Maxim Gorki
Drei Menschen
Maxim Gorki

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI

Diese Ereignisse hatten zur Folge, daß im Charakter des Knaben eine starke Wandlung vor sich ging. Früher hatte er sich nur von seinen Mitschülern ferngehalten, denen nachzugeben er nicht geneigt war. Zu Hause war er gegen alle offen und zutraulich gewesen, und schenkte ihm jemand von den Großen auch nur einige Beachtung, so bereitete ihm das eine ganz besondere Freude. Jetzt hielt er sich fern von allen und erschien weit über sein Alter ernst. Sein Gesicht zeigte eine unfreundliche Miene, die Lippen waren fest zusammengekniffen, er beobachtete mit Aufmerksamkeit die Erwachsenen und horchte mit einem forschenden Aufblitzen der Augen auf ihre Reden. Schwer lastete auf ihm die Erinnerung an das, was er am Todestage des alten Jeremjej gesehen, und es schien ihm, daß auch er gleich Petrucha und dem Onkel dem Verstorbenen gegenüber schuldig sei. Vielleicht war der Alte, als er sterbend dalag und sah, wie man sein Besitztum plünderte, der Meinung gewesen, daß er, Ilja, ihnen den Schatz verraten habe. Dieser Gedanke hatte sich Iljas unmerklich bemächtigt, er füllte seine Seele mit Verwirrung und qualvoller Pein und steigerte sein Mißtrauen gegen alle Welt. Sobald er an jemand etwas Schlechtes bemerkte, ward ihm leichter ums Herz, als ob seine eigene Schuld dem Toten gegenüber dadurch vermindert würde.

Und er sah so viel Schlechtes rings um sich! Alle Leute nannten den Büfettier Petrucha einen Hehler und Betrüger. Ins Gesicht jedoch schmeichelten ihm alle, verneigten sich respektvoll vor ihm und bedachten ihn mit der ehrenvollen Anrede Peter Akimytsch. Die große Matiza aus der Dachstube bezeichneten sie mit einem häßlichen Schimpfwort; war sie betrunken, dann stießen und schlugen sie alle, und eines Tages, als sie schwer bezecht unter dem Küchenfenster saß, hatte der Koch ihr gar einen Eimer Spülicht über den Kopf gegossen. Und doch nahmen alle von ihr kleine Gefälligkeiten und Dienste an, ohne ihr je dafür anders als mit Scheltworten und Rippenstößen zu danken. Perfischka rief sie häufig, daß sie ihm seine kranke Frau wasche, Petrucha ließ sie vor den Feiertagen ohne Entgelt die Schenkstube scheuern, und für Terentij nähte sie umsonst die Hemden. Sie ging zu allen, machte alles ohne Murren und sehr geschickt, pflegte mit Hingebung die Kranken und liebte es, mit den Kindern zu spielen . . .

Ilja sah, daß der fleißigste Mensch im ganzen Hause, der Schuster Perfischka, von allen als ein lächerlicher Patron angesehen wurde, und daß sie nur dann von ihm Notiz nahmen, wenn er betrunken, mit seiner Harmonika auf dem Schoße, in der Schenke saß oder sich auf dem Hofe herumdrückte und seine lustigen kleinen Lieder auf dem Instrument begleitete. Niemand jedoch mochte es sehen, wie behutsam derselbe Perfischka seine gelähmte Frau auf die Treppe hinaustrug, wie er seine kleine Tochter zu Bett brachte, sie mit Küssen bedeckte und ihr, um sie zu unterhalten, allerhand drollige Grimassen schnitt. Niemand mochte ihm zusehen, wenn er lachend und scherzend Mascha das Mittagessen kochen und das Zimmer aufräumen lehrte, sich dann an die Arbeit setzte und bis spät in die Nacht hinein, über irgendeinen schmutzigen, krummen Stiefel gebeugt, dasaß.

Als der Schmied ins Gefängnis abgeführt worden war, hatte sich kein Mensch außer dem Schuster um seinen Jungen gekümmert. Dieser hatte Paschka sogleich zu sich genommen, und der wilde Bursche pichte ihm den Schusterdraht, fegte das Zimmer, holte Wasser und ging zum Krämer nach Brot, Kwas und Zwiebeln. Alle hatten den Schuster am Feiertage betrunken gesehen, aber niemand hatte es gehört, wie er am nächsten Tage, als er nüchtern geworden, sich vor seiner Frau entschuldigte:

»Verzeih mir, Dunja! Ich bin ja doch schließlich kein Trunkenbold, sondern nahm nur so, zur Erheiterung, ein Schlückchen. Die ganze Woche arbeitet man – zu langweilig ist's! Na, und da trinkt man mal einen! . . .«

»Aber beschuldige ich dich denn? Du lieber Gott – ich bedaure dich doch bloß«, versetzte seine Frau mit ihrer heiseren Stimme, die wie ein Schluchzen in der Kehle klang. »Meinst du, ich seh' nicht, wie du dich quälst? Wie einen schweren Stein hat der Herr mich dir an den Hals gehängt. Wenn's doch schon ans Sterben ginge! . . . Dann wärst du befreit von mir . . .«

»Rede nicht so! Ich hör' solche Worte von dir nicht gern. Ich hab' dich gekränkt, nicht du mich! . . . Aber ich tat es nicht aus Schlechtigkeit, sondern weil ich schwach wurde . . . Laß es gut sein, wir wollen in 'ne andere Gasse ziehen. Dann soll alles anders werden, die Fenster, die Tür . . . alles! Die Fenster werden auf die Straße gehen, einen Stiefel wollen wir aus Papier ausschneiden und ans Fenster kleben. Das ist dann unser Schild! Alle Welt wird zu uns gelaufen kommen. Da wird unser Geschäft erst blühen! . . . Immer klopf, immer klopf – schaff Grütze in den Topf!«

Ilja kannte das Leben Perfischkas bis ins kleinste. Er sah, wie er sich quälte gleich einem Fisch, der durchs Eis brechen möchte, und achtete ihn darum, weil er stets mit aller Welt scherzte, allezeit lachte und so prächtig auf der Harmonika spielte.

Inzwischen saß Petrucha hinter seinem Büfett, spielte eine Partie Dame nach der andern, trank vom Morgen bis zum Abend Tee und schimpfte auf die Kellnerburschen. Bald nach dem Tode Jeremjejs hatte er Terentij als Verkäufer hinter das Büfett gestellt, während er selbst sich darin gefiel, pfeifend auf dem Hofe hin und her zu spazieren, das Haus von allen Seiten zu betrachten und seine Wände mit den Fäusten zu beklopfen.

Noch mancherlei anderes bemerkte Ilja, und alles war häßlich und unerfreulich und stieß ihn mehr und mehr von den Menschen zurück. Zuweilen riefen all die Eindrücke und Gedanken, die sich in ihm anhäuften, den lebhaften Wunsch in ihm hervor, sich mit jemand auszusprechen. Mit dem Onkel aber wollte er nicht sprechen: nach dem Tode Jeremjejs war zwischen Ilja und dem Onkel etwas wie eine unsichtbare Wand emporgewachsen, die den Knaben davon abhielt, sich dem Buckligen ebenso offen und zutraulich zu nähern wie früher. Jakow hätte ihm kaum über die Vorgänge in seinem Innern Aufklärung geben können: der lebte gleichfalls abseits von allen, wenn auch auf seine besondere Weise.

Auch ihn hatte der Tod des alten Jeremjej betrübt. Oft hatte er mit trauriger Miene seiner gedacht:

»Langweilig ist's geworden! . . . Wenn doch noch Großvater Jerema lebte, der hat uns immer Märchen erzählt! Nichts Schöneres gibt es als Märchen!«

Eines Tages sagte Jakow geheimnisvoll zu Ilja:

»Soll ich dir mal was ganz Besonderes zeigen? Willst du es sehen?«

»Freilich will ich's sehen!«

»Aber schwör' mir erst, daß du es niemandem verraten wirst! Sag': Verflucht soll ich sein . . .«

Ilja wiederholte die Schwurformel, worauf ihn Jakow zu der alten Linde im äußersten Winkel des Hofes führte. Dort entfernte er von dem Stamme der Linde ein künstlich daran befestigtes Rindenstück, und Ilja erblickte dahinter eine große Höhlung in dem Baumstamm. Es war ein Astloch, das mit dem Messer künstlich erweitert und mit bunten Läppchen, Papierchen und Stanniolblättchen ausgeschmückt war. In der Tiefe dieser Höhlung stand ein kleines, aus Erz gegossenes Bildnis, vor dem das Ende einer Wachskerze befestigt war.

»Hast du gesehen?« fragte Jakow, während er das Rindenstück wieder vor die Öffnung brachte.

»Ich hab's gesehen . . . Was ist denn das?«

»Eine Kapelle!« erklärte Jakow. »Hierher werde ich immer in der Nacht ganz leise kommen und werde hier beten . . . Ist das nicht hübsch?«

Ilja gefiel der Einfall seines Freundes, doch stellte er sich sogleich die Gefährlichkeit des Wagnisses vor.

»Und wenn man das Licht sieht? Dann gibt's gehörige Prügel vom Alten! . . .«

»Wer soll's in der Nacht sehen? In der Nacht schlafen doch alle; ganz still ist's auf der Erde . . . Ich bin doch klein, da hört der liebe Gott am Tage mein Gebet nicht . . . In der Nacht wird er es eher hören . . . Meinst du nicht?«

»Ich weiß es nicht . . . Vielleicht wird er's hören«, meinte Ilja nachdenklich, während er in das großäugige, bleiche Antlitz des Kameraden schaute.

»Wirst du mit mir beten gehen?« fragte Jakow.

»Um was willst du denn beten?« fragte Ilja. »Ich würde Gott bitten, daß er mich recht klug mache . . . und dann noch, daß ich immer alles habe, was ich mir wünsche. Und du?«

»Ich? Ich würde um dasselbe bitten . . .« antwortete Jakow.

Nach einer Weile jedoch fügte er hinzu:

»Ich wollte es eigentlich nur so, ohne besondere Absicht . . . einfach beten wollt' ich, weiter nichts! Und er mag mir geben, was er will . . .«

Sie kamen überein, schon in der nächsten Nacht mit ihrem Gebet vor der Linde anzufangen, und legten sich beide mit der festen Absicht zu Bett, in der Nacht aufzuwachen und sich in dem Winkel zu treffen. Sie erwachten jedoch weder in dieser noch in der nächsten Nacht, und noch manche andere Nacht verschliefen sie. Und dann wirkten neue Eindrücke auf Ilja ein und ließen die Kapelle in den Hintergrund treten.

In den Zweigen derselben Linde, in der Jakow seine Kapelle eingerichtet hatte, pflegte Paschka seine Vogelfallen aufzustellen, um darin Zeisige und Meisen zu fangen. Er hatte ein schweres Dasein, war dürr und schmal geworden und hatte keine Zeit mehr, sich im Hofe herumzutreiben. Den ganzen Tag war er bei Perfischka beschäftigt, und nur an Feiertagen, wenn der Schuster betrunken war, sahen ihn die Kameraden. Paschka fragte sie aus, was sie in der Schule lernten, und schaute neidisch und finster drein, wenn er ihre vom Bewußtsein der eignen Überlegenheit erfüllten Berichte hörte.

»Bildet euch nur nicht zu viel ein,« sagte er, »auch ich werde noch mal lernen! . . .«

»Aber Perfischka wird's dir nicht erlauben! . . .«

»Dann lauf ich weg«, versetzte Paschka kurz entschlossen.

Und in der Tat ging bald darauf der Schuster umher und erzählte lachend:

»Mein Geselle ist weggelaufen – der kleine Teufel!«

Es war ein regnerischer Tag. Ilja musterte den zerzausten Schuster, sah dann zu dem grauen, düstren Himmel auf und empfand Mitleid mit Paschka, der sich jetzt Gott weiß wo herumtreiben mochte. Er stand mit Perfischka unter dem Dache eines Schuppens, drückte sich gegen die Wand und schaute nach dem Hause hinüber. Es schien Ilja, daß das Haus immer niedriger wurde, als ob es in die Erde versänke. Die alten Rippen traten immer schärfer hervor, wie wenn der Schmutz, der sich seit Jahrzehnten in den Eingeweiden dieses Bauwerks angesammelt hatte, nicht mehr in ihm Platz hätte und es auseinandertriebe. Ganz und gar vom Elend durchtränkt, immer nur von wüstem Lärm und gramvollen, trunkenen Liedern erfüllt, beständig zerstampft und durch Fußtritte mißhandelt, vermochte dieses Haus nicht länger sein Leben zu fristen und zerfiel langsam, indem es mit den trüben Glasaugen traurig in Gottes Welt hinausschaute.

»Äh,« meinte der Schuster, »die alte Bude wird bald zusammenkrachen, und der ganze Krempel wird auf der Erde herumkollern. Und wir, die wir drin wohnen, gehen in alle Winde . . . Neue Löcher werden wir uns anderwärts suchen . . . Wir werden schon welche finden, nicht schlechter als diese hier. Ein ganz neues Leben wird dann beginnen: andre Fenster, andre Türen werden wir haben, sogar andre Wanzen werden uns beißen! . . . Wenn's nur recht bald wäre! Hab' ihn schon über, diesen Palast.«

Doch der Traum des Schusters sollte sich nicht erfüllen: das Haus krachte nicht zusammen, sondern wurde von dem Büfettier Petrucha gekauft. Sobald der Kauf perfekt geworden war, kroch Petrucha zwei Tage lang in allen Ecken und Winkeln herum und befühlte und untersuchte den alten Rumpelkasten an allen Enden. Dann wurden Ziegelsteine und Bretter angefahren, das Haus ward mit einem Gerüst umgeben, und zwei Monate lang hintereinander ächzte und bebte es nun unter der Axtschlägen der Werkleute. Es wurde daran herumgesägt und herumgehackt, Nägel wurden eingeschlagen, alte Rippen wurden unter lautem Krachen und Aufwirbeln von Staub herausgebrochen und neue dafür eingesetzt, und zu guter Letzt wurde um die alte Bude eine Bretterverkleidung gelegt, nachdem ihre Fassade um einen neuen Anbau verbreitert worden war. Untersetzt und breit ragte das Haus jetzt über den Erdboden empor, gerade und fest, wie wenn es neue Wurzeln tief in ihn hineingetrieben hätte. An der Fassade hatte Petrucha ein großes Aushängeschild anbringen lassen, das in Goldlettern auf blauem Grunde die Aufschrift trug:

»Fröhlicher Zufluchtsort der Freunde des P. J. Filimonow.«

»Und inwendig ist es doch durch und durch verfault«, meinte Perfischka spöttisch.

Ilja, zu dem er die Bemerkung machte, lächelte verständnisinnig. Auch ihm erschien das Haus nach seinem Umbau als ein großer Betrug. Er dachte an Paschka, der jetzt irgendwo an einem andern Orte lebte und ganz andre Dinge sah. Auch Ilja träumte, wie der Schuster, von anderen Fenstern, Türen, Menschen . . . Jetzt ward es im Hause noch ungemütlicher als früher. Die alte Linde war der Axt zum Opfer gefallen, der trauliche Winkel in ihrem Schatten war verschwunden und auf dem Platze ein neuer Anbau entstanden. Auch die übrigen Lieblingsplätzchen, an denen die Kinder früher plaudernd zusammengesessen hatten, waren nicht mehr vorhanden. Nur an der Stelle, wo früher die Schmiede gestanden, hinter einem großen Haufen von Spänen und modrigem Holz, war ein stilles Plätzchen geblieben. Aber dort zu sitzen, war nicht geheuer – Ilja hatte immer das Gefühl, als ob unter dem Holzhaufen Ssawels Weib mit dem zerschmetterten Schädel läge.

Petrucha hatte für Onkel Terentij eine neue Wohnung bestimmt – es war ein kleines Zimmer hinter dem Büfett, in das durch den dünnen, mit grünen Tapeten beklebten Bretterverschlag der ganze Lärm der Schenke samt dem Branntweindunst und dem Tabaksqualm hereindrang. Es war sauber und trocken in Terentijs neuer Kammer, und doch war es unbehaglicher darin als im Keller. Das Fenster ging auf die graue Schuppenwand hinaus, die Himmel und Sonne und Sterne verdeckte, während man alles das aus dem Fenster des Kellers, wenn man niederkniete, ganz bequem sehen konnte.

Onkel Terentij kleidete sich fortan in ein fliederfarbiges Hemd, über dem er ein Jackett trug, das an ihm wie über eine Kiste gespannt hing. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend steckte er jetzt hinter dem Büfett. Er sprach nun alle Leute nur noch mit »Ihr« an, redete im übrigen nur wenig, in abgerissener, trockener Weise, wie wenn er bellte, und schaute seine Kunden hinter dem Büfett hervor mit den Augen eines Hundes an, der das Gut seines Herrn bewachte. Für Ilja kaufte er eine graue Tuchjacke, Stiefel, Paletot und Mütze, und als der Knabe diese Sachen zum ersten Male anzog, fiel ihm wieder lebhaft der alte Lumpensammler ein. Er sprach mit dem Onkel fast gar nicht, und sein Leben verlief einförmig und still. Und obschon die eigentümlichen, unkindlichen Gefühle und Gedanken, die in ihm aufgekeimt waren, seinen Geist beschäftigten, so lastete doch auf ihm der Druck einer erstickenden Langweile. Immer häufiger mußte er an das Dorf zurückdenken. Jetzt schien es ihm ganz klar und deutlich, daß es sich dort besser lebe: alles war dort stiller, einfacher, verständlicher. Er erinnerte sich der dichten Wälder von Kershenez und der Erzählungen Onkel Terentijs von dem Einsiedler Antipa, und der Gedanke an Antipa rief in ihm die Erinnerung an einen andern Einsamen wach: an Paschka. Wo war er nur? Vielleicht war er gleichfalls in die Wälder geflüchtet, hatte sich da eine Höhle gegraben und lebte darin. Der Sturmwind braust durch den Wald, die Wölfe heulen. Es ist so schauerlich und doch auch so schön anzuhören. Und im Winter, bei Sonnenschein, blitzt dort alles wie Silber, und es ist so still, daß man gar nichts hört außer dem Knirschen des Schnees unter den Füßen, und wenn man unbeweglich stehenbleibt, vernimmt man nichts weiter als das Klopfen des eignen Herzens.

In der Stadt ist es immer so wüst und geräuschvoll, selbst die Nacht ist von Lärm erfüllt. Die Menschen singen Lieder, schreien nach der Polizei, skandalieren, Droschken fahren hin und her und machen mit ihrem Gerassel die Fensterscheiben erzittern. Auch in der Schule war ein solcher Lärm, die Knaben schrien und trieben allerhand Unfug. Und die Großen auf den Gassen schimpfen und prügeln sich in der Betrunkenheit. Die Menschen sind hier alle wie von Sinnen, die einen sind Betrüger, wie Petrucha, andere böse und zornig, wie Ssawel, und wiederum andere so jammervoll elend wie Perfischka, oder Onkel Terentij, oder auch Matiza . . . Ganz besonders aufgebracht war Ilja über das Benehmen des Schusters.

Eines Morgens, als Ilja sich für die Schule fertigmachte, kam Perfischka in die Schenke. Ganz zerzaust, unausgeschlafen und schweigsam stand er am Büfett und schaute Terentij an. Sein linkes Auge zuckte beständig und blinzelte, und seine Unterlippe hing in ganz seltsamer Weise herab. Onkel Terentij sah ihn an, lächelte und goß ihm ein Gläschen zu drei Kopeken ein, die gewöhnliche Morgenportion Perfischkas. Perfischka nahm mit zitternder Hand das Glas und goß es in die Kehle, schmatzte jedoch nicht dazu und bestätigte auch die Güte des Getränks nicht, wie sonst, durch einen Fluch. Wiederum schaute er dann in ganz merkwürdiger Weise mit dem linken, zuckenden Auge auf den neuen Büfettier, während das rechte trüb und unbeweglich war und gar nichts zu sehen schien.

»Was ist denn mit deinem Auge?« fragte ihn Terentij.

Perfischka fuhr mit der Hand über das Auge, schaute dann auf die Hand und sagte laut und mit scharfer Betonung:

»Unsere Gattin Awdotja Petrowna ist mit Tode abgegangen . . .«

»Was? . . . Wirklich?« fragte Onkel Terentij, während er einen Blick nach dem Heiligenbilde warf und sich bekreuzte. »Der Herr sei ihrer Seele gnädig!«

»Wie?« fragte Perfischka, immer noch still in Terentijs Gesicht schauend.

»Ich meinte; der Herr sei ihrer Seele gnädig!«

»So, so . . . Ja . . . sie ist tot! . . .« sagte der Schuster. Dann machte er plötzlich kehrt und ging hinaus.

»Ein sonderbarer Mensch,« murmelte Terentij kopfschüttelnd. Auch Ilja fand das Benehmen des Schusters recht sonderbar . . . Als er in die Schule ging, sprach er auf einen Augenblick im Keller vor, um sich die Tote anzusehen. Dort war es dunkel und eng. Die Weiber aus den Dachstuben waren gekommen, sie standen in einer Gruppe um das Bett der Toten und plauderten halblaut. Matiza paßte der kleinen Maschka gerade ein Kleid an und fragte sie:

»Schneidet es unter den Armen?«

Und Mascha, die mit seitwärts gestreckten Armen dastand, sagte mit kapriziöser Stimme:

»Ja–a–a!«

Der Schuster saß, nach vorn gebeugt, auf dem Tisch und schaute seine Tochter an, während sein Auge beständig zuckte. Jlja betrachtete das bleiche, aufgedunsene Gesicht der Toten, erinnerte sich ihrer dunklen Augen, die jetzt für immer geschlossen waren, und ging hinaus, ein peinliches, nagendes Gefühl im Herzen.

Und als er aus der Schule heimkehrte und in die Schenke trat, hörte er, wie Perfischka auf der Harmonika spielte und in keckem Tone sang:

»Ach, du meine liebe Braut,
Hast das Herze mir geraubt!
Warum hast du es genommen,
Und wohin ist es gekommen?«

»Ach ja! . . . Da haben mich nun die Weiber hinausgejagt! Mach', daß du fortkommst, schrien sie, Scheusal! Alter Saufsack, sagten sie zu mir . . . Ich fühl' mich dadurch nicht gekränkt . . . bin ein geduldiges Lamm . . . Schimpft, soviel ihr wollt, schlagt mich meinetwegen . . . Nur laßt mich ein bißchen aufleben! Bitte, erlaubt es! . . . Ach, ihr Brüder! Jeder Mensch will doch mal das Leben genießen. Ist's nicht so? Ob's Waska oder Jakob sei – die Seele bleibt stets einerlei:

»Sagt mir doch – wer weint denn dort?
Was will er hier an diesem Ort?
Sei still, mein Freund, und klage nicht,
Steck' dir 'n Stück Brot ins Angesicht!«

Es lag ein Ausdruck verzweifelter Lustigkeit in Perfischkas Gesicht. Ilja schaute ihn an und empfand zugleich Widerwillen und Furcht. Er dachte in seinem Innern, daß Gott den Schuster für eine solche Aufführung am Todestage seines Weibes ganz bestimmt schwer strafen werde. Perfischka aber war noch am nächsten Tage betrunken, ja auch hinter dem Sarge der Frau ging er schwankend einher, blinzelte mit dem einen Auge und lächelte sogar. Alle schalten ihn wegen seines Benehmens, sogar ein paar Kopfstücke bekam er . . .

»Weißt du was?« sagte Ilja am Abend des Begräbnistages zu Jakow – »der Perfischka ist doch ein richtiger Ketzer!«

»Hol' ihn der Kuckuck!« versetzte Jakow gleichgültig.

Ilja hatte schon früher bemerkt, daß Jakow sich in der letzten Zeit sehr verändert hatte. Er ließ sich gar nicht mehr im Hofe sehen, sondern saß immerfort zu Hause und schien sogar absichtlich einer Begegnung mit Ilja aus dem Wege zu gehen. Zuerst dachte Ilja, daß Jakow ihn wegen seiner Erfolge in der Schule beneide und zu Hause sitze, um für die Schule zu arbeiten. Es zeigte sich jedoch, daß er jetzt noch schlechter lernte als früher; der Lehrer mußte ihn immer wieder wegen seiner Zerstreutheit und seiner Unfähigkeit, die einfachsten Dinge zu begreifen, tadeln. Jakows Äußerung über Perfischka wunderte Ilja gar nicht: Jakow hatte für die Vorgänge im Hause nie besondere Teilnahme gezeigt. Ilja wollte jedoch um jeden Preis dahinterkommen, was eigentlich mit seinem Freunde vorging, und er fragte ihn:

»Wie bist du denn eigentlich jetzt gegen mich? Willst nicht mehr mit mir Freund sein?«

»Ich? Nicht mehr Freund sein? Was redest du da?« rief Jakow ganz verwundert und sagte dann plötzlich mit lebhafter Miene:

»Hör', du – geh mal jetzt nach Hause! . . . Ich komme gleich nach . . . Was ich dir zeigen werde!«

Er sprang auf und lief fort, während Ilja, aufs höchste gespannt, sich in seine Kammer begab. Hier erschien auch Jakow bald. Er verschloß die Tür hinter sich, ging ans Fenster und zog ein rotes Buch aus seiner Jacke.

»Komm her«, sagte er ganz leise, während er sich auf Onkel Terentijs Bett setzte und Ilja neben sich Platz machte. Dann schlug er das Buch auf, legte es auf seine Knie, beugte sich darüber und begann, mit dem Finger auf dem grauen Papier hin und her fahrend, laut vorzulesen:

»Und plötz . . . plötzlich sah der tapfere Ritter in der Ferne einen Berg . . . so hoch, daß er bis an den Himmel reichte, und mitten darin war eine eiserne Tür. Da entflammte das Feuer des Mutes . . . in seinem tap . . . tapferen Herzen . . . Er legte die Lanze ein und stürzte mit gewaltigem Rufen vorwärts, wobei er sein Pferd ansp . . . spornte, und rannte mit seiner ganzen gewaltigen Kraft gegen das Tor an. Da erdröhnte ein furchtbarer Donnerschlag . . . Das Eisen der Tür flog in Stücke . . . Und zu gleicher Zeit strömte aus dem Berge Feuer und Qu . . . Qualm, und eine Donnerstimme ließ sich vernehmen . . . von welcher die Erde erbebte und die Steine vom Berge zu den Füßen des Rosses niederrollten. ›Aha! Da bist du ja . . . kecker Tollkopf! . . . Ich und der Tod erwarten dich schon längst.‹ Der Ritter war von dem Feuer und Rauch geblendet . . .«

»Wer . . . wer ist denn das?« fragte Ilja ganz erstaunt, während er auf die vor Erregung zitternde Stimme des Freundes lauschte.

»Wie?« sagte Jakow, das blasse Antlitz vom Buche emporhebend.

»Wer ist denn . . . der Ritter?«

»Das ist so einer, der auf dem Pferde reitet . . . mit einer Lanze . . . Raoul Ohnefurcht heißt er . . . Ein Drache hat ihm seine Braut geraubt, die schöne Luisa . . . Aber hör' weiter«, brach Jakow ungeduldig ab.

»Gleich, gleich! . . . Sag' nur – wer ist der Drache?«

»Das ist eine Schlange mit Flügeln . . . und mit Füßen, eiserne Krallen sind dran . . . Drei Köpfe hat sie und atmet Feuer aus – verstehst du?«

»Wetter noch mal!« rief IIja, die Augen weit aufreißend. »Die wird's ihm aber besorgen! . . .«

Dicht beieinander sitzend, feierten die beiden Knaben, zitternd vor Neugier und seltsam freudiger Spannung, ihren Einzug in eine neue Wunderwelt, in der gewaltige, böse Ungeheuer unter den mächtigen Streichen tapferer Ritter verröchelten, in der alles großartig, schön und wunderbar war und nichts dem grauen, eintönigen Alltagsleben glich. Da gab es keine betrunkenen, zerlumpten Zwergmenschen, und statt der halbverfaulten hölzernen Baracken standen da goldschimmernde Paläste und himmelaufstrebende, unnahbare eiserne Burgen. Und während sie in Gedanken dieses wunderbare, phantastische Reich der Dichtung durchwanderten, spielte nebenan der tolle Schuster Perfischka auf seiner Harmonika und sang dazu seine gereimten Schnurren:

»Und bin ich einmal mausetot,
Soll mich der Teufel doch nicht kriegen,
Weil ich schon bei lebend'gem Leib
Ihm sicher werd' erliegen!«

»Klopf lustig morgen wie heute, Gott liebt die fröhlichen Leute!«

Die Harmonika begann von neuem zu wimmern, wie wenn sie sich bemühte, die vorauseilende Stimme des Schusters einzuholen, er aber sang um die Wette mit ihr irgendeine lustige Tanzmelodie:

»Klag' nicht, daß in der Jugend du
Viel Kälte hast ertragen –
Dafür wird in der Hölle dich
Die Hitze weidlich plagen!«

Jede Strophe rief bei den Zuhörern Lachsalven und reichen Beifall hervor. In der kleinen Kabine aber, die nur durch eine dünne Bretterwand gegen dieses wirre Chaos von Tönen abgegrenzt war, saßen die beiden Knaben, über das Buch gebeugt, und der eine von ihnen las leise:

»Da packte der Ritter das Ungetüm mit seinen ehernen Armen, und es brüllte donnergleich auf vor Schmerz und Wut . . .«


 << zurück weiter >>