Maxim Gorki
Drei Menschen
Maxim Gorki

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XIII

Am folgenden Tage schritt Ilja langsam und schweigend in der Hauptstraße der Stadt auf und ab. Beständig sah er vor sich das höhnische Gesicht des Alten, die ruhigen blauen Augen Olympiadas und die Handbewegung, mit der sie ihm gestern das Geld gegeben hatte. In der frostigen Luft jagten sich scharfe, kleine Schneeflocken, die sein Gesicht wie Nadelspitzen trafen . . .

Er war soeben an einem kleinen Laden vorübergegangen, der in einer Vertiefung der Straße zwischen einer Kapelle und dem großen Hause eines reichen Kaufmanns versteckt lag. Über dem Eingang zu dem Laden hing ein verrostetes Schild mit der Aufschrift:

»Wechselgeschäft des W. G. Poluektow. Einkauf von altem Gold und Silber, Metallschmuck von Heiligenbildern, Kostbarkeiten jeder Art und alten Münzen.«

Als Ilja an der Tür des Ladens vorüberkam, war es ihm, als ob er hinter den Fensterscheiben das Gesicht eines kahlköpfigen alten Mannes gesehen hätte, das ihn höhnisch angrinste und ihm zunickte. Lunew fühlte einen unwiderstehlichen Drang, sich diesen Alten in der Nähe anzusehen. Einen Vorwand hatte er leicht gefunden: wie alle Kleinkrämer, hob er jede alte Münze auf, die ihm in die Hände fiel, und verkaufte sie an die Wechsler mit einem Aufschlag von zwanzig Kopeken für den Rubel. Auch jetzt steckten ein paar solche Münzen in seinem Beutel. Er kehrte zurück, öffnete keck die Tür des Ladens, trat mit seinem Hausierkasten ein, nahm die Mütze ab und grüßte:

»Wünsch' einen guten Tag!«

Der Alte saß hinter dem schmalen Ladentisch und nahm gerade die Metallbeschläge von einem Heiligenbilde ab, indem er die Nägelchen mit einem kleinen Stemmeisen lockerte. Er war ganz vertieft in seine Arbeit. Mit flüchtigem Blick streifte er den eintretenden Burschen, wandte sich sogleich wieder seiner Arbeit zu und sagte trocken, ohne aufzublicken:

»Guten Tag . . . Was ist gefällig? . . .«

»Haben Sie mich erkannt?« fragte ihn Ilja.

Der Alte blickte ihn zum zweitenmal an.

»Vielleicht hab' ich dich erkannt . . . Was willst du?«

»Sie kaufen doch alte Münzen?«

»Zeig' mal her!«

Ilja schob seinen Kasten auf den Rücken und suchte die Tasche, in der er den Beutel mit den Münzen hatte. Seine Hand vermochte die Tasche jedoch nicht zu finden: sie zitterte gleich seinem Herzen, das in Haß gegen den Alten und in Furcht vor ihm erbebte. Während er mit der Hand unter dem Schoße seines Paletots suchte, schaute er hartnäckig nach dem kahlen kleinen Schädel des Wechslers, und über seinen Rücken lief es wie ein kalter Schauer.

»Na, hast du sie bald?« fuhr ihn der Alte in ärgerlichem Tone an.

»Sogleich! . . .« antwortete Ilja leise.

Endlich gelang es ihm, seinen Geldbeutel herauszuziehen; er ging dicht an den Ladentisch heran und schüttete seine Münzen aus. Der Alte überflog sie mit einem Blicke.

»Weiter nichts? . . . Hm . . .«

Er nahm die Silbermünzen mit seinen dünnen gelben Fingern und betrachtete sie einzeln, wobei er vor sich hinmurmelte:

»Katharina die Zweite . . . Anna . . . Katharina . . . Paul . . . noch ein Paul . . . ein Kreuzrubel . . . ein Zweiunddreißiger . . . der Teufel mag die Prägung erkennen! Da – den mag ich nicht, er ist ganz abgegriffen . . .«

»Aber man sieht doch nach der Größe, daß es ein Viertelrubel ist«, sagte Ilja grob.

»Für fünfzehn Kopeken nehm' ich ihn . . . mehr gibt's nicht!«

Der Alte schob die Münzen auf die Seite, holte mit einer raschen Handbewegung seine Geldkasse hervor und begann in ihr zu suchen. Ilja holte mit dem Arm aus, und seine kräftige Faust traf den Alten gegen die Schläfe. Der Geldwechsler flog gegen die Wand und schlug mit dem Kopfe dagegen, er stemmte sich jedoch sogleich mit der Brust gegen den Ladentisch, hielt sich daran mit den Händen fest und streckte seinen dünnen Hals nach Ilja aus. Lunew sah, wie in dem kleinen, dunklen Gesichte die erschrockenen Augen blinzelten und die Lippen bebten, und er hörte das durchdringende, krächzende Flüstern des Alten:

»Um Gottes willen! . . . Mein Täubchen! . . .«

»Ha, du Lump!« rief Ilja leise und preßte mit Ekel den Hals des Alten zusammen. Er würgte und drückte ihn und begann ihn zu schütteln, der Alte aber röchelte und suchte ihn krampfhaft von sich abzuwehren. Seine Augen füllten sich mit Blut, wurden größer und größer und quollen von Tränen über. Die Zunge trat aus dem dunklen Munde hervor und bewegte sich hin und her, als ob sie den Mörder verspottete. Der warme Speichel tropfte auf Iljas Hand, und aus der Kehle des Alten drang ein heiseres, pfeifendes Gurgeln. Die kalten, gekrümmten Finger griffen nach Lunews Halse – er aber biß die Zähne zusammen, warf seinen Kopf zurück und schüttelte den schmächtigen Körper des Alten immer stärker, während er ihn über die Bank emporzog. Und er hätte die unter seinen Fingern knirschende Gurgel des Alten nicht losgelassen, wenn selbst jemand gekommen wäre und von hinten auf ihn losgeschlagen hätte. Voll Haß und Grauen sah er, wie die trüben Augen Poluektows immer größer wurden, und immer leidenschaftlicher, wilder würgte er ihn. Und in dem Maße, wie der Körper des Alten schwerer und schwerer ward, schwand der lastende Druck in Iljas Herzen. Endlich ließ er den Geldwechsler los und stieß ihn von sich, daß der leblose Körper am Ladentisch herunter schlaff zu Boden sank.

Lunew sah sich um: in dem Laden war es still und öde, und hinter der Tür, auf der Straße, fiel dichter Schnee. Auf dem Boden zu Iljas Füßen lagen zwei Stücke Seife, ein Portemonnaie und eine Strähne Band. Er begriff, daß diese Gegenstände aus seinem Kasten gefallen waren, nahm sie auf und legte sie an ihren Platz zurück. Dann beugte er sich über den Ladentisch und schaute noch einmal nach dem Alten. Dieser kauerte in dem schmalen Raum zwischen dem Ladentisch und der Wand. Sein Kopf hing auf die Brust herab, man sah nichts davon als den gelben, kahlen Hinterschädel. Da erblickte Lunew die offene Geldkasse – goldene und silberne Münzen blinkten ihm entgegen, Päckchen mit Papiergeld fielen ihm in die Augen . . . Er griff hastig nach einem der Päckchen, dann nach einem zweiten und dritten und steckte sie unter sein Hemd.

Vorsichtig, ohne sich zu beeilen, trat er auf die Straße hinaus, blieb drei Schritte von dem Laden entfernt stehen, deckte seine Waren sorgfältig mit der Wachstuchdecke zu und ging dann weiter inmitten der dichten Schneemasse, die aus unsichtbaren Höhen herabfiel. Rings um ihn, wie in ihm, wogte geräuschlos ein kalter, trüber Nebel. Mit gespannter Aufmerksamkeit suchte Iljas Auge ihn zu durchdringen. Plötzlich verspürte er einen dumpfen Schmerz in den Augen – er berührte sie mit den Fingern seiner rechten Hand und blieb, von Entsetzen gepackt, stehen, als ob seine Füße plötzlich am Boden festgefroren wären. Es schien ihm, daß seine Augen aus den Höhlen getreten waren, wie bei dem alten Poluektow, und er befürchtete, daß sie für immer so stark herausgequollen bleiben, sich nie wieder schließen und alle Leute in ihnen sogleich das begangene Verbrechen lesen würden. Es war, als ob sie ganz abgestorben wären. Er betastete mit den Fingern die Pupillen, fühlte einen jähen Schmerz in ihnen und versuchte, lange Zeit vergeblich, die Lider zu schließen. Die Furcht benahm ihm den Atem in der Brust. Endlich gelang es ihm, die Augen zu schließen. Er freute sich der Finsternis, die ihn plötzlich umgab, und ohne etwas zu sehen, stand er unbeweglich an einer Steile und atmete in tiefen Zügen die kalte Luft ein . . .

Irgend jemand stieß ihn an. Er sah sich rasch um und erblickte einen hochgewachsenen Menschen in einem kurzen Pelze, der an ihm vorüberging. Ilja sah dem Unbekannten nach, bis dieser in dem dichten Schneegestöber verschwunden war. Dann rückte er seine Mütze zurecht und schritt auf dem Trottoir weiter, wobei er immer noch den Schmerz in den Augen und eine Schwere im Kopfe verspürte. Seine Schultern zuckten, die Finger der Hand krampften sich unwillkürlich zusammen, und in seinem Herzen erwachte ein verwegener Trotz, der die Furcht daraus verbannte.

Er ging bis zur Straßenkreuzung, sah dort die graue Gestalt eines Polizisten und ging wie von ungefähr leise, ganz leise gerade auf ihn zu. Sein Herz stockte, während er sich jenem näherte.

»Das ist mal ein Wetterchen!« sagte er, trat dicht an den Polizisten heran und sah ihm keck ins Gesicht.

»Ja–a, das schneit nicht schlecht! Nu wird's, Gott sei Dank, auch wärmer werden«, antwortete der Polizist mit gemütlichem Ausdruck in dem großen, roten, bärtigen Gesicht.

»Wie spät ist es eigentlich?« fragte Ilja.

»Wollen mal sehen!« Der Polizist klopfte den Schnee von seinem Ärmel ab und steckte die Hand unter seinen Mantel.

Lunew fühlte sich zu gleicher Zeit beruhigt und doch auch wieder geängstigt in Gegenwart dieses Menschen. Er stieß plötzlich ein trockenes, gezwungenes Lachen aus.

»Was lachst du denn?« fragte ihn der Polizist, während er mit dem Nagel den Uhrdeckel öffnete.

»Wie du aussiehst – so förmlich vom Schnee verschüttet!« rief Ilja.

»Das soll einen nicht verschütten – wie mit Scheffeln schneit's ja! Halb zwei ist's jetzt. Fünf Minuten fehlen noch dran . . . Ja, Bruder, das setzt unsereinem bös zu, das Wetter . . . Du wirst jetzt in die Kneipe gehen, ins Warme, und ich muß hier noch bis sechs Uhr herumstehen. Da – sieh mal, wie dein Kasten vollgeschneit ist!«

Der Polizist seufzte und klappte den Uhrdeckel zu.

»Ja, ich geh' jetzt in die Schenke«, sagte Ilja mit spöttischem Lächeln und fügte aus irgendeinem Grunde hinzu: »Da drüben in die geh' ich.«

»Hab' mich nicht noch zum besten!« rief der Polizist mürrisch.

In der Schenke nahm Ilja am Fenster Platz. Aus diesem Fenster konnte man, wie er wußte, die Kapelle sehen, neben der Poluektows Laden lag. Jetzt aber war alles wie mit einer weißen Decke verhängt. Ilja schaute aufmerksam zu, wie die Flocken leise am Fenster vorüberhuschten, sich auf den Boden legten und die Fußspuren der Passanten wie mit weicher Watte zudeckten. Sein Herz schlug lebhaft und kräftig, doch dabei leicht. Er saß da und wartete gedankenlos, was weiter geschehen würde . . .

Als der Aufwärter ihm den Tee brachte, konnte er sich nicht enthalten zu fragen:

»Na, was ist auf der Straße los? Gibt's nichts Neues?«

»Wärmer ist's geworden, viel wärmer«, antwortete der Gefragte rasch und eilte davon.

Ilja goß sich ein Glas Tee ein, trank jedoch nicht; er rührte sich nicht und ging ganz in Erwartung auf. Dann stieg es plötzlich heiß in ihm auf – er knöpfte den Kragen seines Paletots auf, und als er mit den Händen sein Kinn berührte, fuhr er zusammen. Es schien ihm, daß es nicht seine Hände waren, sondern die fremden, kalten Hände eines andern, die ihn da berührt hatten. Er hielt sie ans Gesicht und betrachtete aufmerksam seine Finger – die Hände waren rein, doch kam ihm der Gedanke, daß es wohl nötig sein würde, sie tüchtig mit Seife zu waschen . . .

»Poluektow ist ermordet worden!« schrie plötzlich jemand in die Schenke hinein.

Ilja sprang vom Stuhle auf, wie wenn dieser Ruf ihm gegolten hätte. Aber auch alle übrigen Gäste gerieten in Bewegung und stürzten, unterwegs ihre Mützen aufsetzend, nach der Tür. Ilja warf ein Zehnkopekenstück auf das Tablett, hing seinen Warenkasten über die Schulter und folgte rasch den andern.

Vor dem Laden des Geldwechslers hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt. Polizisten liefen hin und her und schrien voll Amtseifer die Leute an; auch der Bärtige, mit dem Ilja gesprochen hatte, war darunter. Er stand an der Tür, hielt die Leute, die nach der Ladentür drängten, zurück, schaute alle mit verstörten Augen an und fuhr beständig mit seiner Hand über die linke Backe, die noch röter erschien als die rechte.

Ilja hatte sich in seiner Nähe aufgestellt und horchte auf die Gespräche der Menge. Neben ihm stand ein hochgewachsener, schwarzbärtiger Kaufmann mit einem strengen Gesichte, der stirnrunzelnd einem lebhaft erzählenden Alten in einem Fuchspelze zuhörte.

»Der Laufbursche kommt nach Hause«, berichtete der Alte, »und denkt, der Prinzipal sei ohnmächtig geworden. Er läuft zu Peter Stepanowitsch . . . ›Ach,‹ sagt er, ›kommen Sie doch rasch zu uns, der Herr ist krank geworden!‹ Na, der macht sich natürlich gleich auf, und wie er hinkommt, sieht er: der Alte ist tot! Wenn man so bedenkt: die Frechheit, mitten am hellen Tage, in einer so belebten Straße . . . nicht zu glauben ist's!«

Der schwarzbärtige Kaufmann hustete laut und sagte in strengem Tone:

»Das ist der Finger Gottes! Der Herr wollte offenbar seine Buße nicht annehmen . . .«

Lunew drängte sich vor, um noch einmal in das Gesicht des Kaufmanns zu schauen, und stieß ihn dabei mit seinem Kasten an. Der Kaufmann schob ihn mit dem Ellbogen zur Seite, warf ihm einen strafenden Blick zu und schrie:

»Wohin kriechst du denn mit deinem Kasten?«

Dann wandte er sich wieder zu dem Alten:

»Es steht geschrieben: auch nicht ein Haar fällt vom Haupte des Menschen ohne Gottes Willen . . .«

»Was soll man schon sagen«, sprach der Alte und stimmte ihm mit einem Kopfnicken bei. Und dann fügte er, mit den Augen zwinkernd, halblaut hinzu: »Es ist ja bekannt, daß Gott den Schelmen zeichnet . . . Der Herr verzeih' mir! Sündhaft ist's, darüber zu reden, aber auch das Schweigen ist schwer . . .«

Lunew lachte auf. Beim Anhören dieses Gespräches war es ihm, als ob neue Kraft und neuer Mut ihm zuströmte. Wenn ihn in diesem Augenblick jemand gefragt hätte: ›Hast du ihn ermordet?‹ – er würde ohne Furcht geantwortet haben:

»Ja! . . .«

Mit diesem Gefühl in der Brust drängte er sich durch die Menge, dicht neben den Polizisten. Dieser stieß ihn ärgerlich gegen die Schulter und schrie:

»Wohin denn? Was hast du hier zu suchen? . . . Geh deiner Wege!«

Ilja wich zurück, stieß auf einen der Umstehenden und bekam von neuem einen Stoß.

»Gebt ihm doch eins auf den Schädel! Ist der Kerl betrunken?« schrie jemand.

Da verließ Lunew das Gedränge, setzte sich auf die Stufen der Kapelle und lachte im stillen über die Menschen. Er hörte das Knirschen des Schnees unter ihren Füßen und die leise Unterhaltung, von der einzelne Brocken zu ihm herüberklangen:

»Mußte der Schuft gerade jetzt, wo ich Dienst habe, die Schweinerei hier anrichten!«

»In der ganzen Stadt hat er die höchsten Zinsen genommen . . .«

»Das hört ja heute nicht auf zu schneien . . .«

»Das Fell hat er seinen Schuldnern ohne Erbarmen über die Ohren gezogen . . .«

»Da, sieh! Seine Frau ist angekommen . . .«

»A–ach, die Unglückliche!« seufzte ein zerlumpter Bauer.

Lunew stand auf und sah, daß aus einem breiten Schlitten mit einem Bärenfell eine dicke, ältliche Frau in einer Saloppe und einem schwarzen Tuche schwerfällig ausstieg. Der Reviervorsteher und ein Herr mit einem roten Schnurrbart waren ihr beim Aussteigen behilflich.

»Ach, du lieber Gott!« ertönte ihre entsetzte Stimme. Alles ringsum schwieg.

Ilja schaute die Alte an und dachte an Olympiada.

»Ist denn sein Sohn nicht hier?« fragte jemand leise.

»Er ist in Moskau . . .«

»Der wird sich schon zu trösten wissen! . . .«

»Das will ich meinen! . . .«

Lunew war es angenehm, daß niemand Poluektow bedauerte, gleichzeitig jedoch erschienen ihm alle diese Menschen, mit Ausnahme des schwarzbärtigen Kaufmanns, dumm und unausstehlich. In dem Kaufmann steckte eine gewisse Strenge und Glaubensstärke, die andern aber standen da wie die Baumstämme im Walde und gefielen sich in ihrem widerlichen, schadenfrohen Geschwätz.

Er wartete noch so lange, bis der schmächtige Körper des Geldwechslers aus dem Laden getragen wurde, und ging dann nach Hause – erfroren, müde, doch ruhig. Zu Hause verriegelte er sich in seinem Zimmer und begann sein Geld zu zählen: in zwei dicken Päckchen befanden sich je fünfhundert Rubel in kleinen Scheinen, im dritten achthundertundfünfzig Rubel. Es war noch ein Päckchen mit Coupons da, die zählte er jedoch nicht. Er wickelte das ganze Geld in Papier ein und dachte, den Kopf mit den Händen stützend, darüber nach, wo er es verstecken sollte. Während er nachsann, fühlte er, daß er schläfrig wurde. Er beschloß, das Geld auf dem Boden zu verstecken, und begab sich, das Paket offen in den Händen tragend, sogleich hinauf. Im Hausflur begegnete er Jakow.

»Ah, du bist schon gekommen!« sagte Jakow. »Was trägst du denn da?«

»Das da?« tönte es von Iljas Lippen. Er fuhr zusammen aus Furcht, daß er sein Geheimnis ausplaudern könnte, und sprach hastig, während er das Paket in der Luft schwang: »Das ist Band . . . aus meinem Hausierkasten . . .«

»Kommst du Tee trinken?« fragte Jakow.

»Gleich komm' ich, sofort . . .«

Er ging rasch weiter; seine Füße traten unsicher auf, und sein Kopf war benommen, wie wenn er einen Rausch hätte. Als er die Bodentreppe hinaufstieg, ging er vorsichtig, in beständiger Angst, daß er ein Geräusch verursachen oder jemand begegnen könnte. Als er das Geld vergrub – neben dem Rauchfang, im Estrich – da schien's ihm mit einemmal, als ob jemand im Bodenwinkel, ganz im Dunkeln, sich versteckt hätte und ihn beobachtete. Er verspürte den lebhaften Wunsch, einen Ziegelstein nach jener Richtung zu werfen, doch kam er rasch zur Besinnung und stieg wieder leise hinunter. Er hatte nun keine Furcht mehr – es war, als ob er sie zugleich mit dem Gelde oben auf dem Boden gelassen hätte. Aber schwere Zweifel erwachten nun in seinem Herzen.

»Weshalb hab' ich ihn denn ermordet?« fragte er sich.

Als er den Keller betrat, empfing ihn Mascha, die sich am Ofen mit dem Samowar zu schaffen machte, mit dem freudigen Ausruf:

»Wie früh du heute da bist!«

»Das macht der Schnee«, sagte er. Und gleich darauf fügte er gereizt hinzu: »Was heißt überhaupt früh? Ich bin gekommen, wie immer . . . wenn's Zeit ist, zu kommen . . . Du siehst doch, daß es dunkel ist! . . .«

»Hier ist's auch zur Mittagszeit dunkel . . . Was schreist du überhaupt so?«

»Ich schreie, weil ihr alle wie Geheimpolizisten redet – ›bist so früh gekommen – wohin gehst du? – was trägst du da?‹ . . . Was geht euch das alles an?«

Mascha sah ihn durchdringend an und sagte vorwurfsvoll:

»Ei, ei, Ilja – wie hochmütig du geworden bist!«

»Hol' euch der Teufel!« schalt Lunew, während er am Tische Platz nahm. Mascha fühlte sich beleidigt, fuhr ihn heftig an und wandte sich dann ab, um in die Zugröhre des Samowars zu blasen. Zart und klein, wie sie war, schüttelte sie die schwarzen Locken, hustete und blinzelte, wenn der Rauch ihre Augen reizte. Ihr Gesicht war mager, und die dunklen Ringe um die Augen ließen diese noch glänzender erscheinen. Sie glich einer jener Blumen, die in verwachsenen Gartenwinkeln mitten unter Gras und Unkraut aufsprießen.

Ilja schaute sie an und sann darüber nach, daß dieses Kind so ganz allein lebte in der unterirdischen Höhle, daß es arbeitete wie die Erwachsenen, daß es keine Freuden kannte, vielleicht auch nie im Leben welche kennen lernen würde. Er aber konnte jetzt, wenn er nur wollte, so leben, wie er es sich immer gewünscht hatte – in Ruhe und Sauberkeit. Es war ihm wohl zumute bei diesem Gedanken, zugleich aber fühlte er sich vor Mascha schuldig.

»Mascha!« rief er leise.

»Na, was denn, du Wilder?« ließ sich Mascha vernehmen.

»Weißt du . . . ich bin ein recht schlechter Mensch«, sprach Lunew, und seine Stimme zitterte. Ob er es ihr sagen sollte?

Sie richtete sich auf und sah ihn lächelnd an.

»'s ist keiner da, der dich mal durchprügelte – das ist's!« sagte sie. Und dann trat sie rasch auf ihn zu und sprach hastig:

»Ach, lieber Ilja – bitte doch deinen Onkel, daß er mich mitnimmt – ja? Bitt' ihn darum! Ich wäre dir so dankbar!«

»Wohin denn?« fragte in müdem Tone Lunew, der ganz mit seinen Gedanken beschäftigt war und nicht auf ihre Worte geachtet hatte.

»Zu den heiligen Orten, mein Lieber – bitt' ihn!«

Sie faltete die Hände und stand vor ihm wie vor einem Heiligenbilde, während in ihre Augen Tränen traten.

»Wie schön wäre das doch!« sprach das Mädchen seufzend. »Im Frühjahr würden wir aufbrechen. Alle Tage sinn' ich darüber nach, ja ich träume sogar davon, daß ich gehe, gehe . . . Mein Lieber, sprich mit deinem Onkel, sag' ihm, er soll mich mitnehmen! Er hört ja auf dich . . . Sein Brot werde ich nicht essen . . . um Almosen will ich bitten . . . Ich bin so klein – man wird mir schon was geben. Willst du's tun, Iljuscha? Ich küsse dir die Hand dafür! . . .«

Und plötzlich faßte sie seine Hand und beugte sich darüber. Ilja stieß sie zurück und sprang vom Stuhle auf.

»Dummes Mädchen!« rief er laut. »Was tust du denn? Ich hab' einen Menschen erwürgt . . .«

Er erschrak über seine eignen Worte und fügte sogleich hinzu:

»Vielleicht . . . vielleicht hab' ich etwas sehr Böses mit diesen Händen getan . . . und du willst sie küssen?«

»So laß mich doch!« sprach Mascha, dicht an ihn herantretend. »Was wär' denn dabei? Gewiß küsse ich sie dir! Petrucha ist schlechter als du, und doch küss' ich ihm für jedes Stückchen Brot die Hand . . . Mir ist es zuwider, er will's aber haben – und so küss' ich sie ihm. Und dazu kneift und betastet er mich noch . . . der Unverschämte!«

Es war Ilja mit einemmal leicht und froh zumute – vielleicht davon, daß er jene schrecklichen Worte ausgesprochen, vielleicht auch davon, daß er nicht alles gesagt hatte. Er lächelte und sprach leise, mit gütiger Stimme zu dem Mädchen:

»Gut, ich will das beim Onkel durchsetzen. Weiß Gott, ich setz' es durch! Du sollst auf die Pilgerschaft gehen . . . Auch Geld will ich dir auf den Weg mitgeben . . .«

»Du mein Guter!« rief Mascha, hüpfte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals.

»Hör' doch auf!« sagte Lunew ernst. »Ich hab's gesagt – du gehst mit. Wirst für mich beten, Maschutka!«

»Für dich? O Gott! . . .«

In der Tür erschien Jakow und fragte Mascha verwundert:

»Was quiekst du denn so? Man hört's ja sogar auf dem Hofe!«

»Jascha!« schrie das Mädchen freudig bewegt und erzählte hastig: »Ich geh' auf die Pilgerfahrt . . . Ilja hat mir versprochen, dem Buckligen zuzureden . . .«

»So, so! . . .« sagte Jakow, schwieg ein Weilchen und begann dann leise zu pfeifen. »Jetzt bin ich ganz verloren!« fuhr er fort. »Ganz allein bleib' ich hier, wie der Mond am Himmel . . .«

»Miete dir doch eine Kinderfrau . . .« riet Ilja ihm lachend.

»Branntwein werde ich trinken«, sprach Jakow kopfschüttelnd.

Mascha sah ihn an, senkte den Kopf auf die Brust und ging nach der Tür zu. Von hier aus sprach sie in vorwurfsvollem, traurigem Tone:

»Was für ein schwacher Mensch bist du doch, Jakow!«

»Und ihr seid mal stark! Laßt einen Freund im Stich!«

Er setzte sich mit düstrer Miene an den Tisch, IIja gegenüber, und sagte:

»Soll ich am Ende auch mit Terentij gehen – ganz heimlich, wie?«

»Tu's! . . . Ich würde fortgehen! . . .« riet ihm Ilja.

»Du! . . . Aber mir wird der Vater die Polizei nachschicken!«

Sie schwiegen alle drei. Und dann begann Jakow mit erzwungener Heiterkeit:

»Es ist doch hübsch, betrunken zu sein! Man denkt an nichts, begreift nichts . . .«

Mascha stellte den Samowar auf den Tisch und sagte kopfschüttelnd:

»Ach, du . . . schämst du dich nicht, so zu reden?«

»Du kannst davon nicht sprechen«, rief Jakow ärgerlich. »Dein Vater kümmert sich nicht um dich . . . läßt dich machen, was du willst . . . Lebst ganz nach deinem Willen.«

»Ein schönes Leben!« versetzte Mascha. »Fortlaufen möcht' ich und mich gar nicht umsehen . . .«

»Es geht uns allen schlecht«, sagte Ilja leise und verfiel wieder in Nachdenken.

Dann begann Jakow, während er sinnend zum Fenster hinaussah:

»Wenn man so ganz und gar fortkönnte . . . irgendwohin! . . . Am Waldrande sitzen, oder an einem Flußufer, und über alles nachdenken . . .«

»Das wär' eine dumme Art, dem Leben aus dem Wege zu gehen!« sprach Ilja verdrießlich.

Jakow sah ihm forschend ins Gesicht und sprach mit einer gewissen Scheu:

»Weißt du – ich hab' da ein Buch gefunden . . .«

»Was für ein Buch?«

»Ein ganz altes . . . In Leder ist's gebunden, wie ein Psalter sieht's aus, und ist wohl . . . ein Ketzerbuch. Bei einem Tataren hab' ich's für siebzig Kopeken gekauft . . .«

»Wie ist sein Titel?« fragte Ilja obenhin. Er hatte durchaus keine Lust zum Reden, doch fühlte er, daß das Schweigen ihm gefährlich werden konnte, und zwang sich daher zum Sprechen.

»Der Titel ist abgerissen«, berichtete Jakow in gedämpftem Tone. »Es ist darin vom Ursprung der Dinge die Rede. Schwer ist's zu lesen . . . Es heißt dort, daß nach dem Ursprung der Dinge zuerst Thales von Milet geforscht hat: ›Der sagte, daß aus dem Wasser alles Sein herstammet, und daß Gott als eine Lebenskraft in den Dingen wohnet.‹ Und dann war noch ein Gottloser namens Diagoras, der lehrte, daß ›es nicht einen einzigen Gott gebe‹ – er hat also wohl an Gott nicht geglaubt. Und auch Epikur ist genannt, der meinte, daß wohl ›ein Gott ist, der sich aber um niemand bekümmert und für niemand sorgt‹. Das heißt also – wenn's auch einen Gott gibt, so gehn ihn die Menschen doch nichts an, so verstehe ich's wenigstens. Lebe, wie du willst – es gibt keinen, der auf deine Taten acht gibt . . .«

Ilja erhob sich vom Stuhle und unterbrach stirnrunzelnd die breiten Ausführungen des Freundes:

»Man sollte dieses Buch nehmen und dir damit eins auf den Schädel geben!«

»Weshalb?« rief Jakow, der sich durch Iljas Bemerkung verletzt fühlte, ganz verwundert.

»Damit du nicht mehr darin liest – Dummkopf! Und jener, der das Buch geschrieben hat, ist gleichfalls ein Dummkopf!«

Lunew ging um den Tisch herum, beugte sich über den dasitzenden Freund und begann leidenschaftlich, voll Ingrimm auf Jakow loszuschreien, wie wenn er seinen großen Kopf mit Hammerschlägen bearbeitete:

»Es gibt einen Gott! Er sieht alles! Er weiß alles! Neben Ihm – gibt's keinen! Das Leben ist dir gegeben, um dich zu erproben, und die Sünde, um dich zu prüfen. Wirst du standhalten – oder nicht? Hast du nicht standgehalten – trifft dich die Strafe . . . erwarte sie bestimmt! Nicht von den Menschen erwarte sie, sondern von Ihm – verstanden? Immer warte!«

»Halt ein!« rief Jakow. »Hab' ich denn davon etwas gesagt?«

»Ganz gleich! Wart' deine Strafe ab! Wie kannst du mein Richter sein, he?« schrie Lunew, bleich vor Erregung und Wut, die plötzlich über ihn gekommen war. »Kein Haar fällt von deinem Kopfe ohne Seinen Willen, hörst du? Wenn ich der Sünde verfallen bin – dann war das Sein Wille! Dummkopf!«

»Hast du den Verstand verloren – oder was sonst?« rief Jakow ganz erschrocken und lehnte sich an die Wand. »Was für einer Sünde bist du denn verfallen?«

Lunew hörte durch das Rauschen und Sausen in seinen Ohren diese Frage Jakows, und es war ihm, als ob ein kalter Hauch ihn anwehte. Er sah mißtrauisch auf Jakow und Mascha, die durch seine Aufregung und sein Schreien gleichfalls beunruhigt war.

»Ich rede doch nur beispielshalber«, sagte Ilja dumpf.

»Scheinst nicht gesund zu sein«, bemerkte Mascha schüchtern.

»Deine Augen sind so trübe«, fügte Jakow hinzu und musterte ihn aufmerksam.

Ilja fuhr unwillkürlich mit der Hand über seine Augen und antwortete leise:

»Es ist nichts weiter, es wird vorübergehen.«

Es war ihm jedoch peinlich und unbehaglich, mit Menschen zusammen zu sein, und er ging auf sein Zimmer, ohne den Tee abzuwarten.

Kaum hatte er sich auf sein Bett gestreckt, als Onkel Terentij erschien. Seit der Bucklige sich entschlossen hatte, an den heiligen Orten Vergebung seiner Sünden zu suchen, lag auf seinem Gesichte ein verklärter, seliger Ausdruck, als hätte er schon jetzt einen Vorgeschmack der Freude, die ihm die Lossprechung von seiner Sündenschuld bereiten sollte. Leise, mit lächelnden Lippen, trat er an das Bett seines Neffen und sprach, während er an seinem Bärtchen zupfte, mit freundlicher Stimme:

»Ich sah dich vorhin kommen . . . und da dacht' ich: ›Willst doch mal reingehen und mit ihm plaudern! . . .‹ Nicht lange mehr werden wir hier zusammen hausen!«

»Du gehst also wirklich?« fragte Ilja trocken.

»Sowie es wärmer wird. Zur Karwoche möcht' ich schon in Kiew sein.«

»Sieh mal an! Sag', möchtest du nicht die kleine Mascha mitnehmen?«

»Was? Nein, das geht nicht«, rief der Bucklige mit einer abweisenden Handbewegung.

»So hör' doch einmal«, sprach Ilja hartnäckig. »Sie ist hier ganz überflüssig . . . und steht jetzt in dem Alter . . . Jakow, Petrucha . . . und so weiter . . . Du verstehst mich doch? Dieses Haus hier ist für alle wie ein Abgrund . . . ein verfluchtes Haus! Mag sie gehen . . . vielleicht kommt sie nicht mehr zurück . . .«

»Aber wie kann ich sie denn mitnehmen?« entgegnete Terentij kläglich.

»Nimm sie nur, nimm sie«, sprach Ilja, auf seinem Vorhaben beharrend. »Kannst die hundert Rubel, die du mir geben willst, für sie verwenden . . . Ich hab' dein Geld nicht nötig . . . und sie wird für dich beten . . . Ihr Gebet hat viel zu bedeuten! . . .«

Der Bucklige sann nach und sprach nach einer Weile:

»Es hat viel zu bedeuten . . . das stimmt! Das hast du . . . ganz richtig gesagt . . . Das Geld aber kann ich von dir nicht nehmen. Damit bleibt's, wie wir es beschlossen haben . . . Und was Maschka anbelangt – so will ich's überlegen . . .«

Onkel Terentijs Augen leuchteten glücklich auf, und während er sich zu Ilja hinneigte, sprach er flüsternd, in freudiger Begeisterung:

»Was für einen Mann hab' ich gestern kennengelernt, mein Lieber! Einen berühmten Menschen, Peter Wassilitsch mit Namen . . . Hast noch nichts von dem Bibelkundigen Ssisow gehört? Ein Mensch von höchster Weisheit! Nur Gott der Herr selber kann ihn zu mir gesandt haben, damit er meine Seele befreie von den Zweifeln an der Gnade des Herrn gegen mich Sünder . . .«

Ilja lag schweigend da – er hatte nur den Wunsch, daß der Onkel ihn allein ließe. Mit halbgeschlossenen Augen schaute er zum Fenster hinaus, auf die hohe, dunkle Wand des Anbaus.

»Wir haben von den Sünden geredet, und von der Rettung der Seelen«, flüsterte Terentij in frommem Eifer. – »Er sprach: ›Wie der Meißel des Steines bedarf, damit er die rechte Schärfe erlange, so bedarf der Mensch auch der Sünde, damit seine Seele zerknirscht werde und er sie in den Staub niederwerfe zu Füßen des allbarmherzigen Herrn‹ . . .«

IIja sah den Onkel an und sprach mit höhnischem Lächeln:

»Sag' mal – ist dieser Bibelkundige nicht etwa dem Satan ähnlich?«

»Wie kann man nur so reden!« rief Terentij, von ihm abrückend. »Er ist doch ein gottesfürchtiger Mensch! . . . Viel berühmter ist er schon, als dein Großvater Antipa war . . . Ja–a, mein Lieber!«

Und während er vorwurfsvoll den Kopf schüttelte, schmatzte er mit den Lippen.

»Na, schon gut!« sagte Ilja unwirsch. »Was hat er denn sonst noch gesagt?«

Ilja ließ ein unangenehmes Lachen hören. Der Onkel rückte verwundert von ihm weg und sagte:

»Was ist denn mit dir?«

»Nichts weiter. Es war ganz richtig, was er da gesagt hat, dieser Bibelkundige . . . Paßt ganz auf mich . . . ach, hol's der Teufel! Bin ganz der gleichen Meinung . . . Punkt für Punkt! . . .«

Er schwieg, sah dem Onkel durchdringend in die Augen und kehrte sein Gesicht der Wand zu.

»Er sagte auch noch,« begann Terentij von neuem, gleichsam vorsichtig tastend, »daß die Sünde der Seele Flügel gibt – Flügel der Reue, auf denen sie sich zum Throne des Allerhöchsten erhebt . . .«

»Weißt du was?« unterbrach ihn Ilja wieder mit leisem Lachen – »auch du hast einige Ähnlichkeit mit dem Satan!«

Der Bucklige streckte die Arme zur Seite aus, wie ein großer Vogel, der die Flügel spreizt, und war ganz starr vor Entrüstung und Schrecken. Lunew aber richtete sich auf seinem Bett empor, stieß den Onkel mit der Hand in die Seite und sagte finster:

»Hebe dich weg von mir!«

Terentij erhob sich rasch und stand, seinen Buckel schüttelnd, mitten im Zimmer. Er schaute düster auf seinen Neffen, der auf dem Bett saß, mit beiden Armen sich stützend, die Schultern hoch emporgezogen und den Kopf tief auf die Brust gesenkt.

»Aber wenn ich nicht bereuen will?« fragte Ilja trotzig. »Wenn ich so denke: sündigen wollte ich nicht . . . alles ist von selbst gekommen . . . Alles geschieht nach Gottes Willen, was brauch' ich mich zu beunruhigen? Er weiß alles und lenkt alles . . . Wenn er es nicht gewollt hätte, hätte er mich zurückgehalten . . . Also hatte ich in dem, was ich tat, vollkommen recht! Alle Menschen leben in Unrecht und Sünde, wie viele sind's denn, die Buße tun?«

»Ich verstehe deine Worte nicht – Christus sei mit dir!« sprach Onkel Terentij traurig und stieß einen Seufzer aus.

»Verstehst du mich nicht,« rief Ilja lachend, »dann sprich erst gar nicht mit mir . . . laß mich ungeschoren!«

Er streckte sich wieder auf dem Bett aus und sagte nach einer Weile zu Terentij:

»Ich glaube wirklich, ich bin krank . . .«

»So scheint's auch mir«, sprach der Onkel.

»Schlafen möcht' ich . . . Geh, laß mich allein!«

Als Ilja allein war, fühlte er, wie in seinem Kopfe gleichsam ein Strudel sich wirbelnd drehte. All das Seltsame, das er in diesen wenigen Stunden durchlebt hatte, floß zu einem stickigen, heißen Nebel zusammen, der schwer auf sein Hirn drückte. Es schien ihm, daß er schon lange sich in diesem qualvollen Zustande befand, daß er den Alten nicht heute, sondern irgend einmal vor langer Zeit erdrosselt hatte . . .

Er schloß die Augen und lag unbeweglich da. In seinen Ohren ertönte die quiekende Stimme des Alten:

»Na, her mit deinen Münzen – mach' rasch!«

Die rauhe Stimme des schwarzbärtigen Kaufmanns, die rührende Bitte Maschas, die Worte des alten Ketzerbuches, die frommen Reden des Bibelkundigen – alles das tönte wirr und wüst durcheinander. Alles schwankte hin und her und zog ihn irgendwohin in die Tiefe. Er hatte nur noch das Bedürfnis nach Ruhe, nach Vergessen. Und er schlief ein . . .

Als er am Morgen erwachte, sah er an der hell bestrahlten Wand gegenüber dem Fenster, daß ein klarer, frostkalter Tag angebrochen war. Er rief sich die Ereignisse des gestrigen Tages ins Gedächtnis, belauschte gleichsam sich selbst und hatte das Gefühl, daß er nun schon wissen würde, wie er sich zu benehmen habe. Eine Stunde später ging er mit seinem Hausierkasten auf der Brust die Straße entlang, blinzelte mit den Augen, da der Schnee ihn blendete, und musterte ruhig die Leute, die ihm begegneten. Kam er an einer Kirche vorüber, so nahm er die Mütze ab und bekreuzte sich. Auch vor der Kapelle neben dem geschlossenen Geschäft Poluektows bekreuzte er sich und ging weiter, ohne eine Spur von Furcht, Bedauern oder sonst einem beunruhigenden Gefühl zu empfinden. Als er zur Mittagszeit in einer Schenke saß, las er in einer Zeitung den Bericht über die freche Ermordung des Geldwechslers. Der Schluß des Artikels lautete: »Von der Polizei sind energische Maßnahmen zur Ergreifung des Täters eingeleitet.« Als Ilja diese Worte las, schüttelte er ungläubig lächelnd den Kopf: er war fest davon überzeugt, daß man den Mörder niemals ergreifen würde, wenn er nicht selbst wünschte, daß man ihn faßte . . .


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