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Ein paar Tage darauf traf Ilja mit Paschka Gratschew zusammen. Es war Abend, in der Luft tanzten träg kleine Schneeflocken, die im Licht der Laternen schimmerten. Trotz der Kälte war Pawel nur mit einem Baumwollhemd ohne Gürtel bekleidet. Er schritt langsam dahin, den Kopf auf die Brust gesenkt, die Arme in den Taschen, den Rücken gekrümmt, als ob er etwas auf seinem Wege suchte. Als Ilja den alten Kameraden eingeholt hatte und ihn anredete, hob Paschka den Kopf auf, sah Ilja ins Gesicht und sagte gleichgültig:
»Ah!«
»Wie geht es dir?« fragte Ilja, neben ihm hergehend.
»Es könnte noch schlechter gehen, wenn's überhaupt möglich wäre . . . Und wie geht es dir?«
»Es macht sich . . .«
»Auch nicht besonders, wie es scheint . . .«
Sie schritten schweigend nebeneinander her, so daß ihre Ellenbogen sich berührten.
»Warum kommst du nicht zu uns?« fragte Ilja.
»Hab' nie recht Gelegenheit, Bruder . . . Weißt doch, daß man unsereinem nicht viel Zeit läßt . . .«
»Könntest schon kommen, wenn du wolltest!« sagte Ilja vorwurfsvoll.
»Sei doch nicht gleich böse . . . Sagst immer, ich soll kommen – und dabei hast du noch nie gefragt, wo ich hause, und noch weniger denkst du dran, mich zu besuchen . . .«
»Wirklich, du hast recht«, rief Ilja lächelnd.
Pawel sah ihn an, lächelte gleichfalls und begann nun lebhafter als vorher:
»Ich lebe für mich, hab' keine Freunde – finde keine, die mir passen. Krank war ich, habe fast drei Monate im Hospital gelegen – kein Mensch ist in der ganzen Zeit gekommen, mich zu besuchen . . .«
»Was hat dir denn gefehlt?«
»Erkältet hatte ich mich, wie ich mal betrunken war . . . Unterleibstyphus war's . . . Als es dann besser wurde, hatt' ich erst meine Qual! Ganz allein lag ich den ganzen Tag und die ganze Nacht . . . stumm und blind glaubt man zu sein . . . wie 'n junger Hund kommt man sich vor, den sie in die Grube geworfen haben. Dank dem Doktor hab' ich wenigstens Bücher gehabt . . . sonst wär' ich verreckt vor Langerweile . . .«
»Waren es schöne Bücher?« fragte Lunew.
»Ja–a, sehr schön waren sie! Gedichte hab' ich meistens gelesen – Lermontow, Nekrassow, Puschkin . . . Manchmal, wenn ich las, war es mir, als ob ich Milch tränke. Verse gibt's dir, Bruder – wenn du sie liest, ist's, wie wenn die Geliebte dich küßt. Manchmal fährt dir ein Vers übers Herz, daß die Funken sprühen: ganz in Feuer gerätst du . . .«
»Und ich habe das Bücherlesen aufgegeben«, sprach Ilja mit einem Seufzer. »Was steht schließlich in den Büchern? Liest du im Buche, so scheinen dir die Dinge so, und siehst du sie in Wirklichkeit, so sind sie ganz anders.«
»Da hast du recht . . . Wollen wir irgendwo einkehren? Können da weiterplaudern . . . Ich hab' noch einen Gang, aber es hat Zeit . . . vielleicht kannst du auch dahin mitkommen . . .«
Ilja war mit Paschkas Vorschlag einverstanden und nahm freundschaftlich seinen Arm. Pawel sah ihm noch einmal ins Gesicht und sagte lächelnd:
»Wir waren eigentlich nie recht befreundet, aber ich freu' mich immer, wenn ich dich treffe.«
»Das ist deine Sache«, meinte Ilja . . . »Ich seh' dich jedenfalls immer gern . . .«
»Ach, Bruder,« sagte Pawel, »ich hatte eben was ganz Besonderes im Sinn, wie du mich einholtest. Aber lassen wir das . . .«
Sie gingen in die erste beste Schenke, die sie trafen, setzten sich dort in einen Winkel und bestellten Bier. Beim Licht der Lampe sah Ilja, daß Pawels Gesicht mager und eingefallen war. Seine Augen hatten etwas Unruhiges, und die Lippen, die früher in munterer Spottsucht halb offen gestanden hatten, waren jetzt fest geschlossen.
»Wo arbeitest du denn?« fragte Ilja.
»Wieder in einer Buchdruckerei«, sagte Pawel mißmutig.
»Ist's schwer da?«
»Das nicht . . . mehr Spielerei als Arbeit . . .«
IIja fühlte eine unbestimmte Genugtuung, als er den sonst so munteren, kecken Paschka traurig und sorgenvoll sah. Er hätte gern erfahren, was Pawel so verändert hatte, und während er Paschkas Glas füllte, begann er ihn auszufragen:
»Und wie steht es mit dem Versemachen?«
»Das hab' ich jetzt sein lassen . . . Aber früher hab' ich viel Gedichte gemacht. Ich hab' sie dem Doktor gezeigt – der hat sie gelobt. Eins hat er sogar in einer Zeitung abdrucken lassen . . .«
»Oho!« rief Ilja aus. »Was waren denn das für Verse? Sag' sie doch mal her!«
Iljas brennende Neugier und ein paar Gläser Bier brachten Gratschew in Stimmung, seine Augen blitzten, und die gelben Wangen röteten sich.
»Was soll ich dir aufsagen?« sagte er, sich mit der Hand die Stirn reibend. »Ich hab' alles vergessen, bei Gott, ich hab's vergessen! Wart', vielleicht fällt es mir wieder ein . . . Ich hab' immer so viel von dem Zeug im Schädel – wie Bienen schwärmen sie darin herum . . . summen nur so! Manchmal, wenn ich anfange zu dichten, gerat' ich ganz in Hitze . . . Es kocht förmlich in der Seele, und die Tränen kommen dir in die Augen . . . Du willst es recht geschickt ausdrücken und findest keine Worte . . .« Er seufzte, schüttelte den Kopf und fuhr fort:
»Eh' dir's entschlüpfte, schien's gar wichtig, und schreibst du's nieder, ist's so nichtig . . .«
»Sag' doch ein paar von deinen Versen her«, bat ihn Ilja.
Je genauer er Pawel anschaute, desto mehr wuchs seine Neugier, und nach und nach gesellte sich zu dieser Neugier ein anderes, gutes, warmes und zugleich wehmütiges Gefühl.
»Ich mache meistens solche lächerlichen Verse . . . auf mein eignes Leben«, sagte Gratschew und lächelte befangen. Dann schaute er sich um, hustete und begann mit gedämpfter Stimme zu sprechen, ohne dabei den Freund anzusehen:
»Nacht ist's . . . und so traurig! Durchs Fenster herein
Wirft der Mond mir ins Kämmerchen seinen Schein,
Er lächelt und winket gar freundlich mir,
Und bläuliche Muster malt er als Zier
An die steinerne Wand, so feucht und so kalt,
Auf die Tapeten, zerrissen und alt.
Ich sitze in finstrer Gedanken Bann –
Und den Schlaf ich nimmermehr finden kann . . .«
Pawel machte eine Pause, seufzte tief auf und fuhr dann langsamer und leiser fort:
»So grausam tat mich das Schicksal packen,
Zerfleischt' mir das Herz, schlug mich rauh in den Nacken,
Entriß mir mein Letztes – mein trautes Lieb,
Und zum Troste mir nur die Flasche verblieb . . .
Da steht sie, mit Branntwein gefüllt, und blinkt
Im Mondenscheine und lächelt und winkt . . .
Und ich heile mit Branntwein mein Herz so krank,
Meinen Sinn umnebelt der Feuertrank –
Die Gedanken fliehn, es naht mir der Schlummer . . .
Vielleicht noch ein Gläschen . . . für den Kummer? . . .
Und ich trinke noch eins . . . Wer schläft, kann's entbehren –
Ich muß mich des Kummers erwehren . . .«
Als Gratschew seinen Vortrag beendet hatte, blickte er forschend auf Ilja, ließ dann seinen Kopf noch tiefer sinken und sagte leise:
»Von dieser Art, siehst du, sind sie meistens, meine Verse . . .«
Er trommelte mit den Fingern auf dem Tischrand und rückte unruhig auf dem Stuhle hin und her.
Ein paar Sekunden sah Ilja mit durchdringendem Blick auf Gratschew, und sein Gesicht zeigte den Ausdruck ungläubigen Staunens. In seinen Ohren tönten noch die glattgereimten Worte – es schien ihm kaum glaubhaft, daß dieser magere Knabe mit den unruhigen Augen, in dem alten Baumwollhemd und den schweren Stiefeln, diese Verse gedichtet haben sollte.
»Na, Bruder, lächerlich ist das gerade nicht«, sagte er langsam und nachdenklich, während er Pawel immer noch ansah. »Im Gegenteil, schön ist's . . . am Herzen hat es mich gepackt . . . wirklich! Sag's doch noch einmal her . . .«
Pawel warf rasch den Kopf in die Höhe, sah mit freudigem Blick auf seinen Zuhörer, und während er näher an ihn heranrückte, fragte er ganz leise:
»Nein, wirklich – gefällt es dir?«
»Wie sonderbar du bist . . . ich werde doch nicht lügen!«
Pawel deklamierte leise, in melancholischem Tonfall, stockte öfters und seufzte tief, wenn die Stimme ihm versagte. Als er zu Ende war, hatten Iljas Zweifel, daß Pawel selbst der Dichter der Verse sei, sich noch mehr verstärkt.«
»Und die andern?« sagte er zu Pawel.
»Ach, weißt du –« meinte dieser, »ich will lieber mal mit meinem Heft zu dir kommen . . . Denn die meisten meiner Gedichte sind lang . . . und ich habe jetzt keine Zeit! Ich merk' sie mir auch nicht gut, die Anfänge und Enden verwirren sich mir immer auf der Zunge . . . Eins zum Beispiel endet so: ich geh' durch den Wald, zur Nachtzeit, und hab' mich verirrt und bin müde . . . Na, und mir wird so bang ums Herz . . . ich bin allein . . . und nun such' ich einen Ausweg aus meiner Not und klage:
So matt die Füße,
Das Herz so müde,
Keinen Weg ich seh'!
O Mutter Erde,
Willst du mir raten,
Wohin ich geh'?
Ich leg' mich nieder
An deinen Busen
Und horch' und späh' –
Und aus der Tiefe
Ertönt ein Flüstern:
›Hier birg dein Weh! . . .‹
Hör' mal, Ilja – willst du nicht mit mir kommen? Komm! Ich möcht' noch nicht von dir Abschied nehmen . . .«
Gratschew erhob sich hastig, zupfte Ilja am Ärmel und sah ihm freundlich ins Gesicht.
»Gut, ich geh' mit«, sagte Ilja. »Möcht' gleichfalls noch mit dir plaudern . . . Die Wahrheit zu sagen: ich weiß noch nicht, ob ich's dir glauben soll, daß du die Verse gemacht hast . . .«
»Du glaubst es mir nicht?«
»Wenn's deine Verse sind – dann bist du ein ganzer Kerl!« rief Ilja in aufrichtiger Bewunderung.
»Laß gut sein, Bruder – wenn ich's erst richtig gelernt hab' – dann will ich schon schreiben! Die sollen's zu hören bekommen! . . .«
»Recht so! Nimm sie dir ordentlich vor!«
Sie schritten rasch auf der Straße dahin und fingen begierig die hastig hingeworfenen, leidenschaftlichen Worte auf, die sie sich gegenseitig zuwarfen. Immer erregter wurden sie, immer näher traten sie einander. Jeder von ihnen empfand eine tiefe, ehrliche Freude darüber, daß der andere ebenso dachte wie er selbst, und diese Freude hob noch ihre Stimmung. Der Schnee, der in großen Flocken fiel, zerschmolz auf ihren glühenden Gesichtern, setzte sich auf ihren Kleidern fest, hing sich an ihre Stiefel – sie schritten dahin wie in einem trüben Brei, der sich geräuschlos zur Erde senkte.
»Zum Teufel auch!« schalt Ilja, der in eine tiefe Schmutzlache getreten war.
»Halt dich mehr links . . .«
»Wohin gehen wir denn eigentlich?«
»Zur Ssidoricha . . . Kennst du sie nicht?«
»Doch, ich kenne sie«, sagte Ilja nach kurzem Schweigen und lachte dabei. »Kurz ist der Weg nicht, den wir gehen . . .«
»Ach,« sagte Pawel leise – »ich muß eben hin . . . hab' da zu tun . . . Ich will's dir übrigens erzählen . . . wenn es mir auch bitter ist, davon zu reden . . . Es handelt sich um ein Mädchen. Na, du wirst sie ja sehen . . . Das Herz kann sie einem versengen! . . . Sie war Stubenmädchen bei dem Arzte, der mich kuriert hat. Ich holte mir Bücher bei ihm . . . Damals, wie es schon besser mit mir ging . . . Na, man kam und wartete . . . Und da war sie nun . . . hüpfte umher und lachte. Wir wurden einig . . . sehr rasch ging's, ohne viele Worte. Ach, war das ein Glück . . . als wenn der Himmel zu uns herabgekommen wäre . . . Wie die Feder ins Feuer – so flog ich auf sie zu . . . Wir küßten uns, daß die Lippen uns wund waren – ach! So sauber und niedlich war sie wie ein Spielzeug. Schloß ich sie in die Arme, so war's, als ob sie verschwände! Wie ein Vögelchen war sie mir ins Herz geflogen und sang und sang dort . . .«
Er schwieg, und ein seltsamer Laut, wie ein Schluchzen, kam aus seinem Munde.
»Und weiter was?« fragte Ilja, von seiner Erzählung hingerissen.
»Die Frau des Doktors überraschte uns . . . Hol' sie der Teufel! War auch ein hübsches Weibsbild, und hatte früher so freundlich mit mir gesprochen . . . Na, es gab natürlich einen Mordsspektakel. Wjerka wurde hinausgeworfen, und ausgeschimpft haben sie uns beide ganz gehörig. Wjerka blieb bei mir . . . Ich hatte gerade keine Stelle, und wir litten Hunger, verkauften alles bis zum letzten Faden . . . Aber Wjerka ist ein Mädel von Charakter . . . Sie lief fort, blieb vierzehn Tage lang weg und kam dann wieder . . . geputzt wie 'ne Modedame . . . hatte Armbänder . . . und Geld in der Tasche . . .«
Paschka knirschte mit den Zähnen und sagte düster:
»Ich hab' sie durchgeprügelt, ganz gehörig . . .«
»Ist sie dir weggelaufen!« fragte Ilja.
»N–nein! . . . Wäre sie von mir gegangen, ich hätt' mich ins Wasser gestürzt . . . Schlag mich meinetwegen tot, sagte sie – aber prügle mich nicht! Ich weiß, daß ich dir zur Last bin . . . Meine Seele, sagt sie, soll keiner haben . . .«
»Und was tatest du nun?«
»Was ich tat? Ich schlug sie noch einmal . . . und weinte. Was hätt' ich sonst tun sollen? Ernähren konnt' ich sie doch nicht . . .«
»Warum nahm sie denn keine neue Stelle an?«
»Der Teufel mag es wissen! Sie meinte – es wär' so besser. Wenn Kinder kämen – was sollten wir mit ihnen anfangen? . . . Und so . . .«
Ilja Lunew sann eine Weile nach und sagte: »Ein verständiges Mädchen . . .«
Paschka ging schweigend ein paar Schritte voraus. Dann wandte er sich jäh um, blieb vor Ilja stehen und sprach mit dumpfer, zischender Stimme:
»Wenn ich so dran denke, daß andere sie küssen, dann ist es mir, als ob heißes Blei durch meine Glieder strömte . . .«
»Warum läßt du sie nicht laufen?«
»Sie laufen lassen?« rief Pawel höchst erstaunt.
Ilja begriff, als er das Mädchen gesehen hatte, Pawels Erstaunen.
Sie kamen an die Peripherie der Stadt, zu einem einstöckigen Hause. Seine sechs Fenster waren mit dichten Laden fest verschlossen, das gab dem Hause das Aussehen eines langgestreckten, alten Speichers. Der feuchte, weiche Schnee klebte an Dach und Wänden, wie wenn er dieses Haus verbergen wollte.
Paschka klopfte ans Tor und sagte:
»Hier haben sie ihre besondere Einrichtung. Die Ssidoricha gibt ihren Mädchen Quartier und Kost und nimmt dafür fünfzig Rubel von jeder . . . Sie hat im ganzen nur vier Mädchen . . . Natürlich hält sie auch Wein und Bier feil, und Konfekt . . . Im übrigen läßt sie ihre Mädchen machen, was sie wollen: willst du – so geh aus, und willst du nicht . . . so bleib zu Hause, nur zahl' dein halbes Hundert monatlich . . . Es sind alles prächtige Mädchen . . . sie verdienen ihr Geld mit Leichtigkeit . . . Eine darunter, Olympiada, nimmt nie weniger als vier Rubel . . .«
»Und wieviel nimmt denn . . . deine?« fragte Ilja, während er den Schnee von seinen Kleidern abklopfte.
»Ich weiß es nicht . . . billig ist sie auch nicht«, antwortete Gratschew nach einer Weile unwirsch.
Hinter der Tür ließ sich ein Geräusch vernehmen. Ein goldiger Lichtstreifen erzitterte in der Luft.
»Wer ist da?«
»Ich bin's, Wassa Ssidorowna . . . Gratschew . . .«
»Ach so! . . .«
Die Tür ging auf, und eine kleine, dürre Alte mit einer mächtigen Nase in dem welken Gesichte hielt Pawel die Kerze vor das Gesicht, während sie freundlich sagte:
»Guten Tag, Pascha! . . . Wjerunka wartet schon lange und ist ganz böse. Wer ist denn da mit dir gekommen?«
»Ein Freund . . .«
»Wer ist gekommen?« tönte aus dem dunklen, langen Korridor eine angenehme Stimme.
»Besuch für Wjera«, sagte die Alte.
»Wjera, dein Schatz ist da«, rief dieselbe, hell durch den Korridor klingende Stimme.
Im Hintergrunde des Korridors öffnete sich rasch eine Tür, und in der hell erleuchteten Öffnung erschien die zierliche Gestalt eines Mädchens, ganz in Weiß gekleidet, von einer reichen Fülle blonder Haarsträhnen umwallt.
»Du bleibst ja so lange!« sprach sie schmollend mit einer tiefen Altstimme. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, legte ihre Arme auf Pawels Schultern und schaute mit ihren sanften braunen Augen auf Ilja.
»Das ist mein Freund Ilja Lunew . . . Ich hab' ihn getroffen und komme darum etwas später . . .« sagte Pawel.
»Seien Sie willkommen!« sagte sie, Ilja die Hand reichend, wobei der weite Ärmel ihres weißen Negligés fast bis zur Schulter zurückfiel. Ilja drückte respektvoll, ohne ein Wort zu sagen, ihr heißes Händchen. Er blickte auf Pawels Freundin mit jenem Gefühl freudiger Überraschung, mit dem man im dichten Walde, mitten im Gestrüpp und Sumpfgehölz, eine schlanke Birke begrüßt. Als sie zur Seite trat, um ihn eintreten zu lassen, ging er gleichfalls auf die Seite und sagte höflich:
»Bitte, nach Ihnen!«
»Welch ein Kavalier!« lachte sie.
Ihr Lachen war angenehm, munter und hell. Pawel lachte gleichfalls und meinte:
»Hast ihm schon den Kopf verdreht, Wjerka . . . Sieh doch, wie er dasteht . . . wie der Bär vorm Honigtopf!«
»Ist's wahr?« fragte das Mädchen Ilja schelmisch.
»Gewiß!« antwortete dieser lächelnd. »Ganz weg bin ich von Ihrer Schönheit . . .«
»Du, hör' mal – verlieb dich bloß in sie! Dann stech' ich dich tot«, drohte Pawel scherzend. Es war ihm angenehm, daß die Schönheit seiner Geliebten auf Ilja einen solchen Eindruck machte, und seine Augen blitzten vor Stolz. Auch sie prahlte in naiver Koketterie mit ihren Reizen, von deren Wirkung sie überzeugt war. Sie trug nichts weiter als ein weites Ärmelleibchen über dem Hemd und einen blendend weißen Unterrock. Das Leibchen stand offen und ließ ihren kernigen, schneeweißen Körper sehen. Um die himbeerfarbigen Lippen ihres kleinen Mundes spielte ein selbstzufriedenes Lächeln; sie schien an sich selbst ihre Freude zu haben, wie ein Kind an einem Spielzeug, dessen es noch nicht überdrüssig ist. Ilja konnte die Augen nicht von ihr losreißen. Er sah, wie sie graziös im Zimmer auf und ab schritt, wie sie das Näschen rümpfte, wie sie lachte und plauderte und dabei zärtlich auf Pawel blickte. Und es ward ihm weh ums Herz bei dem Gedanken, daß er nicht gleichfalls eine solche Freundin hatte. Schweigend saß er da und schaute um sich.
Mitten in dem kleinen, nett aufgeräumten Zimmer stand ein weißgedeckter Tisch; auf dem Tische brodelte lustig ein Samowar, und alles ringsum war frisch und heiter. Die Tassen, die Flasche Wein, der Teller mit Wurst und Brot – alles gefiel Ilja ganz ausnehmend und erregte seinen Neid gegen Pawel. Dieser saß ganz glücklich da und begann, aus dem Stegreif zu reimen:
»Seh' ich dich – ist's, als ob Sonnenschein mir strahlte in mein Herz hinein! Vergessen ist aller Gram und Schmerz, und auf das Glück hofft wieder mein Herz . . . Ein schönes Mädchen sein eigen zu nennen – wer mag ein größeres Glück wohl kennen?«
»Mein lieber Paschka, wie schön ist's doch hier!« rief Wjera ganz entzückt.
»Ach, ist's hier heiß! . . . He, du – Ilja! Laß das mal! Kannst dich an ihr nicht sattsehen?! Schaff dir doch selber eine an!«
»Aber hübsch muß sie sein«, sagte Wjera mit ganz besonderer Betonung, während sie Ilja in die Augen sah.
»Eine hübschere, als Sie sind, gibt es nicht«, seufzte Ilja und lächelte.
»Reden Sie doch nicht von Dingen, die Sie nicht verstehen!« sagte Wjera leise.
»Er weiß Bescheid«, warf Paschka ein und fuhr dann, zu Ilja gewandt, stirnrunzelnd fort: »Da ist nun hier alles so nett und vergnügt . . . und dann fällt einem plötzlich das ein! . . . Ins Herz schneidet's einem . . .«
»So denk' doch nicht daran«, sagte Wjera und neigte den Kopf über den Tisch. Ilja schaute sie an und sah, wie ihre Ohren sich röteten.
»Du mußt so denken,« fuhr das Mädchen leise, doch bestimmt fort – »wenn's auch nur ein Tag ist, so gehört er doch mir! Mir ist's auch nicht leicht . . . Ich will's so halten, wie es im Liede heißt: ›Den Schmerz will tragen ich allein, die Freude soll gemeinsam sein‹.«
Pawel hörte ihre Rede, verharrte jedoch in seiner mürrischen Stimmung. Ilja hätte ihnen gern etwas recht Tröstendes, Ermutigendes gesagt und sprach nach einer Weile:
»Was läßt sich tun, wenn man den Knoten nicht auflösen kann? Wenn ich so recht viel Geld hätte, tausend Rubel vielleicht – ich gäbe sie euch. Da habt ihr! Nehmt sie, bitte, um eurer Liebe willen . . . Denn ich seh' und fühle: es ist euch Herzenssache, und die ist immer rein vor dem Gewissen . . . Auf alles übrige könnt ihr spucken.«
Ein heißes Gefühl flammte in ihm auf und durchdrang ihn ganz und gar. Er stand sogar vom Stuhl auf, als er sah, wie das Mädchen den Kopf emporhob und ihn mit dankbaren Augen anschaute, während Pawel ihm zulächelte, als ob er erwartete, daß Ilja noch mehr solche Worte sagen würde.
»Zum erstenmal im Leben seh' ich, wie Leute einander lieben«, fuhr Ilja fort . . . »Und dich, Pawel, hab' ich heut' erst so recht kennengelernt . . . Ich hab' in deine Seele geschaut . . . Hier sitz' ich, und ich sag's offen: ich beneide dich . . . Und was . . . das andere betrifft, so will ich euch was sagen: ich liebe die Tschuwaschen und Mordwinen nicht, sie sind mir zuwider, weil sie triefäugig sind. Aber ich bade doch in demselben Flusse wie sie . . . trinke dasselbe Wasser wie sie. Soll ich ihretwegen den Fluß verabscheuen? Gott reinigt ihn doch wieder . . .«
»Das stimmt, Ilja! Bist ein Prachtkerl!« rief Pawel mit Leidenschaft.
»Trinken Sie denn auch aus dem Flusse! . . .« ließ sich Wjeras Stimme leise vernehmen.
»Wenn ich ihn erst finde!« lachte Ilja. »Vorläufig gießen Sie mir ein Glas Tee ein, Wjera!«
»Sie sind ein prächtiger Junge!« rief das Mädchen.
»Danke recht sehr«, sagte Ilja ernsthaft.
Auf Pawel wirkte diese kleine Szene wie ein Trunk Wein. Sein lebhaftes Gesicht rötete sich, die Augen blitzten begeistert, und er sprang von seinem Stuhl auf, um lustig durchs Zimmer zu rennen.
»Ach, hol' mich der Teufel!« rief er. »Prächtig lebt sich's auf der Welt, wenn die Menschen wie Kinder sind! Hab' meiner Seele eine Freude bereitet, wie ich dich hierher brachte, Ilja! Laß uns trinken, Bruder!«
»Jetzt ist er ganz aus dem Häuschen«, sagte das Mädchen, ihm zärtlich zulächelnd, und wandte sich dann zu Ilja: »So ist er immer – entweder Feuer und Flamme, oder grau, langweilig und boshaft . . .«
Es wurde an die Tür geklopft, und eine Stimme fragte:
»Wjera! Darf man eintreten? . . .«
»Komm, komm! . . . Ilja Jakowlewitsch, das ist meine Freundin Lipa . . .«
Ilja stand vom Stuhl auf und wandte sich nach der Tür um: vor ihm stand ein hohes, stattliches Weib und sah ihm mit seinen ruhigen blauen Augen ins Gesicht. Ihre Kleider strömten einen starken Parfümduft aus, die Wangen waren frisch und rot, und ihr Kopf war mit einem kronenartigen dunklen Haaraufbau geschmückt, der ihre Gestalt noch höher erscheinen ließ.
»Ich sitze allein in meinem Zimmer und langweile mich . . . und mit einemmal hör' ich bei dir Geplauder und Lachen – na, und da bin ich hergekommen . . . Es tut doch nichts, was? Da ist ja ein Kavalier ohne Dame . . . ich will ihn unterhalten – wollt ihr?«
Sie stellte mit einer graziösen Bewegung ihren Stuhl neben denjenigen Iljas, nahm darauf Platz und fragte ihn:
»Sie langweilen sich wohl mit denen da – sagen Sie? Die kosen und girren miteinander, und Sie sind neidisch, nicht wahr?«
»Ich langweile mich nicht mit ihnen«, sprach Ilja, durch ihre Nähe verwirrt.
»Schade!« sagte sie ruhig, wandte sich von Ilja ab und fuhr, zu Wjera gewandt, fort:
»Denk mal – ich war gestern zur Messe im Jungfrauenkloster und hab' da eine so hübsche Chornonne gesehen . . . Ein herrliches Mädchen! . . . Ich mußte sie immer wieder ansehen und dachte im stillen: warum ist die nur ins Kloster gegangen? Wirklich leid tat sie mir . . .«
»Warum? Ich würde sie nicht bedauern«, sagte Wjera.
»Ach – wer dir glauben wollte! . . .«
Ilja atmete den süßlichen Wohlgeruch ein, der wie eine Wolke dieses Weib umschwebte, er betrachtete sie von der Seite und horchte auf ihre Stimme. Sie sprach mit bewundernswerter Ruhe und Gelassenheit. In ihrer Stimme lag etwas Einschläferndes, und es war, als ob ihre Worte gleichfalls einen angenehmen, starken Duft ausstrahlten . . .
»Weißt du, Wjera – ich überlege immer noch, ob ich zu Poluektow gehen soll oder nicht . . .«
»Ich kann dir da nicht raten . . .«
»Vielleicht geh' ich doch . . . Er ist alt . . . und reich . . . Aber geizig ist er . . . Ich will, daß er in der Bank fünftausend Rubel für mich niederlegt, und daß er mir hundertfünfzig Rubel monatlich gibt – und er bietet nur dreitausend und hundert . . .«
»Sprich jetzt nicht davon, Lipotschka!« bat Wjera sie.
»Gut, wie du willst«, sagte Lipa ruhig und wandte sich wieder an Ilja: »Nun, junger Mann, plaudern wir ein bißchen . . . Sie gefallen mir . . . Sie haben ein hübsches Gesicht und ernste Augen . . . Was werden Sie mir darauf antworten?«
»Ich? Nichts werde ich antworten . . .« sagte er verlegen lächelnd, während er deutlich fühlte, wie dieses Weib ihn mit seinem Zauber umstrickte.
»Nichts? Ach, Sie sind langweilig . . . Was sind Sie denn?«
»Hausierer . . .«
»Wi–irklich? Und ich dachte, Sie wären Kommis in einer Bank . . . oder in einem feinen Magazin. Sie sehen sehr anständig aus . . .«
»Ich liebe die Sauberkeit«, sagte Ilja. Es ward ihm bedrückend heiß, und von dem Parfümduft war sein Kopf benommen.
»Sie lieben die Sauberkeit? Das ist nett . . . Können Sie leicht erraten? . . .«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Haben Sie schon erraten, daß Sie Ihrem Freunde hier im Wege sind – oder nicht?« sagte sie, während sie ihn mit ihren blauen Augen durchdringend ansah.
»Ach so . . . na, ich geh' sofort! . . .« sprach Ilja verwirrt.
»Warten Sie doch noch! Wjera, darf ich dir diesen Jüngling hier entführen?«
»Meinetwegen – wenn er mit dir geht . . .« versetzte Wjera lachend.
»Wohin denn?« fragte Ilja in heftiger Erregung.
»So geh doch mit, dummes Kerlchen!« rief Paschka.
Ilja stand ganz verblüfft da und lächelte zerstreut, die Schöne aber nahm ihn bei der Hand, zog ihn mit sich fort und sagte in ihrer ruhigen Weise:
»Sie sind noch ungezähmt – und ich bin launisch und halsstarrig. Wenn ich mir vornehme, die Sonne auszulöschen, dann steig' ich aufs Dach und werde so lange nach ihr blasen, bis ich den letzten Atemzug ausgehaucht habe . . . Jetzt wissen Sie, wie ich bin . . .«
Ilja ging Hand in Hand mit ihr, verstand ihre Worte nicht und hörte sie kaum, er fühlte nur, daß sie so warm, so weich und so duftig war . . .