser schlug rasch ein paar Blätter in dem Buche um und las mit leiser, bebender Stimme:
»Meine Seele verdrießet mein Leben; ich will meine Klage bei mir gehen lassen, und reden von Betrübnis meiner Seele, und zu Gott sagen: Verdamme mich nicht; laß mich wissen, warum du mit mir haderst? Gefällt dir's, daß du Gewalt tust und mich verwirfst, den deine Hände gemacht haben?«
Ilja reckte den Hals in die Höhe und sah mit blinzelnden Augen in das Buch.
»Glaubst es wohl nicht?« rief Jakow. »Bist doch ein Sonderling! . . .«
»Nicht ein Sonderling, sondern ein Feigling«, sprach gemessen der Wächter.
Er wandte mit Mühe seinen matten Blick von der Decke nach Iljas Gesicht hin und fuhr streng, als wollte er ihn mit Worten zermalmen, also fort:
»Es gibt Stellen, die noch wuchtiger sind als die vorgelesenen. Vers drei, Kapitel dreiundzwanzig, sagt dir ohne Umschweife: ›Meinest du, daß dem Allmächtigen gefalle, daß du dich so fromm machest? Oder was hilft es ihm, ob du deine Wege gleich ohne Wandel achtest?‹ . . . Man muß fleißig nachdenken, daß man in diesen Dingen nicht irre und sie begreife . . .«
»Und Sie . . . begreifen Sie sie?« fragte Lunew leise.
»Er?« rief Jakow – »Nikita Jegorowitsch? Der begreift alles!«
Aber der Wächter sagte, seine Stimme noch mehr dämpfend:
»Für mich ist's – schon spät . . . Für mich ist's Zeit, den Tod zu begreifen . . . Sie haben mir das Bein abgenommen – aber weiter oben schwillt es wieder . . . Auch das andere schwillt . . . und auch die Brust . . . ich werde bald daran sterben . . .«
Seine Augen starrten unverwandt auf Iljas Gesicht, und ruhig und langsam fuhr er fort:
»Und ich will noch nicht sterben . . . denn ich hab' traurig gelebt, in Kränkungen und Bitternissen, Freuden gab's nicht in meinem Leben. Von klein auf hab' ich, wie Jaschka, unter der Zuchtrute des Vaters gelebt. Er war ein Trunkenbold, ein grausamer Mensch . . . Dreimal hat er mir den Schädel durchgeschlagen, einmal mir die Beine mit heißem Wasser verbrüht. Eine Mutter hatte ich nicht – sie war bei meiner Geburt gestorben. Ich heiratete. Gezwungen wurde ich, ein Weib zu nehmen, das mich nicht liebte . . . Drei Tage nach der Hochzeit hängte sie sich auf . . . Einen Schwager hatte ich – der hat mich bestohlen, und die eigne Schwester sagte mir ins Gesicht, ich hätte mein Weib in die Schlinge getrieben. Und alle sagten es, obschon sie wußten, daß ich sie nicht berührt hatte, daß sie als Mädchen gestorben ist . . . Neun Jahre hab' ich dann noch gelebt, allein und einsam. Schrecklich ist's, so einsam zu leben! . . . Immer hab' ich gewartet, ob die Freuden nicht endlich kommen – und jetzt sterb' ich. Das war mein ganzes Leben . . .«
Er schloß die Augen, schwieg ein Weilchen und fragte dann:
»Wozu hab' ich nun gelebt? . . .«
Ilja hörte seine düstre Rede mit beklommenem Herzen. Auf Jakows Gesicht lag ein dunkler Schatten, und in seinen Augen schimmerten Tränen.
»Wozu hab' ich gelebt? frag' ich . . . Hier lieg' ich nun und denke: wozu hab' ich gelebt?«
Die Stimme des Wächters stockte. Er brach mit einemmal ab – wie wenn ein trüber Bach auf der Erde dahinfließt und sich plötzlich unter die Erde versteckt.
»Wer unter den Lebenden ist, der hat noch Hoffnung, denn ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe«, zitierte der Wächter wieder nach einer Weile. Abermals zogen seine Brauen sich empor, die Augen öffneten sich, und sein Bart geriet in Wallung.
»Ebenda, im Ecclesiastes, heißt es auch: ›Am guten Tage sei guter Dinge, und am bösen Tage denke: dies und das hat Gott getan, daß der Mensch nichts rede gegen ihn‹ . . .«
Weiter konnte Ilja nicht zuhören. Er stand still auf, reichte Jakow die Hand und verneigte sich vor dem Wächter tief – so, wie man von einem Toten Abschied nimmt. Ganz unwillkürlich geschah das von seiner Seite.
Er verließ das Krankenhaus mit einem neuen, seltsam beklemmenden Eindruck. Das düstre Bild dieses Menschen prägte sich tief in sein Gedächtnis ein. Zu all den Unglücklichen, vom Leben Betrogenen, die er kannte, gesellte sich hier eine neue Gestalt. Er hatte sich die Worte des Wächters wohl gemerkt und wälzte sie lange in seinem Kopfe hin und her, um ihren geheimen Sinn zu erraten. Sie verwirrten ihn und wühlten die Tiefen seiner Seele auf, in denen sein Glaube an die Gerechtigkeit Gottes ruhte. Es schien ihm, daß dieser Glaube schon irgendeinmal, ihm selbst unbewußt, einen Stoß erlitten haben mußte, daß er nicht mehr so fest war wie früher: irgend etwas hatte ihn zersetzt, gleich dem Rost, der das Eisen frißt. In seiner Brust lagen Empfindungen miteinander im Streit, die unvereinbar waren wie Feuer und Wasser. Und mit erneuter Kraft brach in ihm die Erbitterung hervor gegen seine eigne Vergangenheit, gegen alle Menschen und alle Ordnungen des Lebens.
. . . Die Awtonomows waren gegen Ilja mit jedem Tage freundlicher und zuvorkommender geworden. Kirik klopfte ihn mit Gönnermiene auf die Schulter, scherzte mit ihm und meinte überlegen:
»Du gibst dich mit Lappalien ab, mein Lieber. Ein so bescheidener, ernster Bursche muß sich auf breiterer Grundlage entwickeln. Wenn jemand das Zeug zum Stadtteilaufseher hat, ziemt es sich nicht, daß er Revieraufseher bleibe . . .«
Tatjana Wlaßjewna begann Ilja sehr angelegentlich und eingehend darüber auszufragen, wie sein Hausierhandel gehe, wieviel er wohl monatlich zurücklege. Er plauderte gern mit ihr, und sein Respekt vor dieser Frau, die es verstand, mit lauter Kleinigkeiten das Leben so nett und behaglich zu gestalten, wuchs mit jedem Tage . . .
Eines Abends, als Ilja übelgelaunt in seinem Zimmer am offenen Fenster saß und in Gedanken an die ungetreue Olympiada in den Garten schaute, begab sich Tatjana Wlaßjewna aus dem Speisezimmer nach der Küche und rief Ilja zum Tee hinüber. Er folgte ihrer Einladung nur mit Widerwillen: er mochte sich von seinen Grübeleien nicht trennen und hatte keine Lust, sich zu unterhalten. Mürrisch und schweigsam setzte er sich an den Teetisch, sah auf seine Wirtsleute und bemerkte, daß sie beide eine ungewöhnlich feierliche, wichtige Miene aufgesetzt hatten. Lustig brodelte der Samowar; ein Vogel, der in seinem Käfig erwacht war, schlug mit den Flügelchen, und es duftete nach gebratenen Zwiebeln und Eau de Cologne. Kirik drehte sich auf seinem Stuhle um, trommelte mit den Fingern auf dem Rande des Teebretts und sang:
»Bum, bum, tru–tu–tu, tru–tu–tu! . . .«
»Ilja Jakowlewitsch,« begann seine Gattin in eindringlichem Tone, »wir haben uns da . . . eine Sache zurechtgelegt, ich und mein Mann . . . und möchten im Ernst mit Ihnen reden . . .«
»Ho ho ho!« lachte der Revieraufseher und rieb sich die großen roten Hände. Ilja erschrak und sah ihn ganz verblüfft an.
»Wir haben uns zurechtgelegt!« rief Kirik mit einem breiten Lachen, während er Ilja ansah und nach seiner Gattin hinüberblinzelte. »Ein geniales Köpfchen!«
»Wir haben etwas Geld gespart, Ilja Jakowlewitsch . . .«
»Wir haben gespart! Hoho! Mein liebes, schlaues Weibchen! . . .«
»Hör' doch auf!« sprach Tatjana Wlaßjewna streng, und ihr Gesicht erschien noch magerer und spitzer als sonst.
»Wir haben gegen tausend Rubel gespart«, fuhr sie halblaut fort, während sie sich zu Ilja hinüberneigte und ihre scharfen, kleinen Augen sich in seinen Augen festsaugten. »Das Geld liegt auf der Bank und gibt uns vier Prozent . . .«
»Und das ist uns zu wenig!« schrie Kirik und schlug mit der Hand auf den Tisch auf. »Wir wollen . . .«
Seine Frau zwang ihn mit einem strafenden Blick zum Schweigen.
»Wir sind natürlich mit diesem Prozentsatz ganz zufrieden – aber wir würden Ihnen behilflich sein, falls Sie etwas Größeres anfangen wollten . . .«
Sie machte Ilja ein paar Komplimente und fuhr dann fort:
»Sie sagten, daß ein Galanteriewarenladen zwanzig Prozent und mehr abwerfen kann, wenn man's richtig anfängt. Nun, wir sind bereit, Ihnen unser Geld gegen einen Wechsel zu geben – auf Sicht natürlich, nicht anders – damit Sie einen Laden aufmachen können. Sie werden das Geschäft unter meiner Kontrolle führen, und den Profit teilen wir zur Hälfte. Die Ware versichern Sie auf meinen Namen, außerdem geben Sie mir noch ein Papierchen . . . ein nichtssagendes Papierchen, nur der Form wegen . . . Überlegen Sie sich die Sache und sagen Sie: ja oder nein?«
Ilja hörte ihre feine, trockene Stimme und rieb sich heftig die Stirn. Mehrmals hatte er, während sie sprach, in den Winkel geschaut, in dem der goldene Beschlag des Heiligenbildes zwischen den beiden Hochzeitskerzen blinkte. Ihr Vorschlag verwirklichte seinen alten Glückstraum und erfüllte sein Herz mit Freude. Zerstreut lächelnd blickte er auf die kleine Frau und dachte:
»Da ist es – mein Schicksal . . .«
Sie aber sprach zu ihm im Tone einer Mutter:
»Überlegen Sie es ganz genau, betrachten Sie die Angelegenheit von allen Seiten! Ob Sie sich's zutrauen, ob Sie Kraft genug, Erfahrung genug dafür besitzen? Und dann sagen Sie uns, was Sie außer Ihrer Arbeitskraft noch einlegen können. Unser Geld reicht nicht weit hin . . . nicht wahr?«
»Ich kann . . .« sagte Ilja bedächtig, »tausend Rubel einschießen. Mein Onkel wird sie mir geben . . . Vielleicht auch noch mehr . . .«
»Hurra!« rief Kirik Awtonomow.
»Sie sind also einverstanden?« fragte Tatjana Wlaßjewna.
»Na, ich sollt's meinen!« schrie der Revieraufseher. Und dann steckte er die Hand in die Tasche und rief ganz aufgeräumt und laut: »Jetzt trinken wir Champagner! Champagner, hol' der Teufel meine Seele! Lauf in die Weinhandlung, mein Lieber, hol' eine Flasche! . . . Hier ist Geld – du bist natürlich unser Gast. Verlange Don-Champagner, zu neunzig Kopeken, und sag', daß er für mich, für Awtonomow sei – dann bekommst du ihn für fünfundsechzig Kopeken . . . Mach' rasch, alter Freund!«
Ilja sah lächelnd auf die strahlenden Gesichter des Ehepaares und ging.
Da hatte nun das Schicksal ihn gedrängt und gestoßen, ihn zu schwerer Sünde verführt, seine Seele verwirrt – und jetzt schien es ihn gleichsam um Verzeihung zu bitten, schien ihm zuzulächeln und ihm seine Gunst zuzuwenden . . . Jetzt lag der Weg vor ihm offen zu einem behaglichen Winkel im Leben, in dem er ruhig für sich existieren und seiner Seele den Frieden schaffen wird. Die Gedanken kreisten in Iljas Kopfe im fröhlichen Reigen und flößten seinem Herzen ein ihm bis dahin unbekanntes Selbstvertrauen ein.
Er brachte aus der Weinhandlung eine Flasche echten Champagners, für die er sieben Rubel bezahlt hatte.
»Oho–o!« rief Awtonomow. »Das nenn' ich schick, mein Lieber! Das ist 'ne Idee, ja–a!«
Tatjana Wlaßjewna war anderer Meinung – sie schüttelte mißbilligend den Kopf und sagte, die Flasche betrachtend, in vorwurfsvollem Tone:
»Sieben Rubel?! Ei, wie unpraktisch!«
Lunew stand vor ihr, so gerührt und glücklich, und lächelte.
»Es ist echter!« rief er voll Freude. »Zum erstenmal im Leben will ich vom Echten kosten! Wie war denn mein bisheriges Leben? Ganz verfälscht . . . Schmutz, Roheit, Enge . . . Kränkungen jeder Art . . . Kann ein Mensch denn immer so leben?«
Er hatte die wunde Stelle in seiner Seele berührt und fuhr fort:
»Von klein auf hab' ich das Echte gesucht, und hab' dabei gelebt wie ein Holzspan im Bache – bald dahin, bald dorthin ward ich geworfen, und alles rings um mich war trüb, schmutzig und unruhig. Nirgends fand ich einen Halt. Da hat mich das Schicksal zu Ihnen verschlagen. Zum erstenmal im Leben seh' ich, wie Menschen ruhig, behaglich, in Liebe dahinleben . . .«
Er sah sie mit verklärtem Gesichte an und verneigte sich vor ihnen.
»Ich dank' Ihnen! Bei Ihnen hab' ich Erleichterung gefunden für meine Seele . . . bei Gott! Sie haben mir geholfen für mein ganzes Leben. Jetzt will ich mutig weiterschreiten! Jetzt weiß ich, wie man leben soll!«
Tatjana Wlaßjewna sah ihn an mit dem Blick der Katze, die dem von seinem eignen Gesang entzückten Vogel auflauert. In ihren Augen blitzte ein grünliches Feuer, ihre Lippen zuckten. Kirik machte sich mit der Flasche zu schaffen, nahm sie zwischen die Beine und beugte sich über sie. Seine Halsadern schwollen an, die Ohren bewegten sich . . .
Der Pfropfen knallte, fuhr gegen die Decke und fiel auf den Tisch. Ein Glas, auf das er fiel, erklirrte zitternd.
Kirik schnalzte mit den Lippen, schenkte den Wein in die Gläser und kommandierte:
»Angefaßt! –«
Und als seine Gattin und Lunew die Gläser ergriffen hatten, hielt er das seinige hoch über seinen Kopf empor und rief:
»Auf das Blühen und Gedeihen der Firma ›Tatjana Awtonomowa und Lunew‹ – hurra!«