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Nach dem Buche vom Ritter und dem Drachen kam ein ähnliches wunderbares Buch an die Reihe: »Guak oder die unbesiegliche Treue«, dann folgte die »Geschichte vom tapferen Prinzen Franzil von Venedig und der jungen Königin Renzivena«. Die Eindrücke der Wirklichkeit machten in Iljas Seele ganz den Rittern und Damen Platz. Die beiden Kameraden stahlen abwechselnd aus der Ladenkasse Zwanzigkopekenstücke und hatten somit durchaus keinen Mangel an Büchern. Sie machten sich mit den kühnen Fahrten des »Jaschka Smertenskij« bekannt. Sie gerieten in Entzücken über »Japantscha«, den tatarischen Räuberhauptmann, und entfernten sich immer mehr von der unbarmherzigen Wirklichkeit des Lebens in ein Gebiet, in dem die Menschen stets die drückenden Fesseln des Schicksals zu zerreißen und allezeit das Glück zu erjagen wissen.
Eines Tages wurde Perfischka auf die Polizei gerufen. Mit ziemlich bangem Gefühl ging er hin, kam jedoch um so vergnügter wieder zurück und brachte Paschka Gratschew mit, den er an der Hand festhalten mußte, damit er ihm nicht wieder fortlief. Paschkas Augen blickten noch immer so scharf und hell wie früher, er war jedoch ganz schrecklich abgemagert und gelb geworden, und sein Gesicht hatte nicht mehr den alten, vorwitzigen Ausdruck. Der Schuster brachte ihn mit in die Schenke und begann dort zu erzählen, während sein linkes Auge krampfartig zuckte:
»Seht nur, meine Lieben, da haben wir Herrn Pawlucha Gratschew wieder, in eigenster Person! Eben ist er aus der Stadt Pensa angelangt, per Polizeischub . . . Was gibt's doch für Menschen auf Gottes Erden – wollen daheim nicht glücklich werden! Kaum haben sie sich auf zwei Beine gestellt, suchen sie's Glück in der weiten Welt!«
Paschka stand neben ihm, die eine Hand in der Tasche seines zerrissenen Beinkleides haltend, während er die andere aus der Hand des Schusters zu befreien suchte, den er von der Seite finster ansah. Irgend jemand riet Perfischka, Paschka ordentlich durchzuprügeln. Dieser aber sagte ernsthaft, indem er Paschka losließ:
»Weshalb? Mag er doch wandern durch die Welt, vielleicht findet er mal sein Glück dabei.«
»Aber er wird gewiß Hunger haben!« warf Terentij ein, und während er dem Jungen ein Stück Brot reichte, sagte er freundlich:
»Da – iß, Paschka!«
Gelassen nahm Paschka das Brot und ging nach der Schenkentür zu.
»Fi–juh!« pfiff der Schuster hinter ihm her. »Auf Wiedersehen, liebes Freundchen!«
Ilja, der diese Szene von der Tür seiner Kammer aus beobachtet hatte, rief Paschka zurück. Dieser besann sich einen Augenblick, bevor er Iljas Rufe folgte, ging dann jedoch zu ihm hinein und fragte, während er sich mißtrauisch in dem Kämmerchen umsah:
»Was willst du von mir?«
»Guten Tag wollt' ich dir sagen . . .«
»Na, guten Tag!«
»Setz' dich doch!«
»Warum?«
»So! Wir wollen plaudern . . .«
Die mürrischen Fragen Gratschews und seine heisere Stimme machten auf Ilja einen schmerzlichen Eindruck. Er hätte Paschka gar zu gern gefragt, wo er gewesen, und was er alles gesehen. Aber Paschka, der auf dem Stuhle Platz genommen hatte und an dem Stück Brot kaute, begann seinerseits ihn auszufragen:
»Bist du schon fertig mit der Schule?«
»Zum Frühjahr komme ich raus . . .«
»Und ich hab' schon ausgelernt, siehst du! . . .«
»Wieso denn?« rief Ilja ungläubig.
»Das ging schnell bei mir, was?«
»Wo hast du denn gelernt?«
»Im Gefängnis, bei den Arrestanten! . . .«
Ilja ging näher zu ihm heran, und während er respektvoll in Paschkas mageres Gesicht schaute, fragte er:
»War's dort schlimm?«
»Durchaus nicht! . . . Vier Monate . . . hab' ich gesessen, ich war in vielen Gefängnissen und in verschiedenen Städten. Feine Leute hab' ich dort kennengelernt, mein Lieber, auch Damen waren darunter! . . . Wirkliche Herrschaften! Redeten alle möglichen Sprachen . . . Ich hab' ihnen immer die Zelle aufgeräumt. Sehr vergnügte Leute waren es, wenn's auch Arrestanten waren . . .«
»Sind's Räuber gewesen?«
»Nein, aber richtige Spitzbuben«, versetzte Paschka stolz.
Ilja blinzelte mit den Augen, und sein Respekt vor Paschka wuchs noch mehr.
»Waren es Russen?«
»Ein paar Juden waren auch dabei . . . Prächtige Leute! . . . Ich sag' dir, Bruder, die haben's verstanden! Jeden haben sie geplündert, den sie in die Finger kriegten, aber gehörig! . . . Na, schließlich wurden sie gefaßt, und jetzt geht's nach Sibirien! . . .«
»Wie hast du denn da gelernt?«
»So . . . ich sagte einfach: Lehren Sie mich doch lesen – und da haben sie mir's beigebracht . . .«
»Hast du auch schreiben gelernt?«
»Mit dem Schreiben geht's noch schwach, aber lesen kann ich dir, soviel du willst! Hab' schon 'ne Menge Bücher gelesen . . .«
Als auf Bücher die Rede kam, wurde Ilja lebendig.
»Auch ich lese immer mit Jaschka zusammen«, sagte er. »Und was für Bücher!«
Beide begannen nun um die Wette all die Bücher zu nennen, die sie schon gelesen hatten. Mit einem Seufzer mußte Paschka zugeben:
»Ich sehe, ihr habt mehr gelesen, ihr Teufelskerle! Ich hab' meistens Verse gelesen. Dort hatten sie eine Menge Bücher, aber schön waren nur die mit Versen! . . .«
Bald kam auch Jakow herein. Er riß ganz erstaunt die Augen auf und lachte.
»Na, Schaf, was lachst du denn?« begrüßte ihn Paschka.
»Wo bist du gewesen?«
»Da wirst du nie hinkommen! . . .«
»Denk dir,« warf Ilja ein, »auch er hat dort Bücher gelesen! . . .«
»Wirklich?« sagte Jakow, und sogleich begann er sich Paschka freundlicher zu nähern.
In lebhaftem, wenn auch zusammenhanglosem Geplauder saßen die drei Knaben nebeneinander.
»Ich hab' euch Sachen gesehen – gar nicht erzählen läßt sich's!« rief Paschka ganz stolz und begeistert. »Einmal hab' ich zwei Tage lang nichts gefressen . . . nicht 'nen Happen! Im Walde hab' ich genächtigt . . .«
»War's ängstlich?« fragte Jakow.
»Geh doch hin, versuch's mal – dann wirst du's wissen! Und einmal haben mich die Hunde beinah totgebissen . . . In der Stadt Kasan war ich, dort haben sie einem Manne ein Denkmal aufgestellt – dafür, daß er Verse gemacht hat. Ein schrecklich großer Mann war's! Beine, sag' ich euch – so dick! Und die Faust so groß wie dein Kopf, Jaschka! Ich werde auch Verse machen, Brüder, ich hab's schon ein wenig gelernt . . .«
Er reckte sich plötzlich auf, zog die Beine zurück, und während er nach einem Punkte sah, sprach er mit ernster, wichtiger Miene rasch die Verse:
»Viel Menschen, satt und wohlgekleidet,
Gehn auf der Straße ab und zu,
Und bitt' ich um ein Stückchen Brot sie,
So heißt's: Geh deiner Wege, du!«
Er schwieg, sah die beiden Knaben an und senkte still den Kopf. Eine Minute etwa verharrten alle in verlegenem Schweigen. Dann fragte Ilja zögernd:
»Sind das Verse?«
»Hörst du's denn nicht?« schrie Paschka ihn ärgerlich an. »Es reimt sich doch: zu – du, also sind's eben Verse!«
»Natürlich sind's Verse«, warf Jakow lebhaft ein. »Du hast immer was auszusetzen, Ilja!«
»Ich hab' noch mehr Verse gedichtet«, wandte sich Paschka lebhaft zu Jakow um und platzte von neuem heraus:
»Grau sind die Wolken, die Erde feucht,
Bald kommt heran des Herbstes Zeit,
Und ich – ich hab' nicht Haus noch Hof,
Und Loch bei Loch ist in meinem Kleid! . . .«
»Ei, ei«, sagte Jakow und sah Paschka mit großen Augen an.
»Das waren richtige Verse«, gab diesmal Ilja zu.
Ein flüchtiges Erröten ging über Paschkas Gesicht, und er kniff die Augen zusammen, wie wenn ihm Rauch hineingekommen wäre.
»Ich werde auch lange Gedichte machen«, rühmte er sich, »Es ist gar nicht so schwer. Man geht im Freien und schaut um sich: Wald, Wälder – Feld, Felder . . . Oder: Bäume – Träume! . . . Ganz von selbst kommt es . . .«
»Und was wirst du jetzt machen?« fragte ihn Ilja.
Paschka ließ seinen Blick in die Runde schweifen, schwieg eine Weile und sagte endlich leise und unsicher:
»Irgend etwas . . .«
Gleich darauf fügte er in entschlossenem Tone hinzu:
»Wenn es mir nicht paßt, lauf ich wieder weg.«
Vorderhand blieb er jedoch bei dem Schuster, und an jedem Abend kamen die Kinder bei ihm zusammen. Im Keller war es stiller und gemütlicher als in Terentijs Kammer. Perfischka war nur selten zu Hause – er hatte alles vertrunken, was irgend zu vertrinken war, und arbeitete jetzt tagweise in fremden Werkstätten. Und wenn er keine Arbeit hatte, saß er in der Schenke. Er ging halb nackt und barfuß umher und trug allezeit seine alte Harmonika unterm Arm. Sie war gleichsam mit seinem Körper verwachsen, er hatte einen Teil seines fröhlichen Gemüts in sie hineingelegt. Sie waren einander beide so ähnlich – beide so reduziert und so eckig, dabei voll lustiger Lieder und Triller. In allen Werkstätten der Stadt kannte man Perfischka als unermüdlichen Sänger kecker, spaßiger Reimereien. Überall, wo er erschien, war er ein wohlgelittener Gast. Man hatte ihn gern, weil er es verstand, mit seinen Schnurren, Geschichten und Anekdoten das schwere, trübselige Dasein des arbeitenden Volkes zu erleichtern.
Hatte er ein paar Kopeken verdient, so gab er die Hälfte davon seiner Tochter – darauf beschränkte sich seine ganze Sorge um ihre Existenz. Im übrigen war Mascha ganz und gar Herrin ihres Schicksals. Sie war hübsch groß geworden, ihr schwarzes Lockenhaar fiel ihr tief auf die Schultern herab, die dunklen, großen Augen blickten so ernst, und mit ihrer zarten, geschmeidigen Gestalt spielte sie in ihrem Kellerwinkel vortrefflich die Rolle der Wirtin. Sie sammelte Späne auf den Bauplätzen, versuchte damit irgendeine Suppe zu kochen und ging bis zum Mittagessen mit hochgeschürztem Röckchen umher, ganz rußig, naß und geschäftig. Hatte sie sich ihre Mahlzeit bereitet, so räumte sie das Zimmer auf, wusch sich, zog ein sauberes Kleid an und setzte sich an den Tisch vor dem Fenster, um irgend etwas an ihrer Kleidung auszubessern.
Oft bekam sie Besuch von Matiza, die ihr Semmel, Tee und Zucker brachte und ihr einmal sogar ein blaues Kleid schenkte. Mascha benahm sich ihrem Besuch gegenüber wie eine erwachsene Person, eine richtige Hausfrau: sie stellte einen kleinen Samowar aus Blech auf den Tisch, und während sie den heißen, erquickenden Trank genossen, plauderten sie von verschiedenen Angelegenheiten und schimpften auf Perfischka. Matiza ließ sich förmlich hinreißen, wenn es über den Schuster herging, während Mascha mit ihrem feinen Stimmchen ihr zwar aus Höflichkeit recht gab, da jene ihr Gast war, aber doch eigentlich ohne Gehässigkeit von Perfischka sprach. In allem, was sie über den Vater sagte, klang eine entschiedene Nachsicht.
»Daß ihm die Leber verdorre!« brummte Matiza mit ihrem tiefen Baß, während sie wild die Augenbrauen zusammenzog. »Hat denn der Saufsack ganz vergessen, daß er ein kleines Kind zu Hause sitzen hat? So'n widerlicher Kerl! Krepieren soll er wie 'n Hund!«
»Er weiß doch, daß ich schon groß bin und alles selber machen kann!« versetzte Mascha.
»Mein Gott, mein Gott!« seufzte Matiza tief auf. »Was geht denn vor in Gottes großer Welt? Was wird mit dem Mädelchen geschehen? Auch ich hatte so'n Mädelchen, wie du bist! . . . Es ist dort geblieben, zu Hause . . . in der Stadt Chorol . . . Und es ist so weit nach der Stadt Chorol, daß, wenn ich auch hinfahren könnte, ich den Weg dahin nicht finden würde . . . So geht's mit dem Menschen! . . . Er lebt, lebt auf Erden und vergißt, wo er geboren ist . . .«
Mascha hörte gern die tiefe Stimme dieses Weibes mit den braunen Augen, die denen einer Kuh glichen. Und wenn auch Matiza stets nach Branntwein roch, so hinderte das Mascha doch nicht, sich auf ihren Schoß zu setzen, sich fest an ihren starken, wie ein Hügel hervortretenden Busen zu schmiegen und sie auf die vollen Lippen des hübsch geformten Mundes zu küssen. Matiza pflegte des Morgens zu kommen, und am Abend versammelten sich die Kinder bei Mascha. Sie spielten allerhand Kartenspiele, wenn sie keine Bücher hatten, doch waren sie mit diesen meist gut versehen. Mascha hörte mit Spannung zu, wenn sie lasen, und bei besonders schauerlichen Stellen schrie sie sogar leise auf.
Jakow war um die Kleine jetzt noch weit besorgter als früher. Er brachte ihr beständig von Hause Brot und Fleisch, Tee, Zucker und Petroleum in Bierflaschen, gab ihr zuweilen auch Geld, das ihm vom Bücherkaufen übrigblieb. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, das alles zu tun, und es geschah von seiner Seite alles so heimlich, daß niemand es merkte. Mascha nahm ihrerseits seine Bemühungen als etwas ganz Selbstverständliches hin und machte nicht viel Aufhebens davon.
»Jascha!« sagte sie – »es sind keine Kohlen mehr da!«
Und nach einiger Zeit brachte er ihr entweder Kohlen, oder er gab ihr ein Zweikopekenstück und sagte:
»Geh, kauf welche! . . . Ich konnte keine stehlen!«
Er brachte Mascha eine Schiefertafel und begann das Mädchen an den Abenden zu unterrichten. Es ging mit dem Unterricht langsam, nach zwei Monaten jedoch konnte Mascha immerhin alle Buchstaben lesen und auf die Tafel niederschreiben.
Ilja hatte sich gleichfalls an diese Beziehungen gewöhnt, und alle Leute im Hause schienen sie gleichsam zu übersehen. Manchmal stahl auch wohl Ilja im Auftrage seines Freundes irgend etwas aus der Küche oder dem Büfett und schleppte es zum Schuster in den Keller. Ihm gefiel das schlanke, brünette Mädchen, das verwaist war wie er selbst, namentlich aber gefiel es ihm, daß sie es verstand, sich so allein durch die Welt zu schlagen, und alles ganz so machte wie eine Erwachsene. Er hörte Mascha gern lachen und war beständig darauf bedacht, sie zum Lachen zu bringen. Und wenn ihm das nicht gelang, ärgerte er sich und reizte das Mädchen.
»Schwarze Schmudellotte!« rief er höhnisch.
Sie blinzelte mit den Augen und höhnte ihrerseits:
»Knochiger Satan! . . .«
Ein Wort gab das andere, und bald zankten sie sich in allem Ernst. Mascha wurde leicht heftig und warf sich auf Ilja in der Absicht, ihn zu kratzen, aber er lief vergnüglich lachend von ihr weg.
Eines Tages, als sie Karten spielten, wies er Mascha nach, daß sie betrogen hatte, und rief ihr in seiner Wut zu:
»Du . . . Liebste von Jaschka!«
Und dann ließ er noch ein häßliches Wort folgen, dessen Bedeutung er bereits kannte. Jakow war anwesend. Anfänglich lachte er, wie er jedoch sah, daß das Gesicht seiner Freundin sich schmerzlich verzog und Tränen in ihren Augen blitzten, wurde er blaß und verstummte. Und plötzlich sprang er vom Stuhl auf, warf sich auf Ilja, versetzte ihm einen Faustschlag gegen die Nase, packte ihn bei den Haaren und warf ihn zu Boden. Alles das geschah so rasch, daß Ilja gar nicht dazu kam, sich zu verteidigen. Dann stand er auf und stürzte, blind vor Wut und Schmerz, mit dem Kopfe voran auf Jakow los.
»Wart', mein Freund! Dich will ich . . .« rief er zornig.
Da sah er, wie Jakow, mit den Ellbogen auf den Tisch gestützt, bitterlich weinte, während Mascha neben ihm stand und mit tränenerstickter Stimme zu ihm sprach:
»Laß ihn laufen, den Heiden . . . den Bösewicht! . . . Sie sind alle schlecht . . . sein Vater ist auf Zwangsarbeit . . . und sein Onkel ist bucklig! . . . Ihm wird auch ein Buckel wachsen! Gemeiner Kerl du!« schrie sie, furchtlos auf Ilja losgehend. »Ekliger Grindkopf! . . . Lumpensammlerseele! Na, so komm doch her! Dir will ich schön das Gesicht zerkratzen! Na, geh doch los auf mich!«
Ilja rührte sich nicht vom Fleck. Es ward ihm schwer ums Herz beim Anblick des weinenden Jaschka, dem er nicht hatte wehtun wollen, und er schämte sich, mit einem Mädchen sich herumzuprügeln. Ihr wäre es nicht darauf angekommen, das sah er ihr schon an. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er den Keller und ging lange im Hofe umher, ein quälendes, bitteres Gefühl im Herzen. Dann trat er an das Fenster von Perfischkas Wohnung und spähte vorsichtig von oben hinein. Jakow spielte wieder Karten mit seiner Freundin. Mascha, deren untere Gesichtshälfte von dem Fächer der Karten bedeckt war, schien zu lachen, während Jakow in seine Karten schaute und unentschlossen mit der Hand bald die eine, bald die andere berührte. Es ward Ilja schwer ums Herz. Er spazierte noch ein Weilchen im Hofe hin und her und ging dann kühn entschlossen in den Keller zurück.
»Nehmt mich wieder auf!« sagte er, an den Tisch herantretend.
Sein Herz schlug heftig, sein Gesicht glühte, und die Augen waren niedergeschlagen. Jakow und Mascha schwiegen.
»Ich werde nicht mehr schimpfen! . . . Bei Gott, ich werde es nicht mehr tun!« fuhr Ilja fort und schaute die beiden an.
»Na, dann setz' dich schon . . . ach, du!« sagte Mascha.
»Dummkopf! Bist doch nicht mehr klein! . . . Mußt doch wissen, was du sprichst!«
»Nein, wir sind alle noch klein!« fiel Mascha Jakow ins Wort und schlug mit der Faust auf den Tisch auf. »Darum dürfen wir auch keine gemeinen Worte gebrauchen.«
»Du hast mich aber gehörig geschlagen!« sagte Ilja vorwurfsvoll zu Jakow.
»Hast es verdient!« warf Mascha in schulmeisterndem Tone und mit strenger Miene hin.
»Na, gut . . . ich bin nicht böse darum . . . Ich war schuld . . .« bekannte Ilja und lächelte verlegen Petruchas Sohne zu. »Wir wollen uns wieder vertragen – was?«
»Mir ist's recht. Nimm die Karten . . .«
»Wilder Teufel du!« sagte Mascha.
Damit war alles erledigt. Eine Minute später war Ilja wieder stirnrunzelnd in das Kartenspiel vertieft. Er setzte sich immer so, daß er gegen Mascha ausspielen konnte: es gefiel ihm ungemein, wenn sie verspielte, und während der ganzen Dauer des Spiels war Ilja immer nur darauf bedacht, sie hineinzulegen. Aber die Kleine spielte recht geschickt, und für gewöhnlich war Jakow der Verlierer.
»Ach, du – Glotzäugiger,« sagte dann Mascha mitleidig – »bist wieder der Dumme!«
»Hol' der Teufel die Karten!« versetzte Jakow. »'s ist langweilig, das ewige Spielen. Laßt uns lieber lesen!«
Sie holten ein zerrissenes, schmutziges Buch hervor und lasen die Leidensgeschichte der verliebten und unglücklichen »Kamtschadalin«.
Als Paschka Gratschew die drei Kinder so vergnügt sich die Zeit vertreiben sah, meinte er im Tone eines welterfahrenen Mannes:
»Ihr führt hier ein angenehmes Leben, ihr Schlauberger!«
Dann sah er auf Jakow und Mascha und fügte lächelnd, doch zugleich mit Ernst hinzu:
»Später kannst du ja Maschka heiraten, Jakow . . .«
»Dummkopf!« sagte Mascha lachend, und schließlich lachten alle vier im Chore.
Paschka war meist mit ihnen zusammen. Hatten sie ein Buch ausgelesen, oder machten sie eine Pause im Lesen, dann gab er seine Erlebnisse zum besten, und seine Erzählungen waren nicht weniger interessant als die Bücher.
»Wie ich's raus bekam, Brüder, daß die Sache ohne einen Paß ihre Schwierigkeiten hatte, da gebrauchte ich allerhand Kniffe. Sah ich 'nen Polizisten, so ging ich gleich schneller, wie wenn mich jemand geschickt hätte, oder ich hielt mich zu dem ersten besten Erwachsenen, als ob's mein Herr, oder mein Vater, oder sonst jemand wäre . . . Der Polizist guckt mich an und läßt mich laufen – er hat nichts gemerkt . . . In den Dörfern war's schön, dort gibt's überhaupt keine Polizisten: nur alte Männer, alte Weiber und Kinder, die Bauern sind auf dem Felde. Fragt mich jemand, wer ich bin, sag' ich: ein Bettler . . . Wem ich gehöre? Keinem, bin ohne Anhang . . . Woher ich komme? Aus der Stadt. Das ist alles! Sie geben mir zu essen, zu trinken – alles reichlich. Und gehen kannst du dort, wie du willst: kannst ganz schnell rennen oder auf dem Bauche kriechen . . . Überall ist Feld und Wald . . . Die Lerchen singen . . . auffliegen möchtest du am liebsten zu ihnen. Bist du satt – dann hast du keinen Wunsch weiter, könntest immer so gehen bis ans Ende der Welt. Ganz so ist's, wie wenn dich jemand vorwärtszieht . . . wie wenn die Mutter dich trägt. Aber ich hab' auch manchmal tüchtig gehungert – oho! Die Därme haben mir nur so geknurrt – so trocken war mir darin! Erde hätt' ich fressen können. Schwindlig wurde mir im Kopfe . . . Wenn ich dann aber ein Stück Brot kriegte und mit den Zähnen einhieb – a–ach, das schmeckte! Tag und Nacht hätt' ich essen können. Das war 'ne Lust! . . . Und doch war ich froh, wie ich schließlich ins Loch kam . . . Anfangs hatte ich schreckliche Angst, dann wurde ich aber ganz vergnügt. Ich hatte mich immer vor den Polizisten sehr gefürchtet. Ich dachte, wenn sie mich erst kriegen und zu hauen anfangen, schlagen sie mich tot. Und wie war's in Wirklichkeit? Ganz leise kommt er von hinten und faßt mich am Kragen – schwapp! Ich hatte mir bei einem Uhrmacher die Uhren im Schaufenster angesehen . . . Eine Masse Uhren waren da – goldene und andere. Mit einemmal: schwapp! Ich fang' an zu brüllen. Und er fragt mich ganz freundlich: »Wer bist du? Woher kommst du?« Na, ich sagte es natürlich – sie erfahren es ja doch schließlich: sie wissen alles . . . »Wohin willst du?« fragen sie weiter . . . »Ich wandre so durchs Land« . . . Sie lachen . . . Dann geht's ins Gefängnis . . . Dort lachen sie auch alle. Und dann nahmen jene Herren mich zu sich . . . Das waren euch Teufel, hoho!«
Von den »Herren« sprach Paschka fast nur in lauter Empfindungswörtern – sie hatten offenbar einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, doch hatten ihre Gestalten in seiner Erinnerung etwas Verschwommenes bekommen, so daß sie ihm wie ein großer, trüber Fleck erschienen. Beim Schuster blieb Paschka etwa einen Monat, dann verschwand er wieder. Später erfuhr Perfischka, daß er in eine Druckerei als Lehrling eingetreten sei und irgendwo in einem entfernten Stadtviertel wohne. Als Ilja davon hörte, war er voll Neid und sagte seufzend zu Jakow:
»Und wir beide werden wohl hier versauern müssen! . . .«