Maxim Gorki
Drei Menschen
Maxim Gorki

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XIV

Am Abend schickte Olympiada ihre Aufwärterin mit einem Briefe zu Ilja.

»Komm um neun Uhr an die Ecke der Kusnezkajastraße, nach den Badehäusern«, schrieb sie.

Als Ilja diese Worte las, fühlte er, daß sein Inneres sich krampfhaft zusammenzog und wie im Frost erzitterte. Er sah wieder den geringschätzigen Ausdruck im Gesicht seiner Geliebten, und in seinen Ohren klangen die schroffen, verletzenden Worte:

»Konntest du nicht zu einer anderen Zeit kommen?«

Er betrachtete den Brief und dachte nach, weshalb ihm wohl Olympiada dieses Stelldichein gab. Er fürchtete sich, den Grund zu erraten, und sein Herz begann wieder ängstlich zu schlagen. Um neun Uhr war er pünktlich zur Stelle. Als er unter den Frauen, die in der Nähe der Badehäuser paarweise oder einzeln spazieren gingen, die hohe Gestalt Olympiadas erblickte, verstärkte sich noch seine Angst und Unruhe. Olympiada trug einen alten Pelz und ein Tuch auf dem Kopfe, das Ilja von dem Gesichte nur die Augen sehen ließ. Schweigend blieb er vor ihr stehen . . .

»Komm!« sagte sie, und gleich darauf fügte sie leise hinzu:

»Schlag deinen Kragen hoch, daß man dein Gesicht nicht sieht!«

Sie schritten durch den Korridor der Badeanstalt, wandten ihre Gesichter wie aus Schamgefühl zur Seite und verschwanden in einer reservierten Zelle. Olympiada warf sogleich ihr Tuch ab, und beim Anblick ihres ruhigen, vom Frost rosig angehauchten Gesichtes faßte auch Ilja wieder Mut. Gleichzeitig jedoch fühlte er, daß es ihm unangenehm war, sie so ruhig zu sehen. Sie setzte sich neben ihn auf den Diwan und sprach, während sie ihm freundlich ins Gesicht sah:

»Du mein Eigensinn! Jetzt kommen wir beide bald vor den Untersuchungsrichter . . .«

»Warum?« fragte IIja, während er den tauenden Reif von seinem Schnurrbart wischte.

»Wie dumm er sich doch stellen kann! . . . Als ob er gar nichts wüßte«, rief Olympiada leise, mit spöttischem Ausdruck.

Sie zog die Brauen zusammen und fuhr flüsternd fort:

»Heut' war ein Geheimpolizist bei mir!«

Ilja sah sie an und meinte trocken:

»Laß mich mit deinem Geheimpolizisten und überhaupt mit allem, was du treibst, ungeschoren. Sag' mir einfach – warum hast du mich hierher bestellt?«

Olympiada sah ihm forschend ins Gesicht und sagte verächtlich lächelnd:

»Ach so! Du spielst den Beleidigten . . . Na, dafür habe ich jetzt keine Zeit. Hör' jetzt einmal: wenn der Untersuchungsrichter dich verhört und dich fragt, wann du mich kennengelernt hast, und ob du oft bei mir warst, dann sag' nur alles der Wahrheit gemäß, ganz genau, hörst du?«

»Ich höre«, sagte Ilja und lächelte.

»Und wenn er wegen des Alten fragt – dann sag', du habest ihn nie gesehen. Niemals! Weißt gar nichts von ihm. Hast nicht gehört, daß ich von jemandem ausgehalten werde – verstehst du?«

Sie sah Ilja durchdringend, mit herrischer Miene an. Er fühlte, wie in ihm ein boshafter Gedanke emporkeimte, der ihn mit Genugtuung erfüllte. Es schien ihm, daß Olympiada ihn fürchtete, und er verspürte die Lust, sie zu quälen. Er kniff seine Augen zusammen und schaute ihr verstohlen lächelnd, ohne ein Wort zu sagen, ins Gesicht.

Jetzt ging es wie ein schreckhaftes Zucken über ihre Züge, und während sie erbleichend einen Schritt zurücktrat, fragte sie flüsternd:

»Was siehst du mich so an, Ilja?«

»Sag', warum soll ich lügen?« fragte er und wies ihr höhnisch die Zähne. »Ich habe den Alten doch bei dir gesehen! . . .«

Und während er seine Ellbogen auf die Marmorplatte des Tisches legte, fuhr er in einem plötzlichen Anfall von bittrem Ingrimm langsam und leise fort:

»Ich hab' mir ihn damals angesehen und dachte: Der also ist's, der mir im Wege steht, der mein Leben zertrümmert hat! Und wenn ich ihn damals nicht erwürgt habe . . .«

»Lüg' doch nicht!« rief Olympiada laut, während sie mit der Hand auf den Tisch aufschlug . . . »Du lügst ja – er hat dir nie im Wege gestanden!«

»Wieso denn nicht?« fragte Ilja barsch.

»Er hat dir nichts getan. Du brauchtest nur zu wollen, und ich hätte ihm den Laufpaß gegeben. Hab' ich dir nicht gesagt, daß ich ihm ohne weiteres die Tür weise, wenn du es verlangst? Du schwiegst dazu und lächeltest nur . . . Du hast mich eben nie wirklich geliebt! Du selbst hast, nach deinem eigenen Willen, mit ihm geteilt . . .«

»Halt, schweig still!« rief Ilja. Er sprang vom Diwan auf, setzte sich jedoch sogleich wieder hin, als fühlte er sich durch Olympiadas Tadel niedergeschmettert.

»Ich will nicht schweigen!« rief sie. »Ich liebte dich, weil du ein so prächtiger, gesunder Junge warst . . . Und du, was hast du mir angetan? Hast du mir etwa gesagt: Olympiada, wähle – er oder ich? Hast du das gesagt? Nein, du warst nur . . . ein verliebter Kater, wie alle andern . . .«

Ilja fuhr auf bei diesem beleidigenden Vorwurf. Es ward ihm dunkel vor den Augen, und mit geballter Faust sprang er von neuem empor:

»Wie kannst du es wagen?«

»Schlagen willst du mich, wie?« schrie das Weib mit drohend blitzenden Augen und knirschte mit den Zähnen. »Na, so schlag doch zu! Ich reiße sofort die Tür auf und schrei', daß du ihn totgeschlagen hast, nach Verabredung mit mir . . . Na, so schlag mich doch!«

Ilja war wie vom Schreck gelähmt, doch das Gefühl des Schreckens streifte sein Herz nur und schwand alsbald. Er vermochte nur mühsam zu atmen, wie wenn unsichtbare Hände seine Kehle würgten.

Er sank wieder auf den Diwan zurück, schwieg eine Weile und stieß dann ein gepreßtes Lachen aus. Er sah, wie Olympiada sich auf die Lippen biß und in der schmutzigen, vom warmen Dunst der Badequaste und der Seife durchzogenen Zelle mit den Augen irgend etwas suchte. Dann setzte sie sich auf den Diwan dicht neben der Tür, ließ den Kopf sinken und sagte:

»Lach' nur . . . du Teufel!«

»Das will ich auch!«

»Wie ich dich sah, dachte ich: Das ist der Rechte, der wird mir behilflich sein, mich retten . . .«

»Lipa!« sprach Ilja leise.

Sie saß unbeweglich und antwortete nicht.

»Lipa!« rief Lunew abermals, und mit einem Gefühl, als ob er sich jäh in einen Abgrund stürzte, sprach er langsam, gemessen:

»Ich hab' den Alten erwürgt . . . bei Gott!«

Sie zuckte zusammen, hob den Kopf empor und sah ihn mit weit geöffneten Augen an. Dann begannen ihre Lippen zu zittern, und mit stockendem Atem brachte sie mühsam hervor:

»Dummer Kerl!«

Ilja begriff, daß sie über seine Worte erschrocken war, jedoch an ihre Wahrheit nicht glauben wollte. Er erhob sich, trat an sie heran und setzte sich zerstreut lächelnd neben sie. Sie aber faßte plötzlich nach seinem Kopfe, preßte ihn an ihre Brust und flüsterte, während sie sein Haar küßte, mit ihrer sonoren Stimme:

»Warum kränkst du mich so? Ich war ja so froh, daß sie ihn erwürgt haben, den alten Schleicher . . .«

»Ich hab's getan«, sagte er, mit dem Kopf nickend.

»So schweig doch!« rief das Weib unruhig. »Ich bin froh, daß er weg ist. Allen sollte es so gehen! Allen, die mich berührt haben! . . . Nur du allein warst zu mir wie ein Mensch . . . in meinem Leben bist du der erste, dem ich begegnet bin . . . Du, mein Lieber!«

Ihre Worte zogen Ilja immer stärker zu ihr hin. Er schmiegte sich mit seinem Gesicht fest an ihre Brust, und obschon er kaum atmen konnte, vermochte er sich doch von ihr nicht loszureißen, da er das Gefühl hatte, daß sie ihm menschlich nahe stehe, und daß er ihrer jetzt mehr denn je benötigen würde.

»Wenn du so frisch und gesund, wie eine junge Eiche, vor mir stehst . . . und mich zornig anschaust . . . dann fühle ich die ganze Niedrigkeit meines Lebens. Und eben darum liebe ich dich . . . um deines Stolzes willen . . .« Ihre schweren Tränen fielen auf Lunews Gesicht, und als er die Berührung der warmen Tropfen spürte, flossen ihm selbst befreiende Tränen über die Wangen.

Sie aber nahm seinen Kopf in die Hände, küßte seine feuchten Augen, seine Wangen und Lippen und sprach:

»Ich weiß ja, daß dich nur meine Schönheit reizt . . . daß du mich nicht mit dem Herzen liebst und mich verurteilst . . . Du kannst mir einmal mein Leben und jenen Alten . . . nicht verzeihen . . .«

»Sprich nicht von ihm«, sagte Ilja. Er trocknete sein Gesicht mit ihrem Kopftuch ab und erhob sich.

»Komme, was kommen will«, sprach er mit leiser, fester Stimme. »Will Gott den Menschen strafen, dann findet er ihn überall. Für deine Worte danke ich dir, Lipa . . . Was du sagst, ist richtig – ich bekenne mich schuldig vor dir. Ich dachte, du wärest . . . eine solche, nichts weiter . . . und du . . . Nun, schon gut, ich bitt' dich um Verzeihung.«

Seine Rede stockte, seine Lippen bebten, und die Augen wurden ihm trübe. Langsam, mit zitternder Hand glättete er sein wirres Haar und sagte dann nochmals dumpf und hoffnungslos:

»Ich bin an allem schuld! . . . Weshalb mußte das sein?«

Olympiada faßte seine Hand. Er sank neben ihr auf den Diwan und sagte, ohne auf ihr Geflüster zu achten:

»So begreif doch – ich hab' ihn erwürgt, ich!«

»Still doch!« rief Olympiada ängstlich, mit gedämpfter Stimme. »Was redest du denn?«

Und sie umarmte ihn fest und sah ihm mit ihren angsterfüllten Augen ins Gesicht.

»Laß nur! Es ist ganz unerwartet gekommen. Gott weiß es . . . ich wollte es nicht tun! Ich wollte mir nur sein widerliches Gesicht ansehen, darum ging ich in den Laden. Nichts Bestimmtes hatte ich im Sinn. Und dann – kam das so plötzlich . . . Der Teufel trieb mich an, und Gott hinderte ihn nicht . . . Das Geld hätt' ich nicht nehmen sollen, es war töricht . . . ach!«

Er seufzte tief auf, und es war ihm, als ob von seinem Herzen eine Rinde sich löste. Olympiada zitterte am ganzen Leibe, sie drückte ihn immer fester an sich und redete in abgerissenem, zusammenhangslosem Flüstern auf ihn ein.

»Daß du Geld genommen hast, ist gut . . . Man glaubt jetzt, es sei ein Raubmord . . . Sonst hätten sie gedacht, es sei aus Eifersucht geschehen . . .«

»Reue empfinde ich nicht«, sprach Ilja nachdenklich. »Möge Gott mich strafen! . . . Menschen – sind keine Richter . . . was wären mir das für Richter?! Ich kenne keine Menschen, die selbst ohne Sünde wären . . . hab' keinen gesehen . . .«

»O Gott!« stöhnte Olympiada, »was wird nun werden? . . . Mein Lieber! Ich bin ganz fassungslos . . . kann nicht reden noch denken . . . Laß uns jetzt weggehen von hier.«

Sie stand auf und schwankte wie eine Betrunkene. Als sie jedoch ihr Tuch um den Kopf gebunden hatte, sprach sie plötzlich ganz ruhig:

»Was wird nun werden, Iljuscha? Ob's uns schlecht gehen wird? . . .«

Ilja schüttelte verneinend den Kopf.

»Sag' nur beim Untersuchungsrichter so aus, wie es war . . .«

»So will ich's auch sagen. Denkst wohl, ich werde für mich nicht einstehen? Meinst, ich würde wegen dieses alten Kerls nach Sibirien gehen? Nein, da hab' ich noch anderes zu tun im Leben!«

Sein Gesicht ward rot vor Erregung, und seine Augen blitzten. Das Weib aber trat ganz nahe an ihn heran und fragte flüsternd:

»Hast du wirklich nur zweitausend genommen?«

»Zweitausend . . . und noch etwas drüber . . .«

»Armer Junge, auch darin hast du kein Glück!« sagte Olympiada betrübt; in ihren Augen schimmerten Tränen.

Ilja sah sie an und lächelte bitter:

»Hab' ich's denn des Geldes wegen getan? Versteh mich doch recht! – Wart'! Laß mich zuerst gehen, die Männer gehen hier immer zuerst hinaus . . .«

»Komm nur recht bald zu mir . . . Zu verstecken brauchen wir uns nicht . . . Recht bald!« rief Olympiada voll Besorgnis.

Sie verabschiedeten sich mit einem langen, leidenschaftlichen Kusse. Sobald Lunew auf die Straße hinaustrat, rief er eine Droschke heran. Unterwegs schaute er immer wieder zurück, ob nicht jemand hinter ihm herfahre. Das Gespräch mit Olympiada hatte sein Herz erleichtert und in ihm ein warmes, zärtliches Gefühl für dieses Weib geweckt. Nicht mit einem Worte, nicht mit einem Blick hatte sie sein Herz verwundet, als er ihr seine Tat bekannte; nicht von sich gestoßen hatte sie ihn, sondern einen Teil der Schuld auf sich genommen. Eine Minute vorher, als sie noch gar nichts wußte, war sie bereit gewesen, ihn zu verderben – er hatte das an ihrem Gesichte gesehen. Und dann war sie plötzlich wie umgewandelt . . . Ein mildes Lächeln lag auf seinem Gesicht, wenn er an sie dachte.

Am folgenden Tage fühlte sich Lunew bereits als das Wild, dem die Jäger auf der Spur sind. Frühmorgens begegnete ihm in der Schenke Petrucha; als Ilja ihn begrüßte, antwortete er kaum mit einem Kopfnicken und sah ihn dabei mit einem ganz besonderen, durchbohrenden Blicke an. Auch Terentij schaute ihn so seltsam an, seufzte dabei und sprach nicht ein Wort. Jakow rief ihn in Maschas Stube und sagte dort in ängstlichem Tone:

»Gestern abend war der Reviervorsteher hier, er fragte den Vater ganz genau über dich aus . . . Was hat das zu bedeuten?«

»Wonach fragte er denn?« erkundigte sich Ilja ruhig.

»Wie du lebst . . . ob du Branntwein trinkst . . . in bezug auf Weiber . . . Er nannte auch eine gewisse Olympiada – ›Kennen Sie die nicht?‹ sprach er. Warum fragt er das alles?«

»Der Teufel mag's wissen«, versetzte Ilja und ließ Jakow allein.

Am Abend dieses Tages bekam er wieder eine Nachricht von Olympiada. Sie schrieb:

»Man hat mich über Dich verhört. Ich habe alles genau angegeben. Das hat durchaus nichts auf sich und ist nicht gefährlich. Hab' keine Angst. Ich küsse Dich, Geliebter.«

Er warf den Zettel ins Feuer. In Filimonows Hause, wie in der Schenke, sprachen alle von der Ermordung des Kaufmanns. Ilja hörte diese Erzählungen, und es bereitete ihm ein eignes Vergnügen, sie anzuhören. Es gefiel ihm, zwischen den Menschen umherzugehen, sie über die Einzelheiten des Falles auszufragen, die sie selbst hinzugedichtet hatten, und dabei zu wissen, daß er sie alle in höchstes Erstaunen versetzen konnte, wenn er sagte:

»Ich bin's ja, der es getan hat! . . .«

Einige rühmten die Geschicklichkeit des Täters, andere bedauerten, daß er nicht alles Geld mitnehmen konnte, noch andere sprachen ihre Befürchtung aus, daß man ihn vielleicht doch noch fassen würde, und nicht eine einzige Stimme fand sich, die den Ermordeten bedauert hätte, niemand äußerte über ihn auch nur ein freundliches Wort.

Der Umstand, daß Ilja bei den Menschen gar kein Mitleid mit dem Ermordeten fand, weckte in ihm ein Gefühl der Geringschätzung gegen sie. Er dachte im übrigen gar nicht mehr an Poluektow, sondern nur daran, daß er eine schwere Schuld auf sich geladen habe, und daß ihn in Zukunft sein Strafgericht erwarte! Dieser Gedanke beunruhigte ihn jetzt gar nicht weiter: er hatte sich in seinem Innern festgesetzt und war gleichsam ein Teil seiner Seele geworden. Er glich einer Beule, die von einem Schlage zurückbleibt – sie schmerzt nicht, wenn man nicht daran rührt. In ihm lebte die tiefe Überzeugung, daß die Stunde kommen müsse, in der die Strafe Gottes ihn treffen würde – Gottes, der alles weiß und dem Übertreter Seines Gesetzes nicht verzeiht. Diese stetige Bereitschaft, zu jeder Stunde die Strafe über sich ergehen zu lassen, gestattete Ilja, seine Ruhe fast ungestört zu bewahren und mit Eifer den Schwächen der Menschen nachzuspüren. Dieses Spüren und Beobachten bereitete ihm eine gewisse Genugtuung, wenn er auch wußte, daß für ihn darin keine Rechtfertigung lag.

Er wurde finsterer, in sich gekehrter, doch ging er ganz wie früher vom Morgen bis zum Abend mit seiner Ware in der Stadt umher, besuchte die Schenken, beobachtete die Menschen und hörte aufmerksam auf ihre Reden. Eines Tages fiel ihm das Geld ein, das er oben auf dem Boden versteckt hatte, und er dachte daran, es an irgendeinem anderen Orte zu verbergen, aber gleich darauf sagte er sich:

»Es ist unnötig. Mag es dort liegen . . . Sucht man danach und findet es – dann gesteh' ich . . .«

Es wurde jedoch nicht nach dem Gelde gesucht, und auch vor den Untersuchungsrichter wurde Ilja erst am sechsten Tage geladen. Bevor er sich nach dem Gerichtsgebäude begab, wechselte er seine Wäsche, zog sein bestes Jackett an und putzte seine Stiefel ganz blank. In einer Schlittendroschke fuhr er hin. Der Schlitten flog auf dem unebenen Straßendamm hin und her, Ilja aber war bemüht, sich gerade und unbeweglich zu halten. In seinem Innern war alles so straff gespannt, daß er befürchtete, es könnte bei einer unvorsichtigen Bewegung irgend etwas in ihm zerbrechen. Auch die Treppe des Gerichtsgebäudes stieg er ganz langsam und vorsichtig empor, als wenn er Kleider aus Glas anhätte.

Der Untersuchungsrichter, ein junger Mann mit gelocktem Haar und einer Adlernase, über der eine goldene Brille saß, rieb, als er Ilja erblickte, zuerst kräftig seine schlanken, weißen Hände, dann nahm er die Brille ab, putzte sie sorgfältig mit seinem Taschentuche und schaute dabei Ilja mit seinen großen, dunklen Augen an. Ilja verneigte sich schweigend vor ihm.

»Guten Tag! Setzen Sie sich . . . dahin! . . .«

Er wies mit einer Handbewegung nach einem Stuhl an einem großen, mit himbeerfarbigem Tuch überzogenen Tische. Ilja setzte sich und schob vorsichtig mit dem Ellbogen einen Aktenstoß fort, der auf dem Rande des Tisches lag. Der Untersuchungsrichter bemerkte das, nahm höflich die Akten fort und setzte sich dann Ilja gegenüber an den Tisch. Schweigend begann er in einem Buche zu blättern und musterte dabei Ilja von der Seite. Dieses Schweigen gefiel Ilja nicht, er wandte sich von dem Untersuchungsrichter ab und schaute sich im Zimmer um. Zum erstenmal sah er einen so sauber und vornehm ausgestatteten Raum. An den Wänden hingen Bildnisse in Rahmen und Gemälde. Auf einem derselben war Christus dargestellt. Er ging in Gedanken versunken, den Kopf vorgebeugt, traurig und einsam zwischen Ruinen daher, zu seinen Füßen lagen menschliche Leichname und Waffen, und im Hintergrunde des Bildes stieg schwarzer Rauch empor – es brannte dort etwas. Ilja schaute lange auf dieses Bild und suchte zu begreifen, was es vorstellte, und er hatte sogar Lust, danach zu fragen, als plötzlich der Untersuchungsrichter das Buch laut zuklappte. Ilja fuhr zusammen und sah ihn an. Das Gesicht des Untersuchungsrichters hatte einen trockenen, gelangweilten Ausdruck, und seine Lippen hingen in komischer Weise herab, als wenn ihn jemand verletzt hätte.

»Nun,« sagte er und klopfte mit dem Finger auf den Tisch – »Sie sind Ilja Jakowlewitsch Lunew, nicht wahr?«

»Ja . . .«

»Sie erraten, weshalb ich Sie vorgeladen habe?«

»Nein«, antwortete Ilja und blickte wieder flüchtig nach dem Gemälde. Dann ließ er seinen Blick über die saubere, solide Einrichtung des Zimmers schweifen und sog das feine Parfüm ein, nach dem der Untersuchungsrichter duftete. Es zerstreute und beruhigte ihn, seine Umgebung zu beobachten, und der Neid regte sich in seinem Herzen.

»So also lebt solch ein Herr . . .« ging's ihm durch den Kopf. »Es muß wohl einträglich sein, Räuber und Mörder zu fangen . . . Wieviel Gehalt mag er haben? . . .«

»Sie erraten es also nicht?« wiederholte der Untersuchungsrichter wie erstaunt. »Hat Ihnen denn Olympiada nichts gesagt?«

»Nein . . . ich hab' sie schon lange nicht gesehen . . .«

Der Untersuchungsrichter warf sich mit dem Rücken gegen die Lehne des Sessels und ließ wieder die Lippen hängen.

»Wie lange denn? . . .« fragte er.

»Ich weiß es nicht . . . vielleicht acht, neun Tage . . .«

»Aha! So so! . . . Und sagen Sie mal – haben Sie den alten Poluektow oft bei ihr getroffen?«

»Den, der neulich ermordet wurde?« fragte Ilja, indem er dem Untersuchungsrichter in die Augen sah.

»Ganz recht, den mein' ich . . .«

»Den hab' ich dort niemals getroffen . . .«

»Niemals? Hm . . .«

»Niemals!«

Der Untersuchungsrichter warf seine Fragen rasch und wie von ungefähr hin, und wenn Ilja, der sehr bedächtig antwortete, mit seiner Antwort gar zu lange zögerte, trommelte er ungeduldig mit den Fingern auf dem Tische.

»Sie wußten, daß Olympiada Petrowna von Poluektow ausgehalten wurde?« fragte er plötzlich, indem er durch seine Brille scharf nach Ilja hinsah.

Lunew errötete unter diesem Blick, der für ihn etwas Verletzendes hatte.

»Jawohl, sie wurde von ihm ausgehalten«, wiederholte der Untersuchungsrichter in gereiztem Tone. »Nach meiner Ansicht ist das nicht schön«, fügte er hinzu, als er sah, daß Ilja keine Miene machte, ihm zu antworten.

»Was sollte daran wohl schön sein!« sagte Ilja endlich leise.

»Nicht wahr? . . .«

Aber Ilja ließ ihn wiederum ohne Antwort.

»Und Sie . . . sind Sie schon lange mit ihr bekannt?«

»Über ein Jahr . . .«

»Sie haben sie also noch vor ihrer Bekanntschaft mit Poluektow kennengelernt?«

»Du bist mir ein schlauer Fuchs«, dachte Ilja und sagte dann ruhig: »Wie kann ich Ihnen das sagen, wenn ich doch nicht wußte, daß sie . . . mit dem Verstorbenen zusammenlebte?«

Der Untersuchungsrichter spitzte den Mund, ließ einen Pfiff hören und begann in einem Aktenstück zu blättern. Lunew betrachtete wieder das Bild – er fühlte, wie das Interesse für dieses ihm seine Ruhe bewahren half. Irgendwoher drang das helle, muntere Lachen eines Kindes an sein Ohr. Dann sang eine fröhliche, sanfte Frauenstimme zärtlich:

»Ännchen mein . . . Kindchen mein . . . Herzchen mein . . . Schätzchen mein! . . .«

»Das Bild da scheint Sie sehr zu interessieren?« ließ die Stimme des Untersuchungsrichters sich vernehmen.

»Wohin geht denn eigentlich Christus?« fragte Ilja leise.

Der Untersuchungsrichter sah ihm mit gelangweiltem, enttäuschtem Ausdruck ins Gesicht und sagte nach einer Weile:

»Sie sehen ja – er ist auf die Erde herabgekommen, um sich zu überzeugen, wie die Menschen seine Gebote erfüllen. Er geht über ein Schlachtfeld, ringsum sieht er getötete Menschen, zerstörte Häuser, Feuersbrünste, Plünderungen . . .«

»Kann er denn das vom Himmel aus nicht sehen?« fragte Ilja.

»Hm . . . Der größeren Anschaulichkeit wegen ist es so dargestellt . . . um zu zeigen, wie wenig das wirkliche Leben mit den Lehren Christi übereinstimmt . . .«

Wiederum folgte eine ganze Anzahl kleiner, unwesentlicher Fragen, die Ilja lästig fielen wie die Herbstfliegen. Er wurde durch sie ermüdet und fühlte, wie sie seine Aufmerksamkeit einschläferten, und wie seine Vorsicht unter ihrem eintönigen, öden Geknatter ermattete. Und er ward böse auf den Untersuchungsrichter, der, wie er wohl begriff, absichtlich diese Fragen stellte, um ihn zu ermüden.

»Können Sie mir vielleicht sagen,« warf der Richter rasch, wie ohne besondere Absicht hin – »wo Sie am Donnerstag zwischen zwei und drei Uhr gewesen sind?«

»Im Wirtshaus . . . Tee hab' ich getrunken . . .« antwortete Ilja.

»Ah! In welchem Wirtshause denn? Wo?«

»In der ›Plewna‹ . . .«

»Wie kommt es, daß Sie darüber so genau Bescheid wissen . . . daß Sie gerade zu jener Zeit in dem Wirtshaus gewesen sind?«

Das Gesicht des Untersuchungsrichters nahm einen gespannten Ausdruck an, er legte sich mit der Brust über den Tisch und sah mit seinen flammenden Augen forschend in die Augen Lunews. Ilja antwortete nicht sogleich. Er schwieg ein paar Sekunden, dann seufzte er und sagte, ohne sich zu beeilen:

»Ich hatte, bevor ich in das Wirtshaus ging, einen Polizisten nach der Zeit gefragt.«

Der Untersuchungsrichter lehnte sich wieder in den Sessel zurück, nahm einen Bleistift und begann damit auf seine Fingernägel zu klopfen.

»Der Polizist sagte mir, es sei in der zweiten Stunde, zwanzig Minuten vor zwei, oder so was . . .« sprach Ilja langsam.

»Er kennt Sie?«

»Ja . . .«

»Haben Sie keine Taschenuhr?«

»Nein . . .«

»Hatten Sie ihn auch schon früher einmal nach der Zeit gefragt?«

»Es ist wohl vorgekommen . . .«

»Haben Sie lange in der ›Plewna‹ gesessen?«

»Bis die Nachricht von dem Morde kam . . .«

»Und wohin gingen Sie dann?«

»Ich ging, mir den Ermordeten anzusehen.«

»Hat Sie dort . . . vor dem Laden . . . jemand gesehen?«

»Jener Polizist hat mich gesehen . . . Er hat mich sogar fortgejagt . . . mich gestoßen . . .«

»Sehr gut . . . sehr wichtig für Sie«, sagte der Untersuchungsrichter beifällig und fragte dann obenhin, ohne Ilja anzusehen:

»Haben Sie den Polizisten vor dem Morde oder nach dem Morde nach der Zeit gefragt?«

Ilja begriff die Absicht des Fragenden. Er wandte sich auf seinem Stuhle schroff ab, voll Wut über diesen Menschen in dem blendend weißen Hemd, mit den feinen, schlanken Fingern, den wohlgepflegten Nägeln und der goldenen Brille vor den stechenden, dunklen Augen. Statt einer Antwort stellte er die Frage:

»Wie kann ich denn das wissen?«

Der Untersuchungsrichter hustete trocken und rieb sich die Hände, daß seine Finger knackten.

»Ausgezeichnet!« sagte er in unzufriedenem Tone. »Großa–artig! . . . Nur noch ein paar Fragen.«

Jetzt fragte der Richter schon in gleichgültigem, gelangweiltem Tone – offenbar erwartete er nicht mehr, irgend etwas Interessantes zu hören. Ilja gab ihm Bescheid und war immer noch darauf gefaßt, plötzlich eine ähnliche Frage, wie jene über die Zeit des Mordes, zu vernehmen. Jedes Wort, das er sprach, hallte in seiner Brust wie in einem leeren Räume wider, als ob es dort an einer straff gespannten Saite rührte. Doch der Untersuchungsrichter stellte ihm keine so verschmitzten Fragen mehr.

»Als Sie an jenem Tage dort auf der Straße gingen – ist Ihnen da nicht ein hochgewachsener Mensch in einem kurzen Pelz und schwarzer Lammfellmütze begegnet? Erinnern Sie sich nicht?«

»Nein . . .« sprach Lunew barsch.

»Nun hören Sie mal zu: ich werde Ihnen Ihre Aussage vorlesen, und Sie unterschreiben dann . . .«

Er hielt einen beschriebenen Bogen Papier vor sein Gesicht und begann rasch und eintönig zu lesen. Als er mit dem Lesen fertig war, steckte er Lunew eine Feder in die Hand. Ilja beugte sich über den Tisch, unterschrieb, erhob sich langsam von seinem Stuhle und sagte, während er den Untersuchungsrichter ansah, mit lauter, sicherer Stimme:

»Leben Sie wohl! . . .«

Jener antwortete ihm mit einem kurzen, vornehmen Kopfnicken, beugte sich über seinen Schreibtisch vor und begann zu schreiben. Ilja stand sinnend da – er hätte diesem Menschen, der ihn so lange gequält hatte, noch gern irgend etwas gesagt. In der Stille des Zimmers hörte man das Kratzen der Feder, und die singende Frauenstimme ließ sich wieder vernehmen:

»Tanzet lustig, tanzet lustig, meine kleinen Püppelchen! . . .«

»Was wollen Sie noch?« fragte der Untersuchungsrichter plötzlich und hob den Kopf empor.

»Nichts . . .« versetzte Lunew düster.

»Ich sagte Ihnen ja: Sie können gehen . . .«

»Ich geh' schon . . .«

Sie sahen einander unfreundlich an, und Lunew fühlte, daß in seiner Brust irgend etwas wuchs – etwas Schweres, Furchtbares. Rasch wandte er sich um und ging auf die Straße hinaus. Ein kalter Wind wehte ihm entgegen, und er merkte jetzt erst, daß sein Körper ganz in Schweiß gebadet war. Eine halbe Stunde später saß er bei Olympiada. Sie hatte ihm selbst die Tür geöffnet, nachdem sie aus dem Fenster ihn hatte vorfahren sehen. Mit mütterlicher Freude begrüßte sie ihn. Ihr Gesicht war bleich, und sie blickte ihn unruhig, mit weit geöffneten Augen, an.

»Mein kluger Junge!« rief sie, als Ilja ihr sagte, daß er eben vom Untersuchungsrichter komme. »Na, so erzähl' doch – wie war es denn dort?«

»Der Spitzbube!« sprach Ilja voll Wut. »Er hat mir Fallen gestellt . . .«

»Er kann doch nicht anders«, belehrte ihn Olympiada.

»Warum sagt er's nicht gerade heraus? ›So und so . . . das und das denkt man von Ihnen‹ . . .«

»Hast du ihm denn alles gerade heraus gesagt?« fragte Olympiada lächelnd.

»Ich?« rief Lunew erstaunt. »Ach ja . . . in der Tat . . . hol' ihn der Teufel! . . .«

Er schien ganz verdutzt und meinte nach einer Weile:

»Und wie ich dort vor ihm saß, dacht' ich, bei Gott . . . ich wär' im Recht!«

»Nun, Gott sei Dank . . . es ist alles gut abgelaufen!« rief Olympiada froh bewegt.

Ilja sah sie lächelnd an und sagte langsam:

»Ich brauchte gar nicht viel zu lügen . . . Hab' wirklich Glück, Lipa! . . .«

Er lachte ganz seltsam bei diesen Worten.

»Mir sind die Geheimpolizisten scharf auf den Fersen,« sprach Olympiada mit gedämpfter Stimme, »und jedenfalls auch dir . . .«

»Natürlich!« sagte Lunew voll Hohn und Grimm. »Sie schnüffeln herum und wollen mich einschließen, wie die Treiber den Wolf im Walde. Aber es wird ihnen nicht gelingen . . . sie sind nicht die Kerle danach! Und ich bin auch kein Wolf, sondern ein unglücklicher Mensch . . . Ich wollte keinen würgen, mich selber würgt das Schicksal . . . wie Paschka in seinen Versen sagt . . . Auch den Paschka würgt es, und Jakow . . . uns alle!«

»Laß gut sein, Iljuscha,« sprach Olympiada, die gerade Wasser in den Samowar goß – »alles wird noch gut werden! . . .«

Lunew erhob sich vom Diwan, trat ans Fenster und sagte, während er auf die Straße hinaussah, mit dumpfer, verzweiflungsvoller Stimme:

»Mein ganzes Leben lang hab' ich mit der Nase im Schmutz gewühlt . . . immer auf das wurde ich gestoßen, was ich nicht liebte, was ich haßte. Nie hab' ich einen Menschen gefunden, den ich mit frohem Blick hätte anschauen mögen . . . Gibt's denn nichts Reines, nichts Edles im Leben? Jetzt hab' ich diesen da . . . den Deinigen . . . erwürgt . . . weshalb? Nur besudelt hab' ich mich dabei, und meine Seele verdorben . . . Geld hab' ich genommen . . . ich hätt's nicht tun sollen . . .«

»Klage nicht!« suchte ihn Olympiada zu trösten. »Er verdient kein Mitleid . . .«

»Ich bemitleide ihn auch nicht . . . Nur mich selbst will ich rechtfertigen. Jeder sucht sich zu rechtfertigen – denn er muß doch leben! . . . Der Untersuchungsrichter – ja, der lebt wie das Zuckerplätzchen in der Schachtel . . . Der wird niemanden erwürgen! Der kann brav und rechtlich bleiben . . . in seinem sauberen Neste . . .«

»Laß gut sein, wir ziehen beide fort aus dieser Stadt . . .«

»Nein, ich ziehe nirgends hin!« rief Lunew und wandte sich trotzig zu ihr um. »Ich will warten und zusehen, was weiter wird.«

Olympiada sann einen Augenblick nach. Sie saß am Tische vor dem Samowar, üppig und schön, in einem weißen, weiten Mantel.

»Ich will noch kämpfen!« rief Lunew und schüttelte vielsagend mit dem Kopfe, während er im Zimmer auf und ab schritt.

»Ach so!« rief das Weib in gekränktem Tone – »du willst nicht mit mir gehen, weil du dich vor mir fürchtest? Du meinst, ich würde dich jetzt für immer in der Hand haben, denkst, ich werde es mir zunutze machen . . . daß ich dein Geheimnis kenne? Da irrst du, mein Lieber, ja! Mit Gewalt will ich dich nicht fortschleppen . . .«

Sie sprach in ruhigem Tone, doch ihre Lippen zuckten, wie wenn sie Schmerzen darin hätte.

»Was redest du da?« fragte Lunew ganz verwundert.

»Zwingen will ich dich zu nichts . . . Hab' keine Angst! Geh, wohin du willst – bitte . . .«

»Wart' doch mal!« sprach Ilja, während er sich neben sie setzte und ihre Hand nahm. »Ich hab' nicht begriffen, was du da sagtest . . .«

»Verstell' dich doch nicht!« rief Olympiada schmerzlich und entzog ihm ihre Hand. »Ich weiß – du bist stolz . . . und hart. Den Alten kannst du mir nicht verzeihen, und mein Leben ist dir zuwider . . . Du denkst jetzt, das alles sei nur um meinetwillen so gekommen . . .«

»Du redest töricht«, sprach Ilja gemessen. »Nicht im geringsten hab' ich dich beschuldigt. Ich weiß, daß es für uns keine Weiber gibt, die sauber und fein und dabei ohne Sünde wären . . . Solche Weiber sind teuer . . . Die sind nur für die reichen Leute, unsereins muß schon mit dem Abgenagten und Ausgesogenen . . . dem Bespienen und Verbrauchten vorliebnehmen . . .«

»Dann laß doch ab von mir, der Bespienen, Verbrauchten!« schrie Olympiada, vom Stuhl aufspringend. »Mach', daß du fortkommst!«

Doch plötzlich blitzten Tränen in ihren Augen auf, und sie überschüttete Ilja mit einer Flut von flammenden Worten, die wie Kohlen brannten:

»Ich selbst bin freiwillig in diese Höhle gekrochen . . . weil in ihr viel Geld zu holen ist . . . Mit diesem Gelde wollte ich wie auf einer Leiter wieder emporklettern . . . gedachte ein anständiges Leben zu beginnen . . . Du hast mir dazu verholfen, ich weiß es! . . . Und ich liebe dich und werde dich lieben, wenn du auch zehn Menschen erwürgst . . . Nicht die Tugend liebe ich in dir, sondern den Stolz . . . und deine Jugend, deinen Lockenkopf, deinen starken Arm, deine finstern Augen . . . Auch deine Vorwürfe, die mir wie Dolche ins Herz gehen . . . für alles das werde ich dir bis ans Grab dankbar sein, die Füße werde ich dir küssen – ja!«

Sie stürzte zu seinen Füßen nieder und begann seine Knie zu küssen, während sie rief:

»Gott ist mein Zeuge! Ich habe gesündigt um meines Seelenheils willen. Es muß Ihm doch lieber sein, wenn ich nicht mein ganzes Leben im Schmutz verbringe, sondern durch ihn hindurchschreite und wieder ein reines Leben führe . . . Dann will ich Seine Verzeihung erflehen . . . Ich will nicht mein ganzes Leben lang diese Marter tragen! Sie haben mich mit Schmutz besudelt . . . und mit Kot . . . Alle meine Tränen reichen nicht hin, um ihn abzuwaschen . . .«

Ilja suchte sich von ihr loszumachen und sie vom Boden aufzuheben, doch sie hatte sich an ihm festgeklammert, hatte ihren Kopf an seine Knie gepreßt und rieb ihre Wangen an seinen Füßen. Und dabei sprach sie in einem fort mit leidenschaftlicher, dumpfer keuchender Stimme. Da begann er sie mit zitternder Hand zu streicheln, zog sie empor, umarmte sie und legte ihren Kopf an seine Schulter. Die heiße Wange des Weibes preßte sich fest an sein Gesicht, und während Olympiada noch, von seinen starken Armen umfangen, auf den Knien vor ihm lag, flüsterte sie mit gedämpfter Stimme:

»Kann's denn jemandem nützen, wenn ein Mensch, der einmal gesündigt hat, fast sein ganzes Leben in Erniedrigung zubringt? . . . Als ich ein junges Mädchen war und sich mein Stiefvater mir in unreiner Lüsternheit näherte – da stach ich nach ihm mit dem Messer . . . Dann haben sie mich mit Wein betrunken gemacht und mich entehrt . . . Ich war ein Mädchen, so sauber, so hübsch und rotwangig wie ein Apfel! Ich weinte um mich . . . tat mir selber leid . . . weinte um meine Schönheit . . . Ich wollt' es nicht, wollt' es nicht! . . . Und dann sagte ich mir: es ist alles gleich . . . es gibt keine Rückkehr . . . Gut, dachte ich – dann will ich wenigstens meine Schande so teuer wie möglich verkaufen . . . Ich haßte sie alle, ich bestahl sie, wenn ich mit ihnen zechte . . . Vor dir hab' ich keinen von Herzen geküßt . . .«

Ihre Worte gingen zuletzt in ein stilles Flüstern über. Und plötzlich riß sie sich dann aus Iljas Umarmung los.

»Laß mich sein!«

Er aber umfing sie noch fester mit seinen Armen und begann voll Leidenschaft und Verzweiflung ihr Antlitz zu küssen.

»Ich habe nichts zu sagen auf deine Worte«, sprach er wie im Fieber. »Nur eins sag' ich dir: niemand hat mit uns Mitleid gehabt, und auch wir brauchen mit niemand Mitleid zu haben! Du hast so schön gesprochen . . . Komm, laß dich küssen . . . Wie soll ich dir's anders vergelten? Du meine Schöne . . . ich liebe dich . . . ach, ich weiß nicht, wie! Nicht mit Worten kann ich's aussprechen . . .«

Ihre klagenden Reden hatten in ihm ein heißes Gefühl der Zuneigung zu diesem Weibe geweckt. Ihr Schmerz schmolz gleichsam mit seinem Unglück in ein Ganzes zusammen, und ihre Herzen kamen einander näher und näher. Sie hielten sich fest umschlungen und erzählten sich lange mit leiser Stimme gegenseitig all die Kränkungen, die sie im Leben erduldet. In Lunews Brust reifte eine trotzige, mutvolle Entschlossenheit . . .

»Wir sind einmal nicht für das Glück geboren, wir beiden«, sprach das Weib und schüttelte hoffnungslos den Kopf.

»Gut, dann wollen wir unser Unglück feiern! . . . Wollen wir beide vereint nach Sibirien gehen, in die Zwangsarbeit? Wie? . . . Aber das hat noch Zeit. Vorläufig werden wir unsern Schmerz und unsere Liebe genießen . . . Jetzt mögen sie mich mit glühenden Zangen zwicken . . . Ums Herz ist's mir so leicht! . . .«

Erhitzt von ihren Gesprächen und erregt von ihren Liebkosungen schauten sie einander wie durch einen Nebel an. Es war ihnen heiß und eng in ihren Kleidern . . .

Durch das Fenster schaute eintönig grau der Himmel. Ein kalter Nebel umhüllte die Erde und setzte sich an den Bäumen als weißer Reif fest. Im Gärtchen vor den Fenstern wiegte eine junge Birke leise ihre dünnen Zweige hin und her und schüttelte den Schnee von ihnen ab. Der Winterabend brach an . . .


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