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Bald nach diesem Ereignis begann der alte Jeremjej zu kränkeln. Immer seltener ging er aus, um Lumpen zu sammeln, hielt sich meist zu Hause, drückte sich gelangweilt im Hofe herum oder lag auf dem Bett in seiner dunklen Kabine.
Der Frühling kam heran, und wenn die Sonne warm vom blauen Himmel niederstrahlte, saß der Alte irgendwo an einem sonnigen Plätzchen, zählte mit besorgter Miene irgend etwas an seinen Fingern ab und bewegte tonlos seine Lippen. Immer seltener erzählte er den Kindern Geschichten, immer schwerer wurde dabei seine Zunge. Kaum hatte er angefangen zu reden, so mußte er auch schon husten. In seiner Brust röchelte etwas heiser, als ob es um Befreiung bäte . . .
»So erzähl' doch weiter«, bat ihn Mascha, die seine Geschichten ganz besonders liebte.
»Wa–arte«, sprach der Alte, mühsam Atem holend. »Gleich . . . wird's aufhören . . .«
Aber der Husten hörte nicht auf, sondern schüttelte den ausgemergelten Körper des Alten immer heftiger. Zuweilen gingen die Kinder auseinander, ohne das Ende der Geschichte abzuwarten. Wenn sie fortgingen, schaute ihnen Jeremjej mit wehmütigem Blicke nach.
Ilja hatte bemerkt, daß die Krankheit des Lumpensammlers den Büfettier Petrucha und Onkel Terentij ganz besonders beunruhigte. Mehrmals am Tage erschien Petrucha auf der Hoftreppe der Schenke, hielt mit seinen pfiffigen grauen Augen Umschau nach dem Alten und fragte ihn dann:
»Na, wie geht's Geschäft, Großvater? Fühlst dich besser, wie?«
Selbstbewußt sah man seine stämmige Gestalt in dem rosa Baumwollhemd einherschreiten, die Hände in den Taschen der weiten, in blankgewichsten Faltenstiefeln steckenden Tuchhosen. Immer hörte man Geld in seinen Taschen klimpern. Sein runder Schädel begann über der Stirn bereits kahl zu werden, doch saß noch ein tüchtiger Schopf dunkelblonden, gelockten Haares darauf, und er liebte es, wie ein Geck sein langes Haar in den Nacken zu werfen. Ilja war ihm nie recht zugetan gewesen; und jetzt wuchs dieses Gefühl der Abneigung bei dem Knaben immer mehr. Er wußte, daß Petrucha Großvater Jeremjej nicht liebte, und eines Tages hörte er, wie der Büfettier dem Onkel bezüglich des Alten Verhaltungsmaßregeln gab.
»Hab' nur acht auf ihn, Terecha! Er ist ein alter Filz! . . . Er muß 'nen hübschen Batzen Geld im Kopfkissen eingenäht haben. Halt ja die Augen offen! . . . Hat nicht mehr lange zu machen, der alte Maulwurf; du bist ihm befreundet, und er hat keine lebendige Seele auf der Welt! . . . Merk' dir das, mein Lieber! . . .«
Die Abende brachte Großvater Jeremjej, wie früher, in der Schenke bei Terentij zu; er unterhielt sich mit dem Buckligen über Gott und die menschlichen Angelegenheiten. Der Bucklige war, seit er in der Stadt lebte, noch mißgestalteter geworden. Es war, als wenn er von seiner Arbeit aufgeschwemmt worden wäre. Seine Augen hatten einen trüben, scheuen Ausdruck bekommen, und der Körper war gleichsam in dem heißen Dunst der Schenke zerschmolzen. Das schmutzige Hemd kroch ihm beständig auf den Buckel hinauf und ließ seine nackten Lenden sehen. Wenn Terentij mit jemandem sprach, hielt er die ganze Zeit seine Hände auf dem Rücken und suchte beständig mit rascher Handbewegung das Hemd zurechtzuzupfen, was den Eindruck erweckte, als ob er etwas in seinen Buckel hineinzustopfen suchte.
Wenn Großvater Jeremjej draußen im Hofe saß, ging Terentij auf die Vortreppe und schaute nach ihm aus, wobei er die Augen zusammenkniff und mit der Hand beschattete. Das strohgelbe Bärtchen in seinem spitzen Gesichte zuckte, wenn er den Alten mit schuldbewußter Stimme fragte:
»Großväterchen Jerema! Habt Ihr nicht was nötig?«
»Danke schön! . . . Habe nichts nötig . . . nichts hab' ich nötig! . . .« versetzte der Alte.
Der Bucklige machte langsam auf seinen dürren Beinen kehrt und ging in die Schenke zurück.
»'s wird wohl nichts mehr werden mit mir«, sagte Jeremjej immer häufiger, »'s ist wohl Zeit für mich, zu sterben! . . .«
Eines Tages, als er sich in seinem Winkel schlafen legte, begann er nach einem Hustenanfall zu murmeln:
»Zu früh sterb' ich, o Herr! Hab' mein Werk noch nicht vollbracht! . . . Geld hab' ich angehäuft . . . so manches Jahr lang . . . für eine Kirche in meinem Heimatsdorfe . . . Gar not tut es den Menschen, daß sie Gottestempel haben, die uns eine Zuflucht sind . . . Zu wenig hab' ich gesammelt . . . o Gott! Das Rabenvolk flattert um mich her, es spürt den fetten Bissen! . . . Merk' dir's, Iljuschka: ich hab' Geld . . . Sag's keinem Menschen, aber merk' dir's! . . .«
Ilja horchte auf das Geflüster des Alten – er fühlte sich gehoben als Mitwisser eines wichtigen Geheimnisses und begriff, wen der Alte mit dem Rabenvolk meinte. Und ein paar Tage später, als er aus der Schule kam und sich in seinem Winkel auszog, hörte er, wie Jeremjej röchelte und schluckte, als wenn ihn jemand würgte, und dabei ganz seltsame Laute ausstieß:
»Ksch . . . kschsch . . . weg da! . . .«
Ängstlich versuchte der Knabe die Tür zur Kammer des Alten zu öffnen, doch sie war verschlossen. Hinter der Tür ließ sich als Antwort nur ein ängstliches Flüstern vernehmen:
»Ksch . . . kschsch! . . . O Herr . . . erbarme Dich . . . erbarme Dich! . . .«
Ilja trat an den Bretterverschlag und schaute, zitternd vor Erregung, durch eine Spalte. Er sah den Alten auf seinem Bett liegen und mit den Armen in der Luft fuchteln.
»Großväterchen!« rief der Knabe noch einmal voll Angst.
Der Alte fuhr zusammen, hob den Kopf auf und murmelte laut:
»Ksch! . . . Petrucha . . . laß sein, denk' an Gott! Ihm gehört's! . . . Einen Tempel will ich ihm davon bauen . . . Ksch! . . . Weg, du Rabe! . . . O Herr . . . es ist Dei–ein! . . . Schütze es . . . Nimm's an Dich . . . erbarme Dich . . . erbarme Dich!«
Ilja erbebte vor Furcht und vermochte nicht, sich von der Stelle zu rühren: er sah nur immer, wie die schwarze, dürre Hand Jeremjejs sich kraftlos in der Luft bewegte und mit dem gekrümmten Finger drohte.
»Schau her! Es gehört Gott! . . . Rühr's nicht an! . . .«
Dann erhob sich der Alte und saß plötzlich aufrecht auf seinem Bett. Sein weißer Bart zitterte wie der Fittich einer Taube im Fluge. Er streckte die Arme vor, als ob er mit dem letzten Kraftaufwand jemanden von sich stoßen wollte, und stürzte zu Boden.
Ilja schrie auf und rannte davon. In seinen Ohren klang immerzu das Zischen:
Der Knabe stürzte in die Schenke und rief atemlos:
»Er ist gestorben . . .«
Terentij stieß ein erstauntes Ach! aus, trippelte unruhig auf einer Stelle hin und her und zupfte krampfhaft an seinem Hemd, wobei er Petrucha ansah, der hinter dem Büfett stand.
»Na, was wartest du denn?« sagte Petrucha streng und bekreuzte sich. »So geh doch! Gott sei seiner Seele gnädig! Ein wackerer Alter war es . . . Ich will mal hingehen . . . will ihn sehen . . . Ilja, bleib so lange hier . . . Wenn was nötig sein sollte, dann hol' mich – hörst du? Jakow, geh hinters Büfett . . .«
Petrucha verließ ohne besondere Eile die Schenke, wobei er laut mit den Absätzen auftrat. Die Knaben hörten, wie er hinter der Tür von neuem auf den Buckligen einredete:
»Lauf doch, lauf rasch, du Tölpel! . . .«
Ilja hatte von allem, was er gesehen und gehört, einen heftigen Schrecken bekommen, der ihn jedoch nicht hinderte, genau zu beobachten, was ringsum vorging.
»Hast du gesehen, wie er gestorben ist?« fragte Jakow, der hinter dem Schenktisch stand.
Ilja sah ihn an und fragte, statt zu antworten, seinerseits:
»Weshalb sind sie nur hingegangen?«
»Um sich ihn anzusehen! . . . Du hast sie doch gerufen! . . .«
Ilja schloß die Augen und sagte:
»Schrecklich war's! . . . Wie er ihn von sich stieß . . .«
»Wen?« fragte Jakow, neugierig den Kopf vorstreckend.
»Den Teufel! . . .« versetzte Ilja nach einem Weilchen.
»Hast du den Teufel gesehen?« rief Jakow gespannt, während er hastig auf Ilja zutrat. Doch Ilja hatte die Augen wieder geschlossen und antwortete nicht.
»Bist wohl sehr erschrocken?« forschte Jakow weiter und zupfte Ilja am Ärmel.
»Wart'!« sagte Ilja plötzlich. »Ich lauf noch mal hin . . . auf einen Augenblick . . . ja? Sag' deinem Vater nichts!«
Von heftigem Argwohn getrieben, war Ilja im nächsten Augenblick wieder unten im Keller, stahl sich geräuschlos wie eine Maus an den Spalt in dem Verschlage und spähte wieder hindurch. Der Alte lebte noch und röchelte: er lag auf dem Fußboden, zu Füßen zweier schwarzen Gestalten, die im Halbdunkel zu einem einzigen großen, unförmlichen Wesen verwachsen schienen. Dann sah Ilja seinen Onkel neben dem Bett des Alten knien und ein Kissen hastig vernähen. Ganz deutlich hörte man den Faden durch, das Zeug des Inletts schwirren. Petrucha stand hinter Terentij, beugte sich über ihn und flüsterte:
»Mach' rascher . . . Ich sagte dir immer: Halt Nadel und Zwirn bereit . . . Aber nein, du mußt erst lange einfädeln . . . Ach, du!«
Das Flüstern Petruchas, die gurgelnden Seufzer des Sterbenden, das Schwirren des Fadens und das eintönige Rieseln des Wassers, das in die Grube vor dem Fenster rann – all das floß zu einem dumpfen Geräusch zusammen, unter dessen Einfluß das Bewußtsein Iljas sich verwirrte. Er verließ leise den Spalt, an dem er gelauscht hatte, und huschte aus dem Keller. Ein großer, schwarzer Fleck drehte sich wie ein Rad schwirrend vor seinen Augen. Er mußte sich, während er die Treppe zur Schenke hinaufstieg, am Geländer festhalten und fühlte eine seltsame Schwere in den Beinen. Als er endlich die Tür erreicht hatte, blieb er stehen und begann still zu weinen. Jakow war auf ihn zugeeilt und sprach lebhaft auf ihn ein. Dann erhielt er einen Stoß in den Rücken und vernahm Perfischkas Stimme:
»Wer? . . . Was ist los? So sprich doch! Er ist tot? Ach! . . .«
Und von neuem stieß der Schuster Ilja in die Seite und stürzte so hastig hinaus, daß die Treppenstufen unter seinen Schritten erzitterten. Als er aber unten stand auf der letzten Stufe, schrie er laut und kläglich:
»Ach, diese Spitzbuben!«
Dann hörte Ilja, wie der Onkel und Petrucha die Treppe heraufkamen; er wollte vor ihnen nicht weinen, doch vermochte er seine Tränen nicht zurückzuhalten.
»Ach, du!« sagte Perfischka, der mit ihnen heraufgekommen war, zu Petrucha. »So wart ihr also schon dort bei ihm? . . .«
Terentij schritt an seinem Neffen vorüber und vermochte ihm nicht ins Gesicht zu sehen. Petrucha aber legte seine Hand auf Iljas Schulter und sagte:
»Du weinst, mein Junge? Das ist recht . . . Es zeigt, daß du ein dankbares Herz hast und begreifst, was der Alte für dich getan hat. Er war dir ein gro–oßer Wohltäter! . . .«
Dann schob er Ilja leicht auf die Seite und sagte:
»Darum brauchst du aber nicht gerade hier in der Tür zu stehen.«
Ilja wischte sich mit dem Hemdärmel die Tränen vom Gesichte und ließ seinen Blick über die Anwesenden streifen. Petrucha stand schon wieder hinter dem Büfett und schüttelte seine Locken. Vor ihm stand Perfischka und grinste höhnisch. Sein Gesicht hatte einen Ausdruck, als ob er eben sein letztes Fünfkopekenstück in »Schrift oder Adler« verspielt hätte.
»Na, woran fehlt es denn, Perfischka?« fragte Petrucha barsch und zog die Brauen empor.
»Zum besten gibst du wohl nichts?« versetzte Perfischka plötzlich.
»Ich soll was zum besten geben? . . . Aus welchem Anlaß?« fragte der Büfettier gleichmütig.
»Ach, du Schelm!« rief der Schuster ärgerlich und stampfte mit dem Fuße auf. »Da hält man nun's Maul offen – und die gebratene Taube fliegt vorbei! Na, 's ist mal geschehen! . . . Wünsche von Herzen Glück, Peter Jakimytsch!«
»Was schwatzt du?« fragte Petrucha und lächelte dabei so harmlos wie möglich.
»Ich rede nur so . . . aus lauter Herzenseinfalt . . .«
»Ein Gläschen möchtest du also trinken – darauf willst du doch hinaus? He he!«
»Hahaha!« ließ sich laut das muntere Lachen des Schusters vernehmen.
Ilja bewegte heftig den Kopf, wie wenn er etwas herausschütteln wollte, und verließ die Schankstube.
Er legte sich diesmal nicht unten in seinem Kellerwinkel schlafen, sondern in der Schenke, unter dem Tische, auf dem Terentij das Geschirr wusch. Dort machte der Bucklige seinem Neffen ein Lager zurecht, während er selbst die Tische abzuwaschen begann. Auf dem Schenktisch brannte eine Lampe, welche die bauchigen Teekannen und die Flaschen im Wandschrank beleuchtete. In der Schenke selbst war es dunkel. Ein feiner Regen schlug gegen die Scheiben, und der Wind rauschte leise . . .
Einem großen Igel gleichend, kroch Terentij zwischen den Tischen umher und seufzte. Sooft er in die Nähe der Lampe kam, warf seine Gestalt einen großen, schwarzen Schatten auf den Fußboden. Es schien Ilja, daß die Seele des alten Jeremjej hinter dem Onkel herschleiche und ihm ins Ohr zische:
»Ksch . . . kschsch! . . .«
Dem Knaben war ängstlich zumute, und er fröstelte. Der feuchte Dunst der Schenke bedrückte ihn. Es war Sonnabend. Der Fußboden war eben gewaschen worden und strömte einen modrigen Geruch aus. Ilja wollte den Onkel bitten, sich doch so rasch wie möglich neben ihm niederzulegen, doch hielt ihn ein peinliches, widerstrebendes Gefühl zurück, ihn anzureden. Er sah im Geiste die krumme Gestalt des alten Jeremjej mit dem weißen Barte, und seine freundlichen Worte klangen ihm heiser im Ohre wieder:
»Der Herr kennt das Maß aller Dinge! . . . Merk' dir's!«
»Leg' dich doch schon hin!« stieß Ilja endlich ärgerlich hervor.
Der Bucklige fuhr zusammen und blickte erschrocken auf. Dann antwortete er leise und schüchtern:
»Gleich! Gleich!« Und er begann rasch, wie ein Kreisel, sich um die Tische zu drehen. Ilja merkte, daß auch der Onkel sich fürchtete, und er dachte im stillen:
»Recht so, fürchte dich nur! . . .«
In feinen Wirbeln trommelte der Regen gegen die Fensterscheiben. Die Flamme der Lampe zuckte auf. Ilja bedeckte seinen Kopf mit der Pelzjacke des Onkels und lag, den Atem anhaltend, da. Plötzlich begann sich neben ihm etwas zu bewegen. Ein Schauer überlief ihn – ängstlich steckte er den Kopf heraus und sah, wie Terentij auf der Erde kniete, den Kopf vorgeneigt, so daß sein Kinn die Brust berührte. Und Ilja hörte, wie er flüsternd betete:
»O Herr und Vater im Himmel . . . O Herr! . . .«
Dieses Flüstern erinnerte ihn an das Röcheln des sterbenden Jeremjej. Das Dunkel im Zimmer geriet gleichsam in Bewegung, auch der Boden schien sich im Kreise zu drehen, und in den Schornsteinen heulte der Wind.
»Laß das Beten!« rief Iljas helle Stimme.
»Wie? Was ist dir denn?« rief der Bucklige halblaut. »Schlaf doch, um Christi willen!«
»Laß das Beten!« wiederholte der Knabe eindringlich.
»Gut . . . ich will's lassen . . .«
Die Feuchtigkeit und das Dunkel in dem Zimmer drückten immer schwerer auf Ilja, er atmete beklommen, und sein Inneres war erfüllt von Furcht, von Trauer um den heimgegangenen Alten und von einem tiefen Groll gegen den Onkel. Er warf sich auf dem Fußboden hin und her, richtete sich auf und stöhnte vernehmlich.
»Was willst du denn? Was ist?« rief der Onkel erschrocken und legte seinen Arm um ihn.
Ilja stieß ihn zurück und sprach mit tränenerstickter Stimme, aus der bittre Pein und Entsetzen klang:
»O Gott! Wenn ich doch . . . irgendwohin laufen . . . mich irgendwo verstecken könnte! . . . O Gott! . . .«
Er konnte vor Tränen nicht sprechen. Mühsam atmete er die dumpfe Luft der Schenke und barg das Gesicht schluchzend in seinem Kissen.