Maxim Gorki
Drei Menschen
Maxim Gorki

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XVII

In seiner neuen Wohnung hatte Ilja sich ruhig eingelebt, und seine Wirtsleute interessierten ihn ganz besonders. Die Wirtin hieß Tatjana Wlaßjewna. Munter und stets zum Plaudern aufgelegt, hatte sie schon wenige Tage nach Iljas Einzug in dem blauen Zimmerchen dem neuen Mieter die ganze Einrichtung ihres Lebens geschildert.

Des Morgens, wenn Ilja in seinem Zimmer den Tee trank, machte sie sich mit vorgebundener Schürze und bis zum Ellbogen aufgestreiften Ärmeln in der Küche zu schaffen, guckte auch wohl einmal zu ihm hinein und sagte lebhaft:

»Wir sind keine reichen Leute, ich und mein Gatte – aber wir besitzen Bildung . . . Ich habe das Progymnasium besucht, und er war sogar im Kadettenkorps, wenn er's auch nicht ganz durchgemacht hat. Aber wir wollen reich sein, und wir werden es erreichen . . . Kinder haben wir nicht – die verursachen die größten Ausgaben. Ich koche selber, gehe selbst auf den Markt, und für die sonstige Arbeit halte ich mir ein Mädchen, das zu Hause wohnt, für anderthalb Rubel monatlich. Sie sehen, was ich alles spare! . . .« Sie blieb in der Tür stehen, und während sie ihre Löckchen schüttelte, begann sie aufzuzählen: »Lohn für die Köchin – drei Rubel, Kost für die Köchin – sieben Rubel, macht zehn Rubel . . . Für drei Rubel stiehlt sie monatlich zusammen – dreizehn Rubel. Ihr Zimmer vermiete ich an Sie – achtzehn Rubel. So teuer, sehen Sie, kommt eine Köchin zu stehen! Dann kauf ich alles im großen ein: Butter – ein halbes Pud; Mehl – einen ganzen Sack; Zucker gleich im ganzen Kopf, und so weiter . . . Daran spar' ich wieder zwölf Rubel – macht dreißig Rubel. Wenn ich irgendwo, bei der Polizei oder bei der Telegraphie, eine Stellung hätte, würde ich nur für die Köchin arbeiten. Und jetzt koste ich meinen Mann gar nichts und bin stolz darauf. So muß man verstehen, sich das Leben einzurichten . . . Lernen Sie es, junger Mann! . . .«

Sie guckte mit den muntern Augen Ilja schelmisch ins Gesicht, und er lächelte sie verlegen an. Sie gefiel ihm und flößte ihm doch auch zu gleicher Zeit Achtung ein. Des Morgens, wenn er erwachte, wirtschaftete sie schon in der Küche herum, zusammen mit einem pockennarbigen, halbwüchsigen Mädchen, das seine Herrin, wie alles andere ringsum, mit seinen erschrockenen, farblosen Augen anstarrte. Des Abends, wenn Ilja nach Hause kam, öffnete Tatjana Wlaßjewna ihm die Tür – lächelnd, schlank und adrett, nach irgendeinem Parfüm angenehm duftend. Wenn ihr Gatte zu Hause war, spielte er auf der Gitarre, und sie begleitete ihn mit ihrer klaren Stimme, oder sie setzten sich an den Kartentisch und spielten um Küsse. Ilja konnte in seinem Zimmer alles hören: das Tönen der Saiten, die bald lustig, bald gefühlvoll klangen, das Aufschlagen der Karten und das Schmatzen der Lippen. Ihre Wohnung bestand aus zwei Zimmern: dem Schlafzimmer und einem zweiten, an Iljas Stübchen angrenzenden Raume, der den Ehegatten als Eß- und Gastzimmer diente und in dem sie ihre Abende zubrachten . . . Des Morgens vernahm man in diesem Zimmer helle Vogelstimmen: die Meise piepte, Zeisig und Stieglitz sangen um die Wette, der Gimpel pfiff würdevoll dazwischen, und mitten in diese lauten Töne ließ der Hänfling sein nachdenkliches, leises Lied erschallen.

Tatjanas Gatte, Kirik Nikodimowitsch Awtonomow, war ein Mann von sechsundzwanzig Jahren, hochgewachsen, voll, mit großer Nase und schwarzen Zähnen. Sein gutmütiges Gesicht war voll Finnen, und seine wasserblauen Augen schauten auf alles mit unerschütterlicher Ruhe. Das kurzgeschorene, helle Haar stand von seinem Kopfe wie eine Bürste ab, und in der ganzen plumpen Gestalt Kirik Awtonomows lag etwas Unbeholfenes und Lächerliches. Seine Bewegungen waren schwerfällig, und gleich bei der ersten Begegnung fragte er Ilja aus irgendeinem Grunde:

»Hast du Singvögel gern?«

»Sehr gern . . .«

»Fängst du welche?«

»Nein . . .« antwortete Ilja, während er den Revieraufseher verwundert ansah.

Dieser rümpfte die Nase, dachte ein Weilchen nach und fragte weiter:

»Hast du früher welche gefangen?«

»Nein, auch früher nicht . . .«

»Niemals?«

»Niemals . . .«

Da lächelte Kirik Awtonomow herablassend und meinte:

»Du liebst sie also nicht, wenn du sie nicht gefangen hast . . . Ich habe welche gefangen und bin darum sogar aus dem Kadettenkorps hinausgeworfen worden . . . Auch jetzt würde ich noch Vögel fangen, doch will ich mich in den Augen meiner Vorgesetzten nicht kompromittieren. Denn wenn auch die Liebe zu den Singvögeln eine edle Leidenschaft ist, so ist doch das Fangen der Singvögel eine Unterhaltung, die eines soliden Menschen nicht würdig ist . . . Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich unbedingt Zeisige fangen! Der Zeisig ist ein munterer Vogel. Darum nennt man ihn auch den Vogel Gottes . . .«

Awtonomow sah beim Sprechen mit schwärmerischem Ausdruck in Iljas Gesicht, und Lunew fühlte eine gewisse Verlegenheit, als er seine sonderbaren Worte hörte. Es schien ihm, daß der Revieraufseher vom Vogelfang in allegorischem Sinne, mit Anspielungen auf irgend etwas sprach. Aber die wasserblauen Augen Awtonomows beruhigten ihn, und er gewann die Überzeugung, daß der Revieraufseher ein ganz harmloser Mensch war. Ein Lächeln war Iljas Antwort auf die Ausführungen Kiriks. Diesem gefiel offenbar das bescheidene Wesen und das ernste Gesicht des Mieters, und er schlug ihm vor:

»Komm doch des Abends zu uns zum Tee . . . Mach' keine großen Umstände . . . wir werden Karten spielen . . . Gäste sind bei uns selten. Gäste haben ist eine angenehme Sache, aber man muß sie bewirten, und das ist unangenehm, denn es kostet Geld.«

Je länger Ilja das behagliche Leben seiner Wirtsleute beobachtete, desto besser gefielen sie ihm. Alles war bei ihnen sauber und solid, alles geschah in Ruhe, und sie waren einander offenbar sehr zugetan. Die kleine, flinke Frau glich einer munteren Meise, ihr Gatte einem unbeholfenen Gimpel, und in ihrer Wohnung war es so nett wie in einem Vogelnest. Wenn Lunew des Abends zu Hause war, lauschte er auf die Unterhaltung der Wirtsleute und dachte bei sich:

»So lass' ich mir das Leben gefallen!«

Und er seufzte voll Neid und träumte immer lebhafter von der Zeit, da er seinen Laden aufmachen und ein eignes, kleines, sauberes Zimmer haben würde – darin würde er sich Vögel halten und ganz für sich, still und ruhig leben, wie im Traume . . . Hinter der Wand erzählte Tatjana Wlaßjewna ihrem Manne, was sie alles auf dem Markte gekauft hatte, wieviel sie ausgegeben und gespart hatte, und ihr Gatte lachte vergnügt und lobte sie:

»Ach, mein kluges Weibchen! . . . Komm, gib mir einen Kuß . . .«

Er erzählte ihr von den Vorkommnissen in der Stadt, von den Protokollen, die er aufgenommen hatte, von dem, was der Polizeimeister oder sonst ein Vorgesetzter ihm gesagt hatte . . . Sie sprachen von der Möglichkeit einer Gehaltserhöhung und erwogen reiflich die Frage, ob sie im Fall einer solchen eine größere Wohnung würden nehmen müssen.

Ilja hörte zu, und plötzlich befiel ihn eine ihm unbegreifliche trostlose Langeweile. Es ward ihm zu eng in dem kleinen blauen Zimmer, er sah sich unruhig darin um, als ob er die Ursache seiner üblen Stimmung suchte, und als er den Druck, der auf seiner Brust lag, nicht länger zu ertragen vermochte, ging er zu Olympiada oder lief lange in den Straßen der Stadt auf und ab.

Olympiada war ihm gegenüber immer anspruchsvoller geworden, sie plagte ihn mit Eifersucht, und es kam zwischen ihnen immer häufiger zum Streit. Wenn sie sich zankten, sprach sie niemals von der Ermordung Poluektows, in ihren guten Augenblicken jedoch bat sie Ilja immer wieder, »diese Geschichte« zu vergessen. Lunew wunderte sich über ihre Hartnäckigkeit und fragte sie eines Tages nach einem Streit:

»Lipa! Sag' doch – warum sprichst du, wenn du mit mir zankst, nie von dem Alten?«

Sie antwortete ohne Besinnen:

»Weil diese Angelegenheit weder die meinige noch die deinige ist. Wenn sie dich nicht gefunden haben – dann ist ihm eben recht geschehen. Du warst dabei der Arm, nicht die Kraft . . . Du hattest keinen Grund, ihn zu erwürgen, wie du selbst sagst. Also hat er durch dich nur seine Strafe bekommen . . .«

Ilja lachte ungläubig.

»So–o . . . Ich dachte eben, daß, wenn ein Mensch nicht ganz dumm ist, er unbedingt ein Gauner sein muß . . . Alles vermag er zu rechtfertigen . . . Und ebenso kann er aus allem ein Verbrechen machen . . .«

»Ich versteh' dich nicht«, sagte Olympiada und schüttelte den Kopf.

»Was ist denn da unverständlich?« fragte Ilja, seufzte und zuckte die Achseln. »Sehr einfach! Zeig' mir irgend etwas im Leben, das für alle Zeiten unerschütterlich dastände; finde etwas, das nicht irgendein Schlaukopf anzufechten vermöchte: du wirst nichts finden! Es gibt eben nichts Feststehendes im Leben.«

Nach einer der gewohnten Zänkereien, als Ilja bereits vier Tage lang nicht bei Olympiada gewesen war, erhielt er von ihr einen Brief . . . Sie schrieb:

»So leb' denn wohl, mein lieber Iljuscha, auf immer, denn wir werden uns niemals wiedersehen. Suche mich nicht – Du wirst mich nicht finden. Mit dem nächsten Dampfer verlasse ich diese unselige Stadt: in ihr hab' ich meine Seele für mein ganzes Leben zugrunde gerichtet. Ich fahre weit, weit fort und kehre nie mehr wieder – denk' nicht an mich und erwarte mich nicht. Für alles Gute, das Du mir getan, danke ich Dir von ganzem Herzen, und das Böse will ich vergessen. Ich muß Dir noch der Wahrheit gemäß sagen, daß ich nicht ins Blaue hineinlaufe, sondern mit dem jungen Ananjin einig geworden bin, der mich schon lange umschwärmt und mir klagte, daß ich ihn auf dem Gewissen haben werde, wenn ich nicht mit ihm zusammenleben will. Da hab' ich schließlich eingewilligt: meinetwegen! Wir fahren ans Meer, in ein Dorf, wo Ananjin Fischereiplätze hat. Er ist sehr einfältig und will mich sogar heiraten, der gute, dumme Junge! Leb' wohl! Wie im Traume hab' ich Dich gesehen, und da ich erwachte – war nichts da! Verzeih auch Du mir! – Wenn Du wüßtest, wie mein Herz von Sehnsucht brennt! Ich küsse Dich, Du mein Einziger. Brüste Dich nicht vor den Leuten: wir sind alle unglücklich. Demütig bin ich geworden, ich, Deine Lipa, und ich geh' wie unters Beil – so sehr schmerzt mich meine zerrissene Seele. Olympiada Schlykowa. Mit der Post hab' ich Dir ein Andenken geschickt – einen Ring. Trag ihn, bitte. Ol. Sch.«

Ilja las den Brief und biß seine Lippen zusammen, daß sie ihn schmerzten. Er las ihn immer und immer wieder. Und je öfter er den Brief las, desto besser gefiel er ihm – es war ihm zugleich schmerzlich und angenehm, die einfachen, mit ungleichmäßigen, großen Buchstaben geschriebenen Worte zu lesen. Früher hatte Ilja nicht weiter darüber nachgedacht, von welcher Art das Gefühl war, das dieses Weib für ihn empfand, jetzt aber schien es ihm, daß Olympiada ihn stark und heftig geliebt hatte, und als er ihren Brief las, fühlte er eine tiefe Befriedigung in seinem Herzen. Aber diese Befriedigung machte allmählich dem Bewußtsein von dem Verluste eines teuren Wesens Platz, und der Gedanke, daß er nun niemand haben würde, dem er in den bittren Stunden der Schwermut sein Herz eröffnen konnte, drückte ihn nieder. Das Bild dieses Weibes stand lebhaft vor seinen Augen, er erinnerte sich ihrer leidenschaftlichen Liebkosungen, ihrer verständigen Reden, ihrer Scherze, und immer deutlicher empfand er in seiner Brust ein herbes Gefühl des Bedauerns. Er stand mit düstrer Miene am Fenster und schaute in den Garten – dort, in der Dunkelheit, rauschten leise die Holunderbüsche, und die dünnen, bindfadenartigen Zweige der Birke schwankten im Winde hin und her. Hinter der Wand tönten elegisch die Saiten der Gitarre, und Tatjana Wlaßjewna sang mit ihrem hohen Sopran:

»Mag, wer da will, im tiefen Meer
Den goldnen Bernstein finden . . .«

Ilja hielt den Brief der Geliebten in der Hand, er fühlte sich schuldig vor Olympiada, und Gram und Mitleid drückten schwer auf seine Seele.

»Mir hol' nur meinen kleinen Ring
Empor aus seinen Gründen!«

tönte es hinter der Wand. Dann lachte der Revieraufseher laut auf, und die Sängerin lief, gleichfalls mit hellem Lachen, in die Küche. Hier jedoch schwieg sie sogleich still. Ilja fühlte ihre Gegenwart irgendwo ganz in der Nähe, doch mochte er sich nicht umdrehen, um nach ihr hinzusehen, obschon er wußte, daß die Tür zu seinem Zimmer geöffnet war. Er horchte gleichsam auf seine eignen Gedanken, stand unbeweglich da und fühlte sich vereinsamt.

Die Bäume draußen im Garten schüttelten ihre Wipfel, und es war Lunew, als hätte er sich losgerissen von der Erde, als schwebe er irgendwo dort draußen im kalten Dämmerschein dahin . . .

»Ilja Jakowlewitsch! Wollen Sie Tee trinken?« ließ sich die laute Stimme der Wirtin vernehmen.

»Nein . . .« lautete Iljas Antwort.

Durch das Fenster drang das feierliche Läuten einer Glocke; der tiefe, weiche Ton versetzte das Fenster in Schwingungen, und es erzitterte kaum hörbar . . . Ilja bekreuzte sich, erinnerte sich, daß er schon lange nicht in der Kirche gewesen, und benutzte die Gelegenheit, das Haus zu verlassen.

»Ich gehe zur Abendandacht«, rief er seiner Wirtin zu, als er fortging.

Tatjana Wlaßjewna stand in der Tür, stützte sich mit den Händen gegen die Pfosten und sah ihn neugierig an. Ihr forschender Blick setzte Ilja in Verwirrung, und wie zur Entschuldigung sagte er:

»Bin schon lange nicht in der Kirche gewesen . . .«

»Gut, ich will den Samowar zu neun Uhr bereitstellen«, versetzte sie.

Auf dem Wege nach der Kirche dachte Lunew an den jungen Ananjin. Ilja kannte ihn: er war ein reicher junger Kaufmann, Mitinhaber der Fischereifirma »Gebrüder Ananjin« – ein blonder, hagerer junger Mann mit blassem Gesicht und blauen Augen. Er war erst vor kurzem in die Stadt gekommen und führte ein Leben auf großem Fuße.

»Das nenn' ich leben«, dachte Ilja bitter. »Wie ein junger Habicht treibt der es: kaum ist er flügge geworden, so fängt er sich auch schon ein Täubchen . . .«

Er betrat die Kirche in ärgerlicher Stimmung und stellte sich in die dunkle Ecke, in der die Leiter zum Anzünden des Kronleuchters stand.

»Herr, erbarme Dich!« sang man auf dem linken Kirchenchor. Ein Chorknabe sang mit einer unangenehmen, schrill in die Ohren gellenden Stimme und vermochte sich durchaus nicht dem heiseren, dumpfen Baß des Vorsängers anzupassen. Der unharmonische Gesang verdarb Ilja die Laune und erregte in ihm den Wunsch, den Jungen bei den Ohren zu nehmen. Der geheizte Ofen verbreitete eine starke Hitze in dem Winkel, es roch nach verbrannten Lumpen. Eine alte Frau in einer Saloppe trat an Ilja heran, sah ihm ins Gesicht und sprach griesgrämlich:

»Sie stehen da nicht an Ihrem Platz, mein Herr . . .«

Ilja betrachtete den mit Fuchsschwänzen verzierten Kragen ihrer Saloppe und trat schweigend zur Seite.

»Auch in der Kirche geht es nach dem Range . . .«

Es war das erstemal seit Poluektows Ermordung, daß er in einer Kirche war, und als er dessen inne ward, fuhr er unwillkürlich zusammen.

»Herr, erbarme dich!« flüsterte er und bekreuzte sich.

Laut und harmonisch erschallte der Gesang des Chores. Die Stimmen der Soprane, die den Text des Liedes klar und deutlich aussprachen, klangen unter der Kuppel wie helltönende kleine Glöckchen. Die Altstimmen bebten wie eine wohlklingende, straff gespannte Saite, und auf dem Hintergrund ihres ununterbrochenen Schalles, der wie ein Fluß dahinglitt, zitterten die Soprantöne gleich dem Widerschein der Sonne im durchsichtigen Wasserspiegel. Die tiefen, vollen Noten der Baßpartie schwebten feierlich durch die Luft und schienen den Gesang der Kinder zu tragen; von Zeit zu Zeit drangen die schönen, kräftigen Töne des Tenors hindurch, und von neuem erklangen dann laut die Stimmen der Kinder und stiegen in den Dämmerschein der Kuppel empor, von wo der Allerhalter, mit weißem Gewand angetan, nachdenklich niederblickte und die Betenden mit majestätisch ausgebreiteten Armen segnete. Der Gesang des Chors vereinigte sich zu einer einzigen, harmonisch gestimmten Masse von Tönen, die dahinschwebte wie eine Wolke bei Sonnenuntergang, wenn die Strahlen des sinkenden Tagesgestirns sie rosig und purpurn färben und sie allmählich sich aufzehrt im Selbstgenuß ihrer eignen Schönheit.

Der Gesang verstummte, und Ilja seufzte leicht und tief auf. Es war ihm wohl ums Herz, er fühlte nichts mehr von jener Gereiztheit, die ihn beim Eintritt in die Kirche beunruhigt hatte. Seine Gedanken flohen immer wieder von seiner Sündenschuld hinweg zu andern Dingen. Der Gesang hatte seiner Seele Erleichterung geschaffen und sie geläutert. Er wollte seinem eignen Empfinden nicht trauen, als er sich so unerwartet beruhigt und zufrieden fühlte, und er suchte mit Gewalt die Reue in sich zu wecken. Doch es war vergebens.

Plötzlich ging es ihm wie ein Nadelstich durchs Hirn: »Wie, wenn jetzt die Wirtin aus Neugier in mein Zimmer geht, dort zu suchen anfängt und das Geld findet?«

Er verließ rasch seinen Platz, trat aus der Kirche heraus und nahm eine Droschke, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Unterwegs quälte jener Gedanke ihn mehr und mehr und versetzte ihn in lebhafte Erregung.

»Angenommen, sie finden das Geld – was dann? Anzeigen werden sie mich nicht . . . sie werden es einfach stehlen! . . .«

Und der Gedanke, daß sie den Fund nicht anzeigen, sondern das Geld stehlen würden, erregte ihn noch mehr. Er war sich ganz klar darüber, daß, wenn dies geschehen sollte, er sofort mit der nächsten Droschke auf die Polizei fahren und gestehen würde, daß er Poluektow ermordet habe. Nein, er will sich nicht abquälen und in ewiger Unruhe leben, während andere von dem Gelde, um dessentwillen er so schwere Schuld auf sich genommen, sich in Ruhe und Behaglichkeit gütlich taten. Diese Vorstellung versetzte ihn förmlich in Raserei, Als die Droschke vor dem Hause hielt, in dem er wohnte, stürzte er hastig auf die Tür zu und riß jäh an der Klingel. Die Zähne aufeinander pressend und die Fäuste ballend, wartete er ungeduldig, daß ihm die Tür geöffnet würde.

Die Tür ging auf, und Tatjana Wlaßjewna erschien auf der Schwelle.

»Hu, wie laut Sie klingeln! . . . Was gibt's denn? . . . Was ist Ihnen?« rief sie ganz erschrocken, als sie ihn sah.

Er stieß sie schweigend zur Seite, ging rasch in sein Zimmer und erkannte sogleich auf den ersten Blick, daß seine Befürchtungen überflüssig gewesen waren.

Das Geld lag hinter der oberen Fensterverkleidung, an die er eine kleine Flaumfeder so festgeklebt hatte, daß sie unbedingt herunterfallen mußte, wenn jemand sich an dem Gelde zu schaffen machte. Er sah jedoch ganz deutlich das weiße Flöckchen auf dem braunen Hintergrunde.

»Sind Sie krank?« fragte besorgt die Wirtin, die an der Tür seines Zimmers erschien.

»Ich bin nicht recht wohl . . . Entschuldigen Sie nur: ich stieß Sie vorhin . . .«

»Das tut nichts . . . Sagen Sie . . . wieviel bekommt der Droschkenkutscher?«

»Fragen Sie ihn, bitte . . . und bezahlen Sie ihn . . .«

Sie eilte hinaus, und Ilja sprang sogleich auf einen Stuhl, holte das Geld hinter der Fensterverkleidung hervor und steckte es mit einem Seufzer der Erleichterung in die Tasche . . . Er schämte sich jetzt seiner Besorgnis, und die Vorsichtsmaßregel mit der Flaumfeder erschien ihm lächerlich und albern.

»Eine Einflüsterung war's!« dachte er und lachte in sich hinein. In der Tür erschien wieder Tatjana Wlaßjewna.

»Zwanzig Kopeken hab' ich dem Kutscher gegeben«, sagte sie hastig. »Was ist Ihnen denn? Wohl ein Schwindelanfall?«

»Ja . . . ich stand in der Kirche, wissen Sie . . . und mit einemmal . . .«

»Legen Sie sich doch hin«, sagte sie und kam in sein Zimmer. »Legen Sie sich ruhig hin. Genieren Sie sich nicht . . . Und ich setz' mich ein bißchen neben Sie . . . Ich bin allein zu Hause . . . mein Mann hat noch Dienst und geht dann in den Klub . . .«

Ilja setzte sich auf sein Bett, während sie auf dem einzigen Stuhl, der im Zimmer war, Platz nahm.

»Ich habe Sie beunruhigt«, sprach Ilja mit verlegenem Lächeln.

»Tut nichts«, versetzte Tatjana Wlaßjewna, während sie ihm neugierig und ungeniert ins Gesicht sah. Sie schwiegen eine Weile – Ilja wußte nicht, wovon er mit ihr sprechen sollte. Sie aber sah ihn in einem fort an und lachte dann plötzlich ganz seltsam.

»Warum lachen Sie?« fragte Lunew, die Augen niederschlagend.

»Soll ich's sagen?« fragte sie schelmisch.

»Sagen Sie es . . .«

»Sie können sich nicht verstellen – wissen Sie das?«

Ilja zuckte zusammen und blickte unruhig auf seine Wirtin.

»Nein, Sie können es nicht. Sie sind nicht krank – sondern haben einfach einen unangenehmen Brief bekommen. Ich hab's ja gesehen, hab's gesehen . . .«

»Ja, ich bekam einen Brief«, sagte Ilja zurückhaltend.

Draußen im Garten rauschte etwas im Gezweig. Tatjana Wlaßjewna blickte scharf zum Fenster hinaus und wandte ihr Gesicht dann wieder Ilja zu.

»Es war nur der Wind, oder vielleicht ein Vogel«, sprach sie. »Sagen Sie, mein hübscher junger Mann – wollen Sie mal meinen Rat hören, ja? Ich bin zwar nur eine junge Frau, aber ich bin nicht dumm . . .«

»Wenn Sie mir raten wollen . . . dann bitte recht sehr«, sprach Lunew, sie neugierig anschauend.

»Zerreißen Sie diesen Brief und werfen Sie ihn fort«, sprach die Wirtin in überlegenem Ton. »Wenn sie Ihnen abgeschrieben hat, dann hat sie ganz recht gehandelt, als ein braves Jüngferchen. Zum Heiraten ist's für Sie noch zu früh, Sie haben keine sichere Stellung, und Leute ohne sichere Stellung sollten nicht heiraten. Sie sind ein kräftiger junger Mann, sind arbeitsam und hübsch – Ihnen kann's nicht fehlen . . . Seien Sie nur auf der Hut, daß Sie sich nicht am Ende verplempern! Verdienen Sie recht viel Geld, sparen Sie und suchen Sie etwas Größeres anzufangen. Machen Sie einen Laden auf – und dann, wenn Sie festen Grund unter den Füßen haben, können Sie heiraten. Es muß Ihnen ja gelingen: Sie trinken nicht, Sie sind bescheiden, haben keinen Anhang . . .«

Ilja hörte zu, ließ den Kopf sinken und lächelte im stillen. Am liebsten wäre er laut herausgeplatzt mit seinem Lachen.

»Nichts dümmer, als den Kopf hängen lassen«, fuhr Tatjana Wlaßjewna im Tone eines lebenserfahrenen Menschen fort. »Es wird vorübergehen. Die Liebe ist eine Krankheit, die sich leicht heilen läßt. Ich war, bevor ich heiratete, selbst dreimal so verliebt, daß ich am liebsten ins Wasser gegangen wäre – und doch ist's vorübergegangen! Und wie ich sah, daß es für mich mit dem Heiraten Ernst wurde – da hab' ich ohne alle Liebe geheiratet . . . Später lernte ich dann meinen Mann . . . lieben . . . Es kommt wirklich manchmal vor, daß eine Frau sich in ihren Mann verliebt . . .«

»Wie soll ich das verstehen?« fragte Ilja und riß die Augen weit auf.

Tatjana Wlaßjewna ließ ein munteres Lachen hören.

»Ich hab' nur gespaßt . . . Doch in allem Ernst: man kann sich verheiraten, ohne den Mann zu lieben, und ihn dann später liebgewinnen . . .«

Und sie begann immer von neuem zu plappern und kokettierte dabei mit ihren Äuglein. Ilja hörte aufmerksam zu, betrachtete mit großem Interesse die kleine, zierliche Gestalt und war ganz erstaunt. So klein und schmächtig war sie, und hatte doch so viel Zuversicht, Willenskraft und Verstand . . .

»Wer eine solche Frau hat – der kann nicht zugrunde gehen«, dachte er. Es war ihm angenehm, so dazusitzen mit einem gebildeten Weibe – einer verheirateten Frau und keiner ersten besten, einer sauberen, feinen, wirklichen Dame, die nicht zu stolz war, mit ihm, dem einfachen Burschen, zu plaudern und ihn sogar mit »Sie« anredete. Ein Gefühl der Dankbarkeit gegen seine Wirtin erwachte in ihm, und als sie sich erhob, um zu gehen, sprang er gleichfalls auf, verneigte sich vor ihr und sagte:

»Dank' Ihnen auch ergebenst, daß Sie mir die Ehre erwiesen haben . . . Ihre Unterhaltung hat mich sehr erfreut . . .«

»Wirklich? Sehen Sie doch mal an!« sagte sie still lächelnd, während ihre Wangen sich röteten und ihre Augen ein paar Sekunden lang unbeweglich in Iljas Antlitz sahen. »Na – auf Wiedersehen also . . . vorläufig!« sprach sie mit einer ganz besonderen Betonung und hüpfte graziös wie ein junges Mädchen davon.


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