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Einstmals, an einem Feiertag, kam Ilja Lunew ganz blaß, mit verbissenem Gesichtsausdruck, nach Hause und warf sich unausgekleidet auf sein Bett. In seiner Brust lag der Zorn wie ein kalter Klumpen, ein dumpfer Schmerz im Nacken hinderte ihn, den Kopf zu bewegen, und es schien ihm, als ob von der bittern Kränkung, die ihm widerfahren war, der ganze Körper ihm weh täte.
Am Morgen dieses Tages hatte ein Polizist für ein Stück Eierseife und ein Dutzend Haken ihm erlaubt, mit seiner Ware vor dem Zirkus zu stehen, in dem gerade eine Tagesvorstellung stattfand, und Ilja hatte sich so recht bequem dicht am Eingang aufgepflanzt. Da kam der Gehilfe des Reviervorstehers, gab ihm eins in den Nacken, warf das Gestell um, auf dem sein Kasten stand – und Iljas ganzer Warenbestand lag am Boden. Einige Gegenstände fielen in den Schmutz und wurden verdorben, andere gingen verloren. Während Ilja seine Ware vom Boden aufhob, sagte er zu dem Gehilfen:
»Das ist ungesetzlich, Euer Wohlgeboren . . .«
»Wa–as? . . .« fragte der Beleidiger, an seinem roten Schnurrbart drehend.
»Sie dürfen nicht schlagen . . .«
»Meinst du? – Migunow, führ' ihn mal auf die Wache!« sagte der Gehilfe ruhig.
Und derselbe Polizist, der Ilja erlaubt hatte, vor dem Zirkus zu stehen, führte ihn nach der Wache, wo Lunew bis zum Abend festgehalten wurde.
Schon früher hatte Lunew kleine Konflikte mit der Polizei gehabt, auf der Wache aber hatte er zum erstenmal gesessen, und zum erstenmal empfand er in seinem Innern dieses bittere Gefühl der erlittenen Schmach und des Hasses.
Er lag mit geschlossenen Augen auf seinem Bett und vertiefte sich ganz in die qualvolle Empfindung des schmerzlichen Druckes, der auf seiner Brust lastete. Hinter der Wand, die seine Kammer von der Schenke trennte, vernahm man ein dumpfes Getöse und Stimmengewirr, wie wenn rasche, trübe Bäche vom Berge in den nebeligen Herbsttag hinabstürzten. Man hörte das Klappern der blechernen Präsentierteller, das Klirren des Geschirrs, das laute Rufen der Gäste, die Branntwein, Tee oder Bier bestellten . . . Die Kellnerburschen schrien:
»Sof–fort!«
Und den Lärm durchschnitt, wie ein zitternder Stahlfaden, eine hohe Kehlstimme, die schwermütig sang:
»Ich ho–offte nicht, dich zu verli–ieren . . .«
Eine zweite Stimme, ein volltönender Baß, der in dem Chaos des Schenkenlärms zerfloß, sang leise und harmonisch weiter:
»O Ju–ugend, und nun gi–ingst du hin!«
Irgend jemand schrie mit einer Stimme, die aus einer hölzernen, trockenen, rissigen Kehle zu kommen schien:
»Red' keinen Unsinn! Denn es steht geschrieben: ›Harre aus in Geduld, und ich werde dich stärken in der Stunde der Versuchung . . .‹«
»Redest selber Unsinn«, fiel eine zweite Stimme lebhaft ein. »Denn es steht ebenda geschrieben: ›Weil du weder kalt bist noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde . . .‹ Siehst du! Was hast du also bewiesen? . . .«
Lautes Lachen ertönte, und gleich darauf ließ sich eine quiekende Stimme vernehmen:
»Und ich gab ihr gleich eins in ihr niedliches Gesicht, und ans Ohr, und in die Zähne – schwapp, schwapp, schwapp!«
Die andern lachten, und die quiekende Stimme fuhr laut und schrill, sich überhastend, fort:
»Sie stürzt – pardauz! auf die Erde, und ich schlag' sie wieder in ihre hübsche Larve – da hast du! Hab' ich dich zuerst geküßt, darf ich dich auch hauen . . .«
»Heda, du – Bibelkundiger!« rief irgend jemand höhnisch.
»Nein, ich kann mich nicht halten, ich bin mal so hitzig!«
»›Ich liebe, klage an und strafe‹ . . . hast du vergessen? . . . Und dann noch eins: ›Richte nicht, damit du nicht gerichtet werdest!‹ . . . Und die Worte König Davids – hast du die vergessen?«
Ilja hörte den Streit, das Lied und das Lachen, doch alles das fiel in seiner Seele gleichsam daneben und weckte in ihm gar keine Vorstellung. Vor ihm im Dunkel schwebte das magere Gesicht des Polizeibeamten, der ihn so tief gekränkt hatte – mit der großen Hakennase, den boshaft blitzenden Augen und dem zuckenden roten Schnurrbart. Er starrte in dieses Gesicht und biß seine Zähne immer fester zusammen. Aber das Lied hinter der Wand tönte immer lauter, die Sänger waren ganz hingerissen, und ihre Stimmen klangen immer freier und lauter. Die schwermütigen Töne fanden den Weg in Iljas Brust und brachten den eisigen Klumpen von Groll und Bitterkeit darin zum Schmelzen.
»Gewandert bi–in ich wackrer Bursche . . .« sang die hohe Stimme.
»Vom hohen Berg zur Me–eeresbucht«, fuhr die zweite Stimme in dem Liede fort. Und dann vereinigten sich beide in der Klage:
»Hab' ganz Sibi–irien durchzogen.
»Den Weg zum Ha–eim hab' ich gesucht . . .«
Ilja seufzte, als er die traurigen Worte des Liedes vernahm. In dem betäubenden Lärm der Schenke nahmen sie sich aus wie kleine Sterne am bewölkten Himmel. Die Wolken eilen rasch dahin, und die Sterne erscheinen und verschwinden abwechselnd . . .
»Der Hunger quälte ma–eine Zunge.
»Der Frost macht' meine Gli–ieder steif . . .« berichtete das Lied klar und anschaulich.
»Da singen sie nun so prächtig,« dachte Ilja bei sich, »daß das Lied einem ans Herz greift . . . Und dann betrinken sie sich und prügeln sich vielleicht gar . . . Nicht lange hält der Mensch beim Guten aus . . .«
»Ach du mein hartes, ha–artes Schicksal«, klagte die hohe Stimme.
Und der Baß dröhnte tief und kräftig:
»Bist mir wie eine La–ast von Stahl . . .«
In Iljas Erinnerung tauchte das Bild des Großvaters Jeremjej auf. Der Alte schüttelte den Kopf und sprach, während die Tränen seine Wangen netzten:
»Geschaut hab' ich, geschaut – und hab' doch die Wahrheit nie erschaut . . .«
Ilja dachte daran, daß auch Jeremjej, der doch Gott so von Herzen geliebt, insgeheim Geld aufgespart hatte. Und Onkel Terentij fürchtete Gott – und hatte das Geld gestohlen. Alle Menschen sind so gleichsam in sich zerspalten. In ihrer Brust ist eine Wage, und das Herz neigt sich, als Zünglein an der Wage, bald zur einen, bald zur andern Seite und wägt so das Gute und Böse.
»Aha–a!« brüllte jemand in der Schenke. Und gleich darauf stürzte etwas zu Boden und schlug mit solcher Gewalt auf, daß sogar das Bett unter Ilja erzitterte.
»Halt! . . . Um Himmelswillen . . .«
»Halt ihn! . . . A–ah!«
»Zu Hilfe! Polizei! . . .«
Der Lärm ward mit einemmal stärker und wilder, eine Menge neuer Laute ertönte, und als ein wüstes, wirbelndes Geheul dröhnten sie in der Luft, gleich einer Meute böser, hungriger, fest aneinandergeketteter Hunde.
Ilja horchte mit Genugtuung auf das rohe Lärmen: es war ihm angenehm, zu hören, daß gerade das geschehen war, was er vorausgesetzt hatte. Es war wie eine Bestätigung dessen, was er von den Menschen dachte. Er schob die Hände unter den Kopf und überließ sich wieder seinen Gedanken.
». . . Mein Großvater Antipa muß wohl eine große Sünde begangen haben, wenn er acht volle Jahre lang schweigend büßte . . . Und alle Leute verziehen ihm, sprachen mit ihm voll Achtung und nannten ihn einen Gerechten . . . Aber seine Kinder stürzten sie ins Verderben. Den einen Sohn schickten sie nach Sibirien, den andern jagten sie aus dem Dorfe . . .«
Eine Äußerung des Kaufmanns Strogany fiel Ilja ein: »Ist unter zehn Menschen ein Ehrlicher auf neun Spitzbuben,« hatte er damals, als er ihn entließ, gesagt, »dann hat keiner was gewonnen, und der Eine geht zugrunde . . . Wo mehr sind, da ist das Recht . . .«
Ilja mußte lächeln. Seine Brust durchzuckte gleich einer kalten Natter ein böses Gefühl gegen die Menschen. In seinem Gedächtnis tauchten bekannte Bilder auf. Die große, plumpe Matiza wälzte sich mitten auf dem Hofe im Schmutz und ächzte:
»A–ach, mein Mütterchen! . . . Mein liebes Mütterchen! Wenn du mir doch verge–eben möchtest!«
Der betrunkene Perfischka stand dabei, schwankte selbst hin und her und sagte vorwurfsvoll:
»Wie sie sich vollgetrunken hat! Das Schwein . . .«
Und von der Vortreppe sah ihnen Petrucha zu, gesund, rotbäckig, und lächelte verächtlich . . .
Der Skandal in der Schenke war vorüber. Drei Stimmen – zwei weibliche und eine männliche – versuchten ein Lied zu singen, es gelang ihnen jedoch nicht. Irgend jemand hatte eine Harmonika gebracht; er spielte darauf ein wenig, und zwar recht schlecht, und schwieg dann.
Ilja vernahm plötzlich in der Schenke Perfischkas helle Stimme, die aus dem Lärm und Geräusch deutlich hervorklang. Der Schuster rief laut in seiner raschen, singenden Weise:
»Ei, so schenk' ein ins Glas, schenk' ein, schenk' ein! Nicht soll deines Herrn Gut leid dir sein! Laß uns trinken und lieben die Frauen und die weite Welt uns anschauen! Und wer etwas hat dagegen, mag den Strick um den Hals sich legen, und kann er nicht leiden den Strick, so brech' er sich das Genick . . .«
Vergnügtes Lachen und Beifallsrufe ertönten. Ilja stand auf, ging in den Hof hinaus und blieb auf der Vortreppe stehen. Eine Sehnsucht ergriff ihn, irgendwohin zu entfliehen – wohin, wußte er selbst nicht. Es war schon spät; Mascha schlief; mit dem Sonderling Jakow ließ sich nicht reden, und er lag wohl auch schon zu Hause in seinem Bett. Ilja besuchte ihn überhaupt nicht gern, da Petrucha jedesmal, wenn er hinkam, unangenehm berührt schien und die Stirn in Falten zog. Ein kalter Herbstwind wehte. Dichte, fast schwarze Finsternis erfüllte den Hof, und der Himmel war nicht sichtbar. Die zahlreichen Anbauten im Hofe erschienen wie große, im Winde festgeronnene Stücke der Finsternis. In der feuchten Luft vernahm man ein Huschen, Rauschen und Flüstern, das an die Klagen des Menschen über den Jammer des Lebens gemahnte. Der Wind streifte Iljas Brust, fuhr ihm rauh ins Gesicht, blies ihm seinen kalten Atem hinter den Kragen . . . Ein Frostschauer überlief Ilja. So geht's unmöglich weiter, dachte er, ganz unmöglich! Nur weg aus all diesem Schmutz, dieser Unruhe, diesem Wirrwarr! Einsam wollte er leben, rein und still . . .
»Wer steht denn da?« ertönte plötzlich eine dumpfe Stimme.
»Ich . . . Ilja . . . Und wer spricht da?«
»Wo bist du denn eigentlich?«
»Hier sitz' ich, auf dem Holzstoß . . .«
»Warum?«
»So . . .«
Und beide verstummten.
»Heute ist der Sterbetag meiner Mutter«, tönte nach einer Weile Matizas Stimme aus dem Dunkel.
»Ist sie schon lange tot?« fragte Ilja, um nur irgend etwas zu sagen.
»Schon sehr lange . . . an die fünfzehn Jahre . . . oder noch mehr . . . Und deine Mutter, lebt die noch?«
»Nein . . . sie ist auch schon tot . . . Wie alt bist du denn schon?«
»So gegen dreißig«, sagte Matiza nach einer Weile . . . »Der Fuß tut mir weh . . . Ganz geschwollen ist er, wie 'ne Melone, und schmerzt so . . . Ich hab' schon eingerieben, eingerieben, mit allerhand . . . es wird nicht besser.«
Irgend jemand öffnete die Tür der Schenke: ein Schwall von lauten Tönen drang auf den Hof hinaus. Der Wind fing sie auf und verstreute sie rings in der Dunkelheit.
»Und du . . . warum stehst du denn hier?« fragte Matiza.
»So . . . Ich hatte Langeweile . . .«
»Ganz wie ich . . . Bei mir oben ist's wie in einem Sarge . . .«
Ilja vernahm einen schweren Seufzer. Dann sprach Matiza zu ihm:
»Wollen wir zu mir hinaufgehen?«
Ilja schaute nach der Richtung, aus der die Stimme des Weibes kam, und antwortete gleichgültig:
Matiza ging vor Ilja die Treppe hinauf nach ihrer Dachstube. Sie setzte immer den rechten Fuß zuerst auf die Stufen und zog dann langsam, unter leisem Ächzen, den linken nach. Ilja folgte ihr gedankenlos, ebenfalls langsam, als ob er durch seine innere Verstimmtheit behindert würde, wie Matiza durch ihr krankes Bein.
Die Kammer Matizas war schmal und lang, und ihre Decke hatte in der Tat die Form eines Sargdeckels. Neben der Tür stand ein holländischer Ofen, und an der Wand, mit dem Kopfende an den Ofen anstoßend, befand sich ein breites Bett; gegenüber dem Bett – ein Tisch und zwei Stühle, ein dritter Stuhl stand vor dem Fenster, das als ein dunkler Fleck an der grauen Wand erschien. Ganz deutlich hörte man hier oben das Heulen und Rauschen des Windes. Ilja setzte sich auf den Stuhl am Fenster, beschaute sich die Wände und fragte, auf ein kleines Bild in einer Ecke deutend:
»Was für ein Bild ist denn das?«
»Die heilige Anna . . .« sagte Matiza leise und andachtsvoll.
»Und wie heißt du eigentlich?«
»Auch Anna . . . wußtest du es nicht?«
»Nein . . .«
»Kein Mensch weiß es!« sagte Matiza, während sie schwerfällig auf ihrem Bett Platz nahm. Ilja sah sie an, doch hatte er nicht den Wunsch, mit ihr zu sprechen. Auch Matiza schwieg. So saßen sie stumm eine ganze Weile da, und keins schien die Anwesenheit des andern zu bemerken. Endlich fragte Matiza:
»Nun, was werden wir denn machen?«
»Ich weiß es nicht . . .« antwortete Ilja.
»Das wär' auch!« rief das Frauenzimmer und lächelte mißtrauisch.
»Was also?«
»Kannst mich erst mal bewirten. Geh, hol' einen Krug Bier . . . Oder nein: kauf mir lieber was zu essen! . . . Nichts weiter, nur etwas zu essen . . .«
Sie stockte in ihrer Rede, hustete und sagte dann, wie wenn sie sich schuldig fühlte:
»Seit mir nämlich das Bein weh tut, siehst du, hab' ich nichts verdient . . . Weil ich doch gar nicht ausgehen kann . . . Was ich hatte, ist alles aufgezehrt . . . Schon den fünften Tag sitz' ich zu Hause . . . Gestern schon war's recht knapp . . . Und heute hab' ich überhaupt nichts gegessen . . . bei Gott, 's ist wahr!«
Jetzt erst kam es Ilja zum Bewußtsein, daß Matiza eine Dirne war. Er blickte scharf in ihr großes Gesicht und sah, daß ihre Augen fast unmerklich lächelten, und daß ihre Lippen sich bewegten, als ob sie etwas Unsichtbares einsaugten . . . Er empfand ihr gegenüber eine gewisse Unbeholfenheit und zugleich ein ganz besonderes, ihm selbst nicht klares Interesse.
»Ich hol' dir gleich was . . .«
Er erhob sich rasch, eilte hastig die Treppe hinunter und blieb im Flur der Schenke, vor der Küchentür, stehen. Plötzlich empfand er einen Widerwillen dagegen, wieder nach der Dachstube zurückzukehren. Aber dieser Widerwille zuckte in dem trostlosen Dunkel seiner Seele nur wie ein Fünkchen auf und verlöschte sogleich wieder. Er ging in die Küche, kaufte beim Koch für zehn Kopeken Fleischabfälle, dazu ein paar Schnitten Brot und noch irgend etwas Eßbares. Der Koch legte alles in ein schmutziges Sieb. Ilja nahm dieses wie eine Schüssel in beide Hände, ging damit auf den Flur hinaus und blieb im Nachdenken darüber, wie er wohl zu dem Bier gelangen könnte, eine Weile stehen. Er selbst konnte es am Büfett nicht holen, Terentij hätte ihn gleich ausgefragt. Er rief den Aufwäscher aus der Küche und bat ihn, ihm das Bier zu holen. Der Aufwäscher lief nach dem Büfett, kam gleich wieder zurück, stellte ihm schweigend die Flaschen zu und faßte nach der Klinke der Küchentür.
»Hör' mal,« sagte Ilja – »das ist nicht für mich . . . Ein Freund ist bei mir zu Besuch . . . für den ist es . . .«
»Wie?« fragte der Aufwäscher.
»Einen Freund bewirt' ich . . .«
»Ach so . . . na, was schadet's denn?«
Ilja fühlte, daß er gar nicht nötig hatte zu lügen, und empfand ein leichtes Unbehagen. Die Treppe hinauf ging er ohne Eile, aufmerksam lauschend, ob nicht jemand ihn anrief. Doch außer dem Tosen des Sturmes war nicht ein Laut zu hören, niemand hielt den Jüngling zurück, und er kehrte mit einem ihm vollkommen klaren, wenn auch noch schüchternen Gefühl der Wollust in die Dachstube zu dem Weibe zurück.
Matiza stellte das Sieb auf ihren Schoß, holte daraus schweigend mit ihren großen Fingern die grauen Fleischstücke hervor, steckte sie in den Mund und begann laut schmatzend zu essen. Ihre Zähne waren groß und scharf, und bevor sie ihnen einen Bissen anvertraute, betrachtete sie ihn aufmerksam von allen Seiten, als ob sie die schmackhafteste Stelle an ihm heraussuchen wollte.
Ilja schaute sie trotzig an, suchte sich vorzustellen, wie er sie umarmen würde, und fürchtete andrerseits, daß er sich dabei ungeschickt anstellen und von ihr ausgelacht werden würde. Bei diesem Gedanken wurde ihm abwechselnd heiß und kalt.
Durch das Dachfenster drang der Wind auf den Bodenraum und rüttelte an der Tür der Mansarde. Jedesmal, wenn die Tür erzitterte, fuhr Ilja zusammen, vor Angst, daß jemand hereinkommen und ihn ertappen könnte.
»Soll ich nicht die Tür verriegeln?« sagte er.
Matiza nickte schweigend mit dem Kopfe. Sie stellte das Sieb auf die Ofenbank, sah nach dem Bilde der Heiligen und bekreuzte sich.
»Ehre sei Dir, o Heilige – nun ist man wenigstens satt! Ach, wie wenig braucht doch der Mensch!« sagte sie.
Ilja schwieg. Das Weib sah ihn an, seufzte und fuhr fort:
»Und wer viel verlangt, von dem wird auch viel verlangt werden . . .«
»Wer wird's von ihm verlangen?«
»Na – Gott, wer sonst?«
Ilja antwortete wiederum nicht. Der Name Gottes, von ihren Lippen kommend, rief in ihm ein jähes, dabei jedoch unklares, nicht in Worte faßbares Gefühl hervor, das seinem sinnlichen Begehren widerstrebte. Matiza stützte sich mit den Armen auf das Bett, hob ihren großen Körper empor und schob ihn an die Wand zurück. Dann sagte sie in gleichgültigem Tone:
»Hab' eben, während ich aß, an Perfischkas Tochter gedacht . . . Lange schon denk' ich an sie . . . Sie lebt da mit euch zusammen – mit dir und Jakow – das wird nicht gut für sie sein, scheint mir . . . Ihr werdet das Mädchen vor der Zeit verderben, dann wird sie auf den Weg geraten, den ich gehe . . . Mein Weg ist ein unreiner, ein verfluchter Weg . . . und die Weiber und Mädchen, die ihn wandeln, gehen nicht aufrecht wie Menschen, sondern kriechen wie die Würmer . . .«
Sie schwieg eine Weile, betrachtete ihre Hände, die auf ihren Knien lagen, und begann dann von neuem:
»Das Mädel ist bald groß. Ich fragte schon unter meinen Bekannten, Köchinnen und andern Weibern, ob nicht irgendwo 'ne Stelle für das Mädel wäre. Nein, es gibt keine Stelle, sagten sie . . . verkauf sie lieber! Es wird für sie besser sein, sagten sie . . . sie kriegt Geld, kriegt Kleider und – Wohnung . . . Es kommt ja vor, das ist richtig . . . Mancher Reiche, der schon hinfällig am Körper und dabei noch unflätigen Sinnes ist . . . kauft sich, wenn die Weiber ihn nicht mehr lieben mögen, ein junges Mädchen . . . Vielleicht hat es das Mädchen sogar gut bei ihm . . . Aber es ist doch widerlich, im Grunde genommen . . . 's ist besser ohne das . . . Besser, sie lebt hungrig und in Ehren, als . . .«
Sie begann zu husten, als ob ihr ein Wort in der Kehle steckengeblieben wäre, und mit derselben gleichgültigen Stimme beendete sie ihre Rede:
». . . als in Schande und ebenfalls hungrig . . .«
Der Wind pfiff noch immer durch die Bodenräume und rüttelte frech an der Tür. Der schläfrige Ton, in dem Matiza sprach, und ihre plumpe, unbewegliche Gestalt wirkten hemmend auf das in Ilja emporkeimende Gefühl und benahmen ihm den Mut, seine Wünsche zum Ausdruck zu bringen. Matiza stieß ihn immer mehr ab, und er bemerkte das und ward böse auf sie . . .
»Gott, mein Gott!« seufzte sie leise. »Heilige Mutter . . .«
Ilja rückte ärgerlich auf seinem Stuhl hin und her und sagte finster:
»Nennst dich eine Unreine – und dabei sprichst du immer nur: Gott, Gott! Denkst wohl, Ihm liege was dran, daß du Ihn immer im Munde führst?«
Matiza sah ihn an und schwieg.
»Ich versteh' deine Rede nicht«, sagte sie nach einer Weile kopfschüttelnd.
»Zu verstehen ist da gar nichts«, fuhr Ilja, vom Stuhl aufstehend, fort. »Erst treibt ihr Unzucht, und dann heißt es: O Gott! Wenn du's schon mit Gott halten willst – so laß die Unzucht! . . .«
»Was denn?« rief Matiza beunruhigt. »Wie meinst du das? Wer soll denn Gottes gedenken, wenn nicht die Sünder?«
»Das weiß ich nicht, wer sonst«, rief Ilja, der die unbezwingliche Begierde verspürte, dieses Weib, wie überhaupt alle Menschen, recht tief und bitter zu verletzen. »Ich weiß nur, daß es euch nicht zukommt, von Ihm zu reden. Euch ganz gewiß nicht! Ihr nehmt Ihn nur zum Deckmantel für eure Sünde . . . Ich bin doch kein Kind mehr . . . halt' die Augen offen . . . Alle jammern und klagen . . . aber warum sind sie so gemein? Warum betrügen und berauben sie einander? Haha! Erst wird gesündigt – und dann geht's in den Betwinkel: ›Herr, erbarme Dich!‹ . . . Ich durchschau' euch . . . ihr Betrüger, ihr Teufel! Betrügt euch gegenseitig, und den lieben Gott dazu . . .«
Matiza schaute ihn schweigend an, mit aufgerissenem Munde und vorgestrecktem Halse, und in ihren Augen lag der Ausdruck stumpfsinnigen Staunens. Ilja schritt auf die Tür zu, zog mit einer kräftigen Bewegung den Riegel zurück und ging, die Tür laut hinter sich zuschlagend, hinaus. Er fühlte, daß er Matiza schwer beleidigt hatte, und das war ihm angenehm – es ward ihm leichter ums Herz und klarer im Kopfe. Mit festem Schritt ging er die Treppe hinunter und pfiff dabei durch die Zähne – sein Zorn aber gab ihm immer noch verletzende, harte, Steinen ähnliche Worte ein. Es schien ihm, daß alle diese Worte wie Flammen glühten und das Dunkel seiner Seele erhellten, und daß sie ihm den Weg zeigten, der ihn abseits von den Menschen führte. Und seine Worte galten jetzt nicht mehr jener Matiza allein, sondern auch dem Onkel Terentij, und Petrucha, und dem Kaufmann Strogany – kurz, allen Menschen.
»So steht's!« dachte er, als er wieder auf den Hof gelangte. »Nur nicht viel Umstände mit euch machen . . . Gesindel! . . .«
Bald nach seinem Besuche bei Matiza trat Ilja zu den Weibern in Beziehung. Das erstemal geschah dies auf folgende Weise. Eines Abends, als er nach Hause ging, sprach ein Mädchen ihn an:
»Willst du mit mir kommen? . . .«
Er sah sie an und ging schweigend neben ihr her. Beim Gehen jedoch senkte er den Kopf und blickte sich beständig um, in steter Furcht, daß ein Bekannter ihn sehen könnte. Als sie ein paar Schritte nebeneinander hergegangen waren, sagte das Mädchen in warnendem Tone:
»Du mußt aber einen Rubel zahlen! . . .«
»Schon gut!« sagte Ilja, »Gehn wir nur schneller . . .«
Und bis zur Wohnung des Mädchens verharrten sie so in Schweigen. Das war alles . . .
Die Bekanntschaft mit den Weibern führte jedoch mit einemmal zu großen Ausgaben, und immer öfter sann Ilja darüber nach, daß doch eigentlich sein Hausierhandel nur unnütz seine Zeit aufzehre und ihm nie die Möglichkeit bieten werde, ein behagliches Leben, wie er es wünschte, zu führen. Eine Zeitlang dachte er daran, nach dem Beispiel anderer Hausierer Lotterien zu veranstalten und dabei, wie jene, das Publikum zu betrügen. Bei reiflicher Überlegung jedoch fand er, daß diese Methode doch zu kleinlich und sorgenvoll sei. Er hätte sich entweder vor den Polizisten verstecken oder sie bestechen müssen. Und beides war Ilja zuwider. Er liebte es, allen Menschen gerade und offen in die Augen zu schauen, und empfand eine Genugtuung darin, daß er stets besser angezogen war als die übrigen Hausierer, daß er keinen Branntwein trank und keine Gaunereien verübte, wie die andern. Gemessen und selbstbewußt schritt er durch die Straßen, und sein scharfgeschnittenes Gesicht mit den starken Backenknochen hatte stets einen ernsten, nüchternen Ausdruck. Wenn er sprach, kniff er seine dunklen Augen zusammen, er sprach jedoch überhaupt nicht viel und immer mit Überlegung. Oft träumte er davon, wie schön es doch wäre, wenn er einmal tausend Rubel oder noch mehr finden würde. Alle Diebesgeschichten erregten in ihm ein brennendes Interesse. Er kaufte sich Zeitungen, las mit Aufmerksamkeit alle Einzelheiten der Diebstähle und forschte dann noch lange in den Notizen der Blätter, ob man die Diebe entdeckt hatte oder nicht. Wurden sie abgefaßt, dann war Ilja wütend und schalt sie, indem er zu Jakow sagte:
»Solche Esel! Haben sich erwischen lassen! Hätten's lieber lassen sollen, wenn sie es nicht verstehen . . . die Dummköpfe!«
Eines Abends sagte er zu Jakow:
»Die Spitzbuben haben es doch besser in der Welt als die ehrlichen Leute . . .«
Jakows Gesicht nahm einen geheimnisvollen Ausdruck an. Seine Augen blinzelten, und er sagte in jenem gedämpften, geheimnisvollen Tone, in dem er stets von außergewöhnlichen Dingen zu reden pflegte:
»Vorgestern hat dein Onkel in der Schenke mit einem alten Manne Tee getrunken . . . ein Bibelkundiger muß es wohl gewesen sein. Der alte Mann meinte, daß in der Bibel stände: ›Friedlich sind die Zelte der Räuber, und gemächlich die Häuser jener, so den Herrn erzürnen, Ihn aber offen vor den Leuten auf ihren Händen tragen‹ . . .«
»Phantasierst du nicht wieder?« fragte ihn Ilja, während er Jakow aufmerksam ansah.
»Es sind doch nicht meine Worte«, versetzte Jakow und streckte die Arme zur Seite, als ob er in der Luft etwas zu greifen suchte. »Vielleicht hat er sich das nur ausgedacht . . . der alte Fuchs . . . vielleicht steht das gar nicht in der Bibel. Ich fragte ihn einmal, zweimal . . . und jedesmal wiederholte er die Worte genau so wie vorher.«
Und während er sich zu Ilja vorbeugte, fuhr er leise fort:
»Nehmen wir zum Beispiel meinen Vater . . . Wie ruhig der lebt – und doch reizt er Gott zum Zorne . . .«
»Und wie!« rief Ilja aus.
»Jetzt haben sie ihn gar zum Stadtverordneten gewählt . . .«
Jakow ließ seinen Kopf auf die Brust sinken, seufzte schwer und sprach weiter:
»Jede menschliche Angelegenheit sollte vor dem Gewissen so klar sein wie Quellwasser! Und hier . . . ach, es widert mich an! . . . Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll . . . Ich weiß mich in dieses Leben gar nicht zu schicken, hab' gar keine Lust dazu . . . Der Vater hackt immer auf mich los: ›'s ist endlich Zeit,‹ sagt er, ›daß du aufhörst mit deinen Spielereien. Werde endlich vernünftig und mache dich nützlich . . .‹ Wie aber soll ich mich nützlich machen? Ich steh' manchmal hinterm Büfett, wenn Terentij nicht da ist . . . Zuwider ist es mir, doch ich ertrag's schließlich . . . Aber von selbst etwas anzufangen – das bring' ich nicht fertig . . .«
»Mußt es eben lernen«, sagte Ilja in gesetztem Tone.
»Das Leben ist so schwer«, meinte Jakow leise.
»Schwer? für dich? . . . Rede keinen Unsinn!« rief Ilja, während er vom Bett aufsprang und auf den Freund zuging, der am Fenster saß. »Mein Leben ist wohl schwer – aber das deinige? Was fehlt dir denn noch? Wird dein Vater alt, so übernimmst du das Geschäft und bist dein eigener Herr . . . Und ich? Ich drücke mich den ganzen Tag auf der Straße herum, sehe in den Schaufenstern Hosen, Westen, Uhren und so weiter . . . sehe sie mir an und denke: ›Ich kann keine solchen Hosen tragen, kann mir keine solche Uhr kaufen! . . .‹ Hast verstanden? Und doch möcht' ich's gar zu gern . . . Ich will, daß mich die Leute achten. Worin bin ich schlechter als andere? Besser bin ich als sie! Ich kenne Leute, die sich wer weiß was dünken und doch Spitzbuben sind . . . Und die wählt man zu Stadtverordneten! Sie haben Häuser . . . Schankwirtschaften . . . Warum haben solche Gauner Glück, und warum hab' ich kein Glück? Auch ich will vorwärtskommen . . .«
Jakow schaute den Freund an und sagte leise, doch mit scharfer Betonung:
»Gott gebe es, daß du kein Glück hast!«
»Was? Warum denn!« schrie Ilja, während er mitten im Zimmer stehen blieb und erregt auf Jakow blickte.
»Du bist zu habgierig – wirst nie genug kriegen«, erklärte dieser.
Ilja lachte trocken und boshaft.
»Ich werde nie genug kriegen? Sag' doch mal deinem Vater, er soll mir nur die Hälfte von dem Gelde abgeben, das er mit meinem Onkel zusammen dem Großvater Jeremjej gestohlen hat – dann hätt' ich schon genug! Ja!«
Jakow erhob sich von seinem Stuhle und ging still, mit gesenktem Kopfe, nach der Tür zu. Ilja sah, wie seine Schultern zuckten, und wie sein Hals sich überneigte, als ob ihm jemand einen schmerzlichen Schlag in den Nacken versetzt hätte.
»Bleib doch!« rief Ilja verwirrt und faßte den Freund bei der Hand. »Wohin willst du denn?«
»Laß mich, Bruder!« sprach Jakow fast flüsternd, blieb jedoch stehen und sah Ilja an. Sein Gesicht war bleich, die Lippen waren fest aufeinandergepreßt, und seine Gestalt erschien wie gebrochen.
»Na, sei nicht böse . . . bleib schon«, bat Ilja schuldbewußt, während er Jakow behutsam von der Tür wegführte. »Ärgre dich nicht über mich. Schließlich ist's doch wahr . . .«
»Ich weiß es«, sagte Jakow.
»Du weißt es? Wer hat's dir gesagt?«
»Alle sagen es . . .«
»Hm–ja . . . Aber die es sagen, sind ebenfalls Spitzbuben . . .«
Jakow sah ihn mit traurigen Augen an und seufzte.
»Ich hab's nicht geglaubt . . . Ich dachte immer, sie sagten es nur aus Niederträchtigkeit, aus Neid. Dann aber glaubte ich's, und wenn auch du . . .«
Er machte eine Handbewegung, die seine Verzweiflung ausdrücken sollte, wandte sich von Ilja ab und blieb unbeweglich stehen, wobei er seine Arme fest auf den Stuhlsitz stützte und den Kopf auf die Brust sinken ließ.
Ilja setzte sich in derselben Haltung wie Jakow auf sein Bett und schwieg, da er nicht wußte, was er dem Freunde als Trost sagen sollte.
»Hier soll man nun leben!« sagte Jakow halblaut.
»Ach ja–a«, versetzte Ilja in demselben Ton. »Ich kann's schon begreifen, Bruder, daß du dich hier nicht wohl fühlst. Der einzige Trost ist, daß es überall so ist. Die Menschen sind schließlich alle gleich.«
»Weißt du das wirklich so genau . . . das von meinem Vater und Jeremjej?« fragte Jakow schüchtern, ohne den Freund anzusehen.
»Erinnerst du dich noch, wie ich damals fortlief? Ich hab's durch eine Spalte gesehen, wie sie das Kopfkissen zunähten . . . er röchelte noch . . .«
Jakow zuckte mit den Achseln. Er erhob sich, schritt auf die Tür zu und sagte zu Ilja:
»Leb' wohl!«
»Leb' wohl! . . . Nimm's nicht zu schwer! Was kannst du schließlich dazu tun?«
»Ich? Leider gar nichts . . .« sagte Jakow, während er die Tür öffnete.
Ilja folgte ihm mit den Augen und sank dann schwer auf sein Bett. Er hatte Mitleid mit Jakow, und von neuem brach in ihm der Haß gegen seinen Onkel, gegen Petrucha, gegen alle Menschen hervor. Ein so schwaches Wesen wie Jakow, der ein so gutes, stilles, reines Menschenkind war, konnte unter ihnen nicht leben. Ilja ließ seinen Gedanken über die Menschen freien Lauf, und in seinem Geiste tauchten verschiedene Erinnerungen auf, die ihm die Menschen als boshafte, grausame, verlogene Geschöpfe zeigten. Er kannte gar viele Begebenheiten, in denen er sie so gesehen hatte, und es war ihm eine Erleichterung, im stillen seinen Hohn an ihnen auszulassen. Je düsterer sie ihm erschienen, desto schwerer drückte ihn andrerseits ein seltsames Gefühl, in dem sich eine unbestimmte Sehnsucht mit boshafter Schadenfreude vermischte und mit der Furcht, ganz einsam zu bleiben inmitten dieses lichtlosen, traurigen Daseins, das wie ein toller Strudel ihn umwirbelte.
Schließlich verlor er die Geduld, so allein in dem kleinen Zimmer zu liegen, durch dessen Wand der Lärm und Qualm der Schenke zu ihm drang, und er erhob sich und ging ins Freie. Lange lief er in dieser Nacht in den Straßen der Stadt umher und trug mit sich die schwere Last seiner quälenden, düstren Gedanken. Er hatte die Empfindung, als ob jemand, der ihm feind war, im Dunkel hinter ihm hergehe und ihn immer unbemerkt dahin stoße, wo es recht traurig und langweilig war. Immer nur solche Dinge zeigte ihm dieser unsichtbare Feind, die in seiner Seele Gram und Bitterkeit erzeugten. Es gibt doch auch Gutes in der Welt – gute Menschen, und frohe Ereignisse, und Lustigkeit – warum sah er das alles nicht, kam er immer nur mit dem Düstren und Schlimmen in Berührung? Wer lenkte ihn stets auf das Schmutzige, Trostlose und Böse im Leben?
Ganz im Bann dieser Gedanken schritt er durch die Felder, an der steinernen Mauer eines vor der Stadt gelegenen Klosters vorüber, und schaute vor sich hin. Ihm entgegen zogen die Wolken, schwer und langsam, aus weiter, dunkler Ferne. Da und dort schimmerte aus dem Dunkel über seinem Kopfe zwischen den Wolken der Himmel hindurch, und kleine Sterne blinkten schüchtern von ihm nieder. Durch die Stille der Nacht klang von Zeit zu Zeit vom Turm der Klosterkirche der metallene Ton der Glocke – es war der einzige Laut in der Totenstille, welche die Erde umfing. Selbst aus der dunklen Masse der Stadthäuser hinter Ilja drang kein Ton des lärmenden Treibens hierher, obschon es noch nicht spät war. Es war eine kalte, frostige Nacht. Im Dahinschreiten stieß Ilja gegen den hartgefrorenen Schmutz. Ein banges Gefühl der Vereinsamung und die Furcht, die sein Grübeln hervorgerufen hatte, ließen ihn haltmachen. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen das kalte Gestein der Klostermauer und sann von neuem darüber nach, wer es wohl sein möchte, der ihn durchs Leben führte und dabei voll Tücke stets alles Böse und Häßliche auf ihn losließ . . .
Ein kalter Schauer überlief seinen Körper, und wie im bangen Vorgefühl eines Unglücks, das ihm bevorstand, riß er sich von der Mauer los und eilte mit hastigen Schritten, immer häufiger gegen den gefrorenen Schmutz stoßend, nach der Stadt zurück. Die Arme dicht an den Körper pressend, lief er vorwärts und wagte, von Furcht erfüllt, nicht ein einziges Mal, rückwärts zu schauen . . .