Maxim Gorki
Drei Menschen
Maxim Gorki

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VIII

In der ersten Zeit nach Paschkas Verschwinden war es Ilja, als ob ihm etwas fehlte, bald jedoch geriet er wieder in das alte Geleise seiner weltfremden Wunderwelt. Abermals wurden fleißig Bücher gelesen, und Iljas Seele verfiel in einen süßen Zustand des Halbschlummers.

Das Erwachen war jäh und unerwartet. Ilja ging noch in die Schule, als eines Tages der Onkel zu ihm sagte:

»Steh auf und wasch dich hübsch sauber . . . Mach' rasch! . . .«

»Wohin geht's denn?« fragte Ilja verschlafen.

»Auf deine Stelle. Es hat sich was gefunden, Gott sei Dank! . . . Bei einem Fischhändler wirst du eintreten.«

Ein unangenehmes Vorgefühl machte Iljas Herz beklommen. Der Wunsch, dieses Haus zu verlassen, in dem er alles kannte und an alles gewöhnt war, schwand plötzlich in ihm, und Onkel Terentijs Kammer, die ihm nie gefallen hatte, erschien ihm mit einemmal sauber und hell. Die Augen auf den Boden heftend, saß er auf seinem Bett und hatte gar keine Lust, sich anzuziehen . . . Jakow kam herein, ungekämmt und ganz grau im Gesicht, den Kopf zur linken Schulter geneigt; er ließ einen flüchtigen Blick über seinen Kameraden gleiten und sagte:

»Komm rasch, der Vater wartet . . . Du wirst doch öfter hierher kommen?«

»Gewiß komm' ich . . .«

»Na ja . . . Geh nur zu Mascha, nimm von ihr Abschied!«

»Aber ich geh' doch nicht für immer fort!« rief Ilja unwirsch aus.

Mascha kam selbst herauf – sie stand an der Tür, schaute auf Ilja und sagte traurig:

»So leb' also recht wohl, Ilja . . .«

Ilja zerrte ärgerlich an der Jacke, die er eben anzog, und schimpfte. Mascha und Jakow seufzten beide zu gleicher Zeit tief auf.

»Besuch' uns nur bald!« sagte Jakow.

»Schon gu–ut!« versetzte Ilja grob.

»Sieh doch, wie er sich aufspielt – der Herr Kommis!« bemerkte Mascha.

»Ach, du . . . dumme Gans!« antwortete ihr Ilja leise, im Tone des Vorwurfs.

Ein paar Minuten später ging er über die Straße – an der Seite Petruchas, der feierlich mit einem langen Überrock und knarrenden Stiefeln angetan war.

»Ich führ' dich zu einem sehr ehrenwerten Manne, den die ganze Stadt zu schätzen weiß,« sprach der Büfettier in eindringlichem Tone zu Ilja – »nämlich zu Kiril Iwanytsch Strogany . . . Er hat für seine Herzensgüte und seinen wohltätigen Sinn Medaillen erhalten, und was sonst noch. Er ist Stadtverordneter und vielleicht wird er sogar einmal zum Bürgermeister gewählt! Diene ihm treu und redlich, und er wird dafür schon aus dir etwas machen! . . . Du bist ein ernstes Bürschchen, kein verwöhntes Muttersöhnchen . . . Einem Menschen 'ne Wohltat erweisen, ist für ihn dasselbe wie ausspucken . . .«

Ilja hörte ihn an und suchte sich ein Bild von dem Kaufmann Strogany zu machen. Er stellte sich sonderbarerweise vor, daß der Kaufmann dem Großvater Jeremjej ähnlich sehe – daß er ebenso dürr, ebenso gutmütig und umgänglich sein müsse. Als er jedoch in dem Fischladen anlangte, sah er dort hinter dem Schreibpult einen großen Mann mit einem mächtigen Schmerbauch. Auf dem Kopfe hatte er nicht ein einziges Haar mehr, sein Gesicht jedoch war von den Augen bis an den Hals hinunter mit einem dichten roten Bart bedeckt. Seine Augenbrauen waren gleichfalls dicht und rot, und unter ihnen liefen ein paar kleine, grünliche Äuglein zornig hin und her.

»Verneig' dich!« flüsterte Petrucha Ilja zu, indem er mit den Augen nach dem rotbärtigen Manne hin winkte. Ilja ließ enttäuscht den Kopf auf die Brust sinken.

»Wie heißt er?« dröhnte eine tiefe Baßstimme durch den Läden.

»Ilja ist sein Name«, antwortete Petrucha.

»Na, Ilja, halt mir ja die Augen offen und gib acht! Jetzt gibt's für dich niemanden sonst in der Welt als deinen Prinzipal! Weder Verwandte noch Bekannte – hast verstanden? Ich bin dir Vater und Mutter – weiter hab' ich dir nichts zu sagen . . .«

Ilja ließ seinen Blick heimlich durch den Laden schweifen. In Körben mit Eis lagen ungeheure Störe und Welse, in Fächern an den Wänden waren schichtenweise gedörrte Zander und Karpfen aufgestapelt, und überall blinkten blecherne Dosen. Ein durchdringender Geruch von Salzlake erfüllte die Luft, und es war stickig, eng und feucht in dem Laden. Auf dem Boden schwammen in großen Bottichen die lebenden Fische – Sterlets, Aalraupen, Barsche, Schleie. In einem der Gefäße tummelte sich ein kleiner Hecht keck und lebhaft im Wasser, stieß die anderen Fische und spritzte mit kräftigen Schwanzschlägen das Wasser über den Boden. Ilja hatte Mitleid mit dem armen Kerl.

Einer der Kommis – ein kleiner, dicker Mensch namens Michailo, mit runden Augen und einer Hakennase, der eine große Ähnlichkeit mit einem Uhu hatte – hieß Ilja die abgestorbenen Fische aus dem Bottich herausnehmen. Der Junge streifte seine Ärmel auf und griff aufs Geratewohl in das Wasser hinein.

»Bei den Köpfen mußt du sie fassen, Dummkopf!« rief der Kommis leise. Zuweilen faßte Ilja aus Versehen einen lebendigen Fisch, der unbeweglich im Wasser stand; er entschlüpfte seinen Fingern, begann krampfhaft im Wasser hin und her zu schießen und stieß mit dem Kopfe gegen die Wandung des Gefässes.

»Immer munter, munter!« kommandierte der Kommis.

Ilja hatte sich an einer spitzen Flossengräte in den Finger gestochen, und er steckte ihn nun in den Mund und begann daran zu saugen.

»Nimm den Finger aus dem Munde!« ertönte die Baßstimme des Prinzipals.

Dann gab man dem Jungen ein schweres Beil und hieß ihn in den Keller gehen und dort Eis zerklopfen, daß es sich gleichmäßig lagerte. Die Eissplitter sprangen ihm ins Gesicht und glitten ihm hinter den Kragen, es war kalt und dunkel im Keller, und das Beil schlug, wenn er unvorsichtig damit hantierte, gegen die Decke. Nach ein paar Minuten kam Ilja, von oben bis unten naß, aus dem Keller herauf und erklärte dem Prinzipal:

»Ich hab' dort irgendein Glas zerschlagen . . .«

Der Prinzipal sah ihn aufmerksam an und sagte:

»Das erstemal verzeih' ich dir – und zwar deshalb, weil du es selbst gesagt hast . . . Das nächste Mal – reiß' ich dir die Ohren ab . . .«

Ganz mechanisch lebte sich Ilja nach und nach in seine neue Umgebung ein – wie ein kleine Schraube sich in eine große, lärmende Maschine einfügt. Er stand um fünf Uhr des Morgens auf, putzte die Stiefel des Prinzipals, seiner Familie und der Kommis, ging dann in den Laden, fegte ihn aus und wusch die Tische und Wagschalen ab. Kamen die Kunden, so reichte er die Ware zu und trug sie in die Wohnung der Käufer, dann kehrte er wieder heim, um zu Mittag zu essen. Nach dem Mittagessen gab es wenig zu tun, und wenn man ihn nicht irgendwohin schickte, stand er in der Ladentür, schaute auf das Markttreiben und sann darüber nach, wieviel Menschen es doch auf der Welt gibt, und welche Unmengen von Fischen, Fleisch und Obst sie verzehren. Eines Tages fragte er den Kommis, der einem Uhu ähnlich war:

»Michail Ignatitsch! . . .«

»Na – was denn?«

»Was werden denn die Menschen essen, wenn sie alle Fische gefangen und alles Vieh geschlachtet haben?«

»Dummkopf!« antwortete ihm der Kommis.

Ein anderes Mal nahm er ein Zeitungsblatt vom Ladentisch, stellte sich damit in die Ladentür und las darin. Der Kommis aber riß ihm die Zeitung aus den Händen, gab ihm einen Nasenstüber und sagte grob:

»Wer hat dir das erlaubt, he? Esel . . .«

Dieser Kommis gefiel Ilja durchaus nicht. Wenn er mit dem Prinzipal sprach, begleitete er fast jedes Wort mit einem ehrerbietigen, pfeifenden Zahnlaut, hinter dem Rücken aber nannte er den Kaufmann Strogany einen Betrüger und rothaarigen Teufel. An jedem Sonnabend und vor den Feiertagen, wenn der Prinzipal zur Abendandacht in die Kirche gefahren war, bekam der Kommis Besuch von seiner Frau oder Schwester, und denen gab er dann ein ganzes Paket mit Fischen, Kaviar und Konserven mit. Einen Hauptspaß machte es ihm, arme Bettelleute zu foppen, unter denen so mancher alte Mann war, der Ilja an Großvater Jeremjej erinnerte. Wenn solch ein Alter in die Ladentür trat und, sich demütig verneigend, um ein Almosen bat, nahm der Kommis einen kleinen Fisch beim Kopfe und reichte ihn dem Armen hin, und sobald dieser zufaßte, stach er sich an den Rückenflossen des Fisches den Handteller blutig. Der Bettler zuckte vor Schmerz zusammen, der Kommis aber lachte höhnisch und schrie zornig auf ihn los:

»Willst ihn nicht? Ist's dir zu wenig? Dann mach', daß du fortkommst! . . .«

Einmal hatte eine alte Bettlerin heimlich einen gedörrten Zander genommen und in ihren Lumpen verborgen. Der Kommis hatte es bemerkt – er packte die Alte beim Wickel, nahm ihr den gestohlenen Fisch wieder ab, drückte ihren Kopf herunter und schlug sie mit der rechten Hand von unten nach oben übers Gesicht. Sie ließ nicht einen Schmerzenslaut hören und sprach nicht ein Wort, sondern ging schweigend, mit vorgebeugtem Kopfe, hinaus, und Ilja sah, wie aus ihrer zerschlagenen Nase das dunkle Blut in zwei Strömen niederrann.

»Hast du dein Teil gekriegt?« rief der Kommis hinter ihr her.

Und zu dem zweiten Kommis Karp gewandt, sprach er:

»Ich hasse dieses Bettlervolk! . . . Müßiggänger sind's! Gehn betteln – und sind dabei satt! Die wissen gut zu leben . . . Die Brüder Christi nennt man sie. Und was bin ich denn für Christus? Vielleicht ein Fremder? Ich dreh' und winde mich mein ganzes Leben lang, wie ein Wurm in der Sonne – und find' keine Ruhe, werd' von niemand geachtet . . .«

Der zweite Kommis, Karp, war ein schweigsamer, frommer Mensch. Er sprach nur von Kirchen, Kirchensängern und Andachtsübungen und war jeden Sonnabend sehr beunruhigt bei dem Gedanken, daß er zur Abendandacht zu spät kommen könnte. Außerdem interessierte er sich für allerhand Taschenspielerkünste, und wenn in der Stadt sich irgendein »Magier und Zauberkünstler« produzierte, ging Karp sicher hin, um sich ihn anzusehen . . . Er war hochgewachsen, mager und von großer körperlicher Geschmeidigkeit: wenn die Kunden sich im Laden drängten, wand er sich zwischen ihnen wie eine Schlange hindurch, lächelte allen zu, plauderte mit allen und schielte dabei beständig nach der großen Gestalt des Prinzipals, als ob er vor diesem mit seiner Geschicklichkeit prahlen wollte. Ilja wurde von ihm mit Geringschätzung behandelt, und der Knabe war ihm gleichfalls nicht zugetan. Der Prinzipal dagegen gefiel Ilja. Vom Morgen bis zum Abend stand er hinter seinem Pult, öffnete immer wieder seinen Geldkasten und warf das Geld hinein. Ilja sah, daß er das ganz gleichgültig, ohne Habgier tat. Und es bereitete ihm ein angenehmes Gefühl, das zu sehen. Angenehm war es ihm auch, daß der Prinzipal mit ihm öfter und freundlicher sprach als mit den Kommis. In den stillen Geschäftsstunden, wenn keine Käufer da waren, redete der Kaufmann Ilja öfters an, der in Gedanken versunkenen der Ladentür stand:

»He, Ilja – schläfst du?«

»Nein . . .«

»Warum bist du immer so ernst?«

»Ich . . . weiß es nicht . . .«

»'s ist dir wohl hier langweilig, wie?«

»Ja–a! . . .«

»Na, immer langweil' dich! Auch ich hab' mich mal früher gelangweilt . . . Vom neunten bis zum zweiunddreißigsten Jahre hab' ich mich unter fremden Leuten gelangweilt . . . Und jetzt seh' ich seit dreiundzwanzig Jahren zu, wie andere sich langweilen . . .«

Und er wiegte dabei den Kopf auf und ab, als ob er sagen wollte:

»Daran läßt sich mal nichts ändern!«

Nach zwei, drei Gesprächen dieser Art begann Ilja die Frage zu beschäftigen: warum eigentlich dieser reiche, geachtete Mensch den ganzen Tag in dem schmutzigen Laden steckte und den herben, unangenehmen Geruch der gesalzenen Fische einatmete, während er doch ein so großes, sauberes Haus besaß. Das war ein ganz merkwürdiges Haus: es ging in ihm so still und streng zu, und alles geschah darin nach einer festen, unverrückbaren Ordnung. Und obschon in seinen beiden Etagen außer dem Besitzer, seiner Gattin und seinen drei Töchtern niemand weiter wohnte als eine Köchin, die zugleich Stubenmädchen war, und ein Hausknecht, der zugleich als Kutscher fungierte, so war es doch eng darin. Alle Hausbewohner sprachen mit gedämpfter Stimme, und wenn sie über den geräumigen, sauberen Hof gingen, drückten sich alle auf die Seite, als ob sie sich fürchteten, den offenen Hofraum zu betreten. Wenn Ilja dieses ruhige, solide Haus mit dem Hause Petruchas verglich, kam er wider Erwarten zu dem Ergebnis, daß das Leben in Petruchas Hause doch vorzuziehen sei, wenn es dort auch ärmlich, lärmend und schmutzig zuging. Gar zu gern hätte er den Kaufmann gefragt, weshalb er eigentlich den ganzen Tag in der Unruhe, dem Lärm und Wirrwarr des Marktes zubringe und nicht in seinem Hause, wo es doch so still und friedlich sei.

Eines Tages, als Karp gerade irgendeinen Geschäftsgang erledigte und Michail im Keller die verdorbenen Fische für das Armenhaus aussuchte, begann der Prinzipal wieder ein Gespräch mit Ilja, in dessen Verlauf der Knabe zu ihm sagte:

»Sie könnten doch Ihr Geschäft schon aufgeben, Kiril Iwanowitsch! . . . Sie sind so reich . . . Bei Ihnen zu Hause ist's so hübsch, und hier . . . so langweilig . . .«

Strogany setzte beide Ellenbogen auf das Pult, stützte seine Stirn darauf und musterte seinen Lehrling aufmerksam. Der rote Bart des Kaufmanns zuckte dabei ganz seltsam.

»Nun?« fragte er, als Ilja schwieg. »Hast du alles gesagt?«

»Ja . . .« sagte Ilja verwirrt und mit Angst im Herzen.

»Komm einmal her! . . .«

Ilja trat näher an das Pult heran. Da faßte der Kaufmann sein Kinn, hob seinen Kopf empor, sah ihm mit halb zugekniffenen Augen ins Gesicht und fragte:

»Hat dir das jemand vorgesagt, oder hast du es dir selbst ausgedacht?«

»Ich selbst, bei Gott! . . .«

»So–o! . . . Wenn du es aus dir selbst hast, dann . . . soll's gut sein . . . Aber ich will dir mal etwas sagen: in Zukunft untersteh dich nicht wieder, mit mir, deinem Prinzipal – verstehst du? deinem Prinzipal! – in solcher Weise zu reden! Merk' dir das – und jetzt geh an deine Arbeit! . . .«

Und als Karp zurückkam, begann der Prinzipal plötzlich, ohne irgendeinen ersichtlichen Grund, sich mit ihm zu unterhalten, wobei er jedoch beständig von der Seite nach Ilja schaute, und zwar so, daß dieser es wohl bemerkte:

»Der Mensch muß sein ganzes Leben lang irgendein Geschäft betreiben – sein ganzes Leben lang! . . . Wer das nicht begreift, ist ein Dummkopf. Wie kann man leben, ohne etwas zu tun? Ein Mensch, der seinem Geschäft nicht mit dem rechten Eifer vorsteht, taugt zu gar nichts.«

»Stimmt vollkommen, Kiril Iwanowitsch!« ließ der Kommis sich vernehmen, während er seine Augen wie suchend durch den Laden schweifen ließ, als ob er darin eine Beschäftigung für sich suchte. Ilja sah den Prinzipal an und verfiel in Nachdenken. Immer langweiliger wurde ihm das Leben unter diesen Menschen. Die Tage zogen sich hin, einer nach dem andern, wie lange graue Fäden, die sich von einem unsichtbaren Knäuel abwickelten. Und es schien dem Knaben, daß diese Tage gar kein Ende mehr haben würden, daß er sein ganzes Leben lang an dieser Ladentür stehen und auf den Lärm des Marktes lauschen würde. Aber sein Denken, das bereits vorher durch die empfangenen Eindrücke und das Lesen der Bücher geweckt worden war, unterlag der einschläfernden Wirkung dieses einförmigen Lebens nicht, sondern arbeitete ununterbrochen, wenn auch langsam, weiter. Zuweilen war es dem ernsten, schweigsamen Knaben so peinlich, dem Treiben der Menschen zuzuschauen, daß er am liebsten die Augen geschlossen und irgendwohin recht weit fortgegangen wäre – noch weiter, als Paschka Gratschew gegangen war –, um nie mehr hierher, in diese graue Langeweile und unbegreifliche menschliche Nichtigkeit, zurückzukehren.

An den Feiertagen schickte man ihn in die Kirche. Er kehrte von dort jedesmal mit einem Gefühl zurück, als ob sein Herz in einer duftigen, warmen Flüssigkeit reingewaschen worden wäre. Den Onkel hatte er während eines halben Jahres zweimal besuchen dürfen. Dort ging alles in der alten Weise zu. Der Bucklige wurde immer magerer, und Petrucha pfiff immer lauter, während sein Gesicht, das früher rosig geschimmert hatte, jetzt ganz rot aussah. Jakow klagte Ilja, daß sein Vater ihm arg zusetze.

»Immerfort brummt er: ›Mußt endlich was Vernünftiges beginnen . . . Einen Bücherwurm kann ich nicht brauchen‹ . . . Aber wenn's mir nun mal zuwider ist, hinterm Schenktisch zu stehen? Nichts als Lärm und Gezänk . . . sein eigenes Wort versteht man nicht! . . . Ich sage: Gib mich irgendwohin in die Lehre . . . Vielleicht in einen Heiligenbilder-Laden . . . Da ist nicht viel zu tun, und ich liebe die Heiligenbilder . . .«

Jakows Augen blinzelten traurig, die Haut auf seiner Stirn erschien auffallend gelb und glänzte wie die Glatze auf dem Kopfe seines Vaters.

»Lest ihr noch immer Bücher?« fragte Ilja.

»Gewiß doch . . . es ist noch meine einzige Freude . . . Solange ich lese, kommt's mir vor, als ob ich in einer andern Stadt wäre . . . und ist das Buch zu Ende, dann ist mir, als ob ich von einem Kirchturm 'runterstürzte . . .«

Ilja schaute ihn an und sagte:

»Wie alt du geworden bist . . . Und wo ist denn Maschutka?«

»Ins Armenhaus ist sie gegangen, nach milden Gaben. Jetzt kann ich ihr nicht viel helfen, der Vater paßt zu scharf auf . . . Und Perfischka ist immerwährend krank . . . Da mußte Maschka ins Armenhaus gehen . . . Kohlsuppe gibt man ihr dort, und noch sonst was . . . Matiza hilft ihr auch ein bißchen . . . Muß sich sehr quälen, die arme Mascha . . .«

»'s ist also auch hier bei euch langweilig«, meinte Ilja nachdenklich.

»Ist's dir denn im Geschäft langweilig?«

»Ganz schrecklich! . . . Ihr habt wenigstens Bücher . . . und bei uns gibt's im ganzen Hause nur ein Buch, den »Neuesten Zauberer und Taschenspieler«, den hat der Kommis in seinem Koffer. Aber glaubst du, er borgt ihn mir, der Spitzbube? . . . Fällt ihm nicht ein . . . Es geht uns beiden nicht zum besten, lieber Freund . . .«

»So scheint's wirklich, Bruder . . .«

Sie plauderten noch ein Weilchen und nahmen dann, beide recht betrübt, Abschied voneinander.

Noch ein paar Wochen gingen auf diese Weise hin, bis plötzlich in Iljas Leben eine jähe Wendung eintrat. Eines Morgens, als das Geschäft gerade recht lebhaft war, begann der Prinzipal irgend etwas auf seinem Pult sehr eifrig zu suchen. Zornesröte bedeckte seine Stirn, und die Adern an seinem Halse schwollen dick an.

»Ilja!« schrie er – »sieh doch mal auf dem Fußboden nach . . . ob da nicht ein Zehnrubelschein liegt! . . .«

Ilja schaute den Kaufmann an, ließ dann seinen Blick rasch über den Fußboden gleiten und sagte ruhig:

»Nein, es liegt nichts da . . .«

»Ich sag' dir: sieh nach, wie es sich gehört!« brüllte der Prinzipal mit seiner groben Baßstimme ihn an.

»Ich hab' doch schon nachgesehen . . .«

»Hm . . . wart', du trotziger Schelm!« drohte ihm der Kaufmann.

Und als die Kunden fort waren, rief er Ilja zu sich heran, faßte mit seinen kräftigen, dicken Fingern sein Ohr und zerrte es hin und her, wobei er mit seiner knarrenden Stimme ihn angrunzte:

»Wenn man dich suchen heißt – dann suche, wenn man dich suchen heißt – dann suche . . .«

Ilja stemmte sich mit beiden Händen kräftig gegen den Bauch des Prinzipals, entzog sein Ohr dessen Fingern und schrie, am ganzen Leibe vor Empörung zitternd, laut und heftig:

»Warum prügeln Sie mich? Das Geld hat Michail Ignatitsch heimlich weggenommen! – Es steckt in seiner linken Westentasche . . .«

Das Uhugesicht des Kommis verlängerte sich plötzlich, es nahm einen bestürzten Ausdruck an und begann zu beben. Und dann holte er mit dem rechten Arm aus und schlug Ilja gegen das Ohr. Der Knabe sprang jäh auf, stürzte mit lautem Stöhnen zu Boden und kroch heftig weinend auf allen vieren in eine Ecke des Ladens. Wie im Traume vernahm er den dröhnenden Ruf des Prinzipals:

»Halt! Wohin? Gib das Geld heraus! . . .«

»Aber er lügt ja! . . .« ließ die quiekende Stimme des Kommis sich vernehmen.

»Ich werf' dir die Gewichte an den Schädel! . . .«

»Kiril Iwanytsch . . . es ist mein Geld! . . . Der Schlag soll mich treffen . . .«

»Halt's Maul! . . .«

Dann ward es still. Der Prinzipal begab sich in sein Zimmer, und gleich darauf vernahm man von dort das laute Klappern der Kugeln am Rechenbrett. Ilja saß am Boden, hielt mit den Händen seinen Kopf und schaute voll Haß auf den Kommis, der in einer zweiten Ecke des Ladens stand und dem Knaben seinerseits grimmige Blicke zuwarf.

»Na, du Strolch – hast du's ordentlich gekriegt von mir?« fragte er leise und fletschte die Zähne.

Ilja zuckte die Achseln und schwieg.

»Wart', ich will dir gleich noch . . . 'nen Denkzettel geben!«

Er schritt langsam auf den Knaben los und sah ihm mit seinen runden, boshaften Augen ins Gesicht. Ilja aber erhob sich vom Boden, nahm mit einer raschen Bewegung ein langes, schmales Messer vom Ladentisch und sagte:

»Komm her!«

Da blieb der Kommis stehen, maß mit starren Augen die stämmige, kräftige Gestalt mit dem Messer in der einen Hand und murmelte verächtlich:

»Pah, du . . . Sträflingsbrut! . . .«

»So komm doch her, komm her!« wiederholte der Knabe und ging ihm einen Schritt entgegen. Vor Iljas Augen drehte sich alles im Kreise, in seiner Brust aber fühlte er eine große Kraft, die ihn kühn vorwärtstrieb.

»Leg' das Messer hin!« ließ sich die Stimme des Prinzipals vernehmen.

Ilja fuhr zusammen, als er den roten Bart und das blutunterlaufene Gesicht des Kaufmanns erblickte, doch rührte er sich nicht vom Fleck.

»Das Messer sollst du hinlegen, sag' ich!« wiederholte der Kaufmann leiser.

Ilja legte das Messer auf den Ladentisch, schluchzte laut auf und setzte sich wieder auf den Fußboden. Er hatte einen Schwindelanfall, der Kopf schmerzte ihn, und sein wundes Ohr gleichfalls. Ein schwerer Druck, der auf seiner Brust lastete, benahm ihm den Atem, hemmte seinen Puls und stieg langsam, ihn am Reden hindernd, in seine Kehle empor. Wie irgendwoher aus der Ferne vernahm er die Stimme des Prinzipals:

»Hier ist deine Abrechnung, Mischka . . .«

»Aber erlauben Sie . . .« suchte der Kommis einzuwenden.

»Hinaus mit dir! Sonst ruf ich die Polizei . . .«

»Gut! Ich geh' schon . . . Aber auf das Bürschchen da geben Sie acht, das rat' ich Ihnen . . . Er geht mit dem Messerchen auf die Leute los . . . he he!«

»Hinaus!«

Es ward wieder still im Laden. Ilja wurde von einem unangenehmen Gefühl beschlichen: es war ihm, als laufe etwas über sein Gesicht hin. Er wischte mit der Hand die Tränen von seinen Backen, schaute um sich und bemerkte, daß der Prinzipal hinter seinem Pult hervor ihn mit einem scharfen Blicke musterte. Da stand er vom Boden auf und ging mit unsicherem Schritt nach der Tür zu, an seinen Platz.

»Halt! Wart' einmal!« rief der Prinzipal. »Hättest du's fertig bekommen, ihn mit dem Messer zu stechen?«

»Ich hätt' ihn gestochen«, antwortete der Knabe leise, doch mit Bestimmtheit.

»So, so . . . Wofür ist dein Vater nach Sibirien geschickt worden? Wegen Mordes?«

»Nein – wegen Brandstiftung . . .«

»Auch recht nett . . .«

Karp, der zweite Kommis, kam eben von einem Ausgang heim. Er nahm auf einem Taburett neben der Tür Platz und sah auf die Straße hinaus.

»Hör' mal, Karpuschka,« begann der Prinzipal, während er ihn lächelnd ansah – »ich habe eben den Mischka fortgejagt . . .«

»Es steht in Ihrer Macht, Kiril Iwanowitsch!«

»Denk' dir nur: er hat mich bestohlen!«

»Nicht möglich!« rief Karp leise, doch sichtlich erschrocken. »Ist's wirklich wahr? Der Bösewicht!«

Der Prinzipal lachte hinter seinem Pult, daß er sich den Bauch halten mußte und sein roter Bart sich zitternd hin und her bewegte.

»Ho ho ho!« rief er. »Ach, Karpuschka . . . du mein Taschenspieler . . . demütige Seele du! . . .«

Dann hörte er plötzlich auf zu lachen, seufzte tief auf und sagte streng und nachdenklich:

»Ach, Leute, Leute! Menschenkinder . . . Alle wollt ihr leben, alle müßt ihr fressen! . . . Sag' mal, Ilja,« redete er plötzlich den Knaben an, »hast du schon früher bemerkt, daß Michailo stiehlt?«

»Freilich hab' ich's bemerkt . . .«

»Und warum hast du mir nichts davon gesagt? Hast wohl Angst vor ihm gehabt, wie?«

»Angst hab' ich nicht gehabt . . .«

»Du hast es also jetzt nur aus Groll gesagt?«

»Ja«, antwortete Ilja trotzig.

»Seht doch . . . was für ein Bürschchen!« rief der Kaufmann. Dann strich er lange seinen roten Bart und sah Ilja schweigend, mit ernster Miene an.

»Und du selber, Ilja – hast du auch gestohlen?«

»Nein . . .«

»Ich glaub's dir . . . du – hast nicht gestohlen . . . Na, und Karp – dieser Karp, der hier steht – stiehlt der?«

»Freilich stiehlt er!« versetzte Ilja in bestimmtem Tone.

Karp sah ihn ganz erstaunt an, blinzelte mit den Augen und wandte sich ruhig ab, als ob ihn die Sache gar nichts anginge. Der Prinzipal zog die Augenbrauen finster zusammen und begann von neuem seinen Bart zu streichen. Ilja fühlte deutlich, daß irgend etwas ganz Besonderes vorging, und erwartete voll Spannung das Ende. In der scharf duftenden Luft des Ladens flogen summend die Fliegen hin und her, und man vernahm das Plätschern des Wassers in dem Bottich mit den lebenden Fischen.

»Karpuschka!« rief der Prinzipal den Kommis, der unbeweglich an der Tür stand und mit Aufmerksamkeit auf die Straße hinaussah.

»Was ist gefällig?« versetzte Karp, während er rasch auf den Prinzipal zueilte und ihm mit seinen dienstfertig-freundlichen Augen ins Gesicht sah.

»Hast du gehört, was man von dir gesagt hat?« fragte Strogany lächelnd.

»Ich hab's gehört . . .«

»Nun – und was weiter?«

»Nichts weiter . . .« sagte Karp und zuckte die Achseln.

»Nichts weiter? Was soll das heißen?«

»Sehr einfach, Kiril Iwanowitsch. Ich bin ein Mensch, der Selbstachtung besitzt – und darum steht es mir nicht an, mich durch einen Knaben beleidigt zu fühlen. Sie sehen doch selbst, daß der Junge unglaublich dumm ist und von nichts 'ne Ahnung hat . . .«

»Mach' mir keine Flausen vor, sondern sag' lieber: hat er die Wahrheit gesagt?«

»Was heißt ›die Wahrheit‹, Kiril Iwanowitsch?« versetzte Karp leise, zuckte mit den Achseln und legte den Kopf auf die Seite. »Wenn Sie durchaus wollen, können Sie seine Worte als Wahrheit nehmen, es steht ganz bei Ihnen . . .«

Karp schloß mit einem Seufzer, verneigte sich vor dem Prinzipal und machte eine Handbewegung, die bewies, daß er sich tief gekränkt fühlte.

»Hm ja – das steht allerdings bei mir . . .« stimmte der Kaufmann ihm bei. »Nach deiner Meinung ist der Junge also dumm?«

»Unglaublich dumm«, versetzte Karp im Brustton der Überzeugung.

»Nein, mein Lieber – da lügst du . . .« sagte Strogany und lachte plötzlich laut auf. »Wie er dir vorhin mit der Wahrheit ins Gesicht sprang! Hoho! Stiehlt der Karp? – Freilich stiehlt er! Ho ho ho!«

Als Ilja den Prinzipal lachen hörte, fühlte er, wie in seinem Herzen die freudige Empfindung der Rache aufloderte, und er blickte triumphierend zu Karp, zu dem Prinzipal aber mit dem Ausdruck der Dankbarkeit hin. Strogany kniff die Augen zusammen und lachte aus vollem Halse, und Karp ließ, als er den Kaufmann so lachen hörte, gleichfalls ein vorsichtiges Lachen aus seiner Kehle:

»He he he!«

Als jedoch Strogany diese dünnen Meckerlaute vernahm, kommandierte er streng:

»Schließ den Laden zu! . . .«

Auf dem Wege zum Hause des Kaufmanns sagte Karp kopfschüttelnd zu Ilja:

»Ein Dummkopf bist du doch, ein richtiger Dummkopf! Warum hast du nur diese langweilige Geschichte angefangen? Sag' mal! Erwirbt man sich so die Gunst der Prinzipale? Tölpel! Meinst du vielleicht, er wüßte nicht, daß wir beide, Mischka und ich, ihn bestehlen? Er hat doch mal genau ebenso angefangen . . . Dafür, daß er Mischka fortgejagt hat, muß ich dir ja, wenn ich ehrlich sein will, Dank sagen. Aber daß du auch mich verklatscht hast – das wird dir nie verziehen werden! . . . Das nennt man dumm und frech zugleich. Ein solches Wort von mir zu sagen, noch dazu in meiner Gegenwart! Das werd' ich dir nie vergessen . . . du hast damit bewiesen, daß du mich nicht achtest . . .«

Ilja hörte seine Ausführungen an, verstand sie jedoch nicht recht. Nach seiner Überzeugung hätte Karps Groll gegen ihn sich ganz anders äußern sollen: er hatte bestimmt erwartet, daß der Kommis ihn unterwegs gehörig durchprügeln werde, und hatte sich sogar gefürchtet, heimzugehen. Aus Karps Worten aber hörte er statt des Grolls nur den Spott heraus, und die Drohungen Karps schreckten Ilja nicht. Noch am Abend dieses Tages jedoch sollte der Sinn von Karps Reden Ilja klar werden – als ihn nämlich der Prinzipal in seine Wohnung nach dem oberen Stockwerk beschied.

»Aha! Siehst du? Geh nur hin!« rief Karp in einem Tone, der Schlimmes ahnen ließ, hinter ihm her.

Als Ilja oben ankam, blieb er an der Tür eines großen Zimmers stehen, in dem unter einer schweren Hängelampe ein großer Tisch mit einem großen Samowar darauf stand. Rings um den Tisch saß der Prinzipal mit seiner Gemahlin und seinen Töchtern, drei rothaarigen, sommersprossigen jungen Mädchen, von denen immer eins um einen Kopf kleiner war als das andere. Bei Iljas Eintritt drängten sich alle drei eng aneinander und schauten ihn mit ihren drei blauen Augenpaaren ängstlich an.

»Da ist er!« sagte der Prinzipal.

»Sagt doch mal – so'n Bürschchen!« rief ängstlich die Frau Prinzipalin und sah auf Ilja mit einem Blick, als ob sie ihn noch nie gesehen hätte. Strogany lächelte, strich seinen Bart, trommelte mit den Fingern auf dem Tische und sagte in eindringlichem Tone:

»Ich hab' dich rufen lassen, Ilja, um dir zu sagen, daß ich dich nicht mehr brauche – nimm also deine Siebensachen und geh deiner Wege . . .«

Ilja zuckte zusammen und öffnete vor Verblüffung den Mund, vermochte jedoch kein Wort herauszubringen, sondern machte kehrt und ging aus dem Zimmer.

»Halt!« rief der Kaufmann, den Arm hinter ihm ausstreckend, und während er mit der flachen Hand auf den Tisch schlug, rief er noch einmal:

»Halt!«

Dann hob er den Finger auf und fuhr langsam und wohlgesetzt fort:

»Nicht darum allein hab' ich dich rufen lassen . . . Nein! . . . Auch eine Lehre wollt' ich dir mit auf den Weg geben . . . Ich wollte dir erklären, warum ich dich nicht mehr brauchen kann. Nichts Böses hast du mir getan . . . bist ein Junge, der was gelernt hat . . . bist fleißig, ehrlich und kräftig . . . ja wohl! Das sind deine Trümpfe – und doch bist du für mich ungeeignet . . . paßt nicht für mein Geschäft . . . Wieso – fragst du? . . . Hm ja . . .«

Ilja wunderte sich, daß man ihn zu gleicher Zeit lobte und fortjagte. Das wollte sich in seinem Kopfe durchaus nicht zusammenreimen, rief eine seltsam zwiespältige Empfindung in ihm hervor und brachte ihn auf den Gedanken, daß der Prinzipal vielleicht selbst nicht wisse, was er tue . . . Er trat vor und sagte in aller Ehrerbietung:

»Sie jagen mich wohl fort, weil ich vorhin mit dem Messer losging? . . .«

»Um des Himmels willen!« rief die Frau des Prinzipals ganz erschrocken. »Wie frech er ist! O Gott! . . .«

»Das ist's!« sagte der Prinzipal selbstzufrieden, während er Ilja zulächelte und mit dem Finger nach ihm tippte. »Du bist – frech! Das ist das richtige Wort: frech bist du . . . Ein junger Bursche, der in fremden Diensten steht, muß demütig sein . . . demütig und bescheiden, wie es in der Heiligen Schrift heißt . . . Er hat ganz in dem aufzugehen, was seines Herrn ist. Sein Verstand, seine Redlichkeit . . . alles muß nur auf den Vorteil des Herrn gerichtet sein . . . Und du hast deinen eignen Gesichtspunkt . . . Das geht entschieden nicht, siehst du . . . Du sagst zum Beispiel einem Menschen ins Gesicht – er sei ein Dieb! Das ist nicht schön, das ist frech . . . Wenn du schon selbst so ehrlich bist, dann konntest du es mir ja sagen, was mit den Leuten los ist – aber ganz insgeheim . . . Ich würde schon alles andere veranlaßt haben, dafür bin ich ja der Prinzipal! . . . Und du sagst ganz laut: er stiehlt! . . . Du drängst den Leuten deine Ehrlichkeit auf. Wenn von dreien nur einer ehrlich ist, so hat das für mich gar nichts zu bedeuten . . .«

Strogany wischte sich mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn, stieß einen Seufzer aus und fuhr mit einem Ausdruck, in dem zugleich Rührung und Selbstzufriedenheit lag, also fort:

»Dann greifst du auch gleich zum Messer . . .«

»O Jesus Christus!« rief erschrocken die Frau Prinzipalin, während die drei Mädchen sich noch enger aneinander schmiegten.

»Es heißt in der Schrift: ›Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert sterben‹ . . . Aus diesem Grunde kann ich dich ganz und gar nicht brauchen . . . Geh deiner Wege . . . hast mir nichts Schlimmes nachzutragen, so wenig, wie ich dir . . . Ich schenke dir sogar den halben Rubel hier – nimm ihn! . . . Gesprochen hab' ich mit dir, wie man sonst mit 'nem Jungen nicht spricht – ganz ernst, daß du's zu Herzen nimmst . . . und so weiter . . . Vielleicht tust du mir sogar leid . . . aber du paßt eben nicht für mich! Paßt der Pflock nicht ins Loch, dann ist's am besten, ihn wegzuwerfen . . . Na, geh also jetzt!«

Ilja hatte die Rede des Prinzipals mit Aufmerksamkeit angehört und sehr einfach gedeutet: der Kaufmann jagte ihn fort, weil er Karp nicht fortjagen konnte, da er sonst ohne Kommis geblieben wäre. Dieser Gedanke erleichterte sein Herz und stimmte ihn freudig, und der Prinzipal erschien ihm als ein lieber, einfacher Mensch.

»Halt nur das Geld fest!« rief Strogany.

»Leben Sie wohl!« wiederholte Ilja, während er die Silbermünze fest in der Hand hielt. »Ich dank' auch schön!«

»Seht doch! Nicht 'ne Träne hat er vergossen!« hörte Ilja die Frau des Prinzipals vorwurfsvoll hinter seinem Rücken ausrufen.

Als Ilja, mit dem Bündel auf dem Rücken, aus dem schweren Tor des Kaufmannshauses trat, war's ihm, als ob er aus einem grauen und öden Lande käme, von dem er in einem Buche gelesen hatte, in dem es nichts gab, keine Menschen, keine Dörfer, sondern nur Steine – und mitten unter diesen Steinen lebte ein guter, alter Zauberer, der freundlich jedem, dessen Schritt sich in dieses Land verirrte, den Weg aus demselben zeigte.

Es war am Abend eines klaren Frühlingstages. Die Sonne ging unter, in den Fenstern der Häuser flammte ihr roter Feuerschein. Das rief in Ilja die Erinnerung an jenen andern Tag wach, da er zum erstenmal vom Ufer des Flusses die Stadt erblickte. Das Bündel mit seinen Habseligkeiten lastete schwer auf seinem Rücken, und er verlangsamte seinen Schritt. Auf dem Bürgersteig hasteten die Menschen daher und stießen in der Eile gegen sein Bündel an; Equipagen rollten an ihm vorüber; in den schrägen Strahlen der Sonne tanzte der Staub, und überall herrschte lautes, lebhaftes, munteres Treiben. Im Gedächtnis des Knaben ward alles das lebendig, was er während all der Jahre in der Stadt erlebt hatte. Er fühlte sich als erwachsenen Menschen, sein Herz schlug stolz und frei, und in seinen Ohren klangen die Worte des Kaufmanns:

»Du bist ein Junge, der was gelernt hat, bist nicht dumm, bist kräftig und nicht träg . . . Das sind deine Trümpfe . . .«

»Wir wollen das Spiel wagen!« sagte sich Ilja im stillen, während er seinen Schritt wieder beschleunigte. Ein berauschendes Gefühl der Freude erfüllte ihn, und unwillkürlich lächelte er bei dem Gedanken, daß er am nächsten Morgen nicht mehr nach dem Fischladen zu gehen brauchte . . .


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