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Die Heimkehr und das Wiederfinden zu Hause.
Das englische Kriegsschiff stand eben im Begriff, seine Station in Tahiti zu verlassen und nach England zurückzukehren, wohin es den Verbrecher geschlossen mitnahm. Carl aber war froh, daß er ihm nicht mehr zu begegnen brauchte und das höhnische Gesicht des bösen Menschen ihn nicht beim Abschied störte. – Beim Abschied von dem Schiffe? – hatte er sich nicht Jahre lang darnach gesehnt, diesem Leben endlich einmal enthoben zu werden, und that es ihm denn jetzt, da sein Wunsch nun in Erfüllung gehen sollte, auf einmal leid, das Fahrzeug verlassen zu müssen? – So sonderbar das klingt, so ist's doch wahr, und mit dem Bewußtsein, das Schiff, das ihn damals gerettet und auf dem er Freud' und Leid gefunden, vielleicht nie wiederzusehen, schaute er zu dem wackern Bau, zu den schlanken Masten und Raaen hinauf, als ob er sie ordentlich liebgewonnen hätte in der langen Zeit. – Es geht das so in der Welt, und die Gewohnheit bindet das Menschenherz oft mit kaum geahnten Fesseln an Alles, was es eine Zeit lang umgab und dem es scheinbar zugehören mußte. Ob das nun Liebe ist oder nicht, der Geist hat sich da eingebürgert in der Zeit, und selbst die schmerzlichsten Scenen schmückt die Erinnerung mit sanften, freundlicheren Farben aus.
Dieses Gefühl war freilich nur vorübergehend für den Knaben, dem jetzt der Heimath Bild im Hintergrunde lag. – Seine Aeltern! jeder andere Gedanke mußte ja diesem weichen, und selbst der Abschied von Barthels, der sich ihm stets als treuer Freund gezeigt, wurde ihm dadurch leicht.
Der Capitain zeigte sich gütig gegen den jungen Burschen bis zum letzten Augenblick. Er versah ihn noch mit warmen Kleidern für die Reise, und versprach ihm, seine Aeltern, wenn er nach Deutschland zurückkehrte, zu besuchen. Carl dankte ihm mit Thränen in den Augen. Als aber das Boot, das ihn zum Hamburger Schiff hinüberführen sollte, endlich vom Bord des Kamehameha abstieß, womit der erste Schritt zu seiner Heimkehr geschah, hätte er laut aufjubeln mögen vor lauter Lust und Wonne.
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Die Reise verlief glücklich und ohne weitere Abenteuer; die Hamburger Brigg war ein wackerer Segler und legte die Strecke von Tahiti bis nach der Mündung der Elbe um Cap Horn in gerade hundert Tagen zurück.
Wie klopfte ihm das Herz so sonderbar, als er da Helgoland wieder liegen sah und des Abends gedachte, wo er hier in Sturm und Nebel und zitternd vor Angst den kleinen Kahn durch die höher und höher gehende See gesteuert. Und was lag Alles zwischen jener Zeit! – Doch vorbei! vorbei! – vor ihm mündete der deutsche Strom, und die frisch geblähten Segel führten ihn rasch dem lieben Ziele entgegen.
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Es war ein warmer, sonniger Juni-Morgen, als Carl Hollberg, nach zweijähriger Abwesenheit seine Vaterstadt wieder betrat. Die Lerchen sangen, die Rosen blühten, die ganze Natur feierte einen Freudentag, und schien den in die Heimath zurückgekehrten wandermüden Knaben jubelnd zu begrüßen. Aber sein Herz war schwer und voll, sein Auge mit Thränen gefüllt. Seine Glieder zitterten und die Knie versagten ihm fast, als er in die Straße einbog, in der das Haus seiner Aeltern lag, den Dienst.
Nicht allein die Reue über den damaligen Fehltritt, der so unvermuthete und entsetzliche Folgen für ihn gehabt, nein, auch die Angst um die Aeltern nagte ihm am Herzen. Zwei volle Jahre hatte er ja jetzt ohne die geringste Nachricht von ihnen zugebracht; kein Brief, kein freundliches verzeihendes oder tröstendes Wort von ihnen je erhalten. Lebten sie überhaupt noch und waren sie noch gesund und wohl, oder hatte nicht vielleicht Gram und Sorge um das verlorene Kind sie mit schwerer Hand in der langen Zeit zu Boden gedrückt? Waren auch seine Briefe zu ihnen gelangt, und glaubten sie ihn nicht am Ende gar noch immer tobt, wo sie dann sein plötzliches Erscheinen er recht erschreckt haben würde? – Alle diese Gedanken gingen ihm wirr und toll durch's Hirn, und doch wagte er nicht, irgend Jemand in der weiten Stadt nach ihnen zu fragen; ja, er schlich wie ein Verbrecher in den äußersten, entlegensten Straßen hin, um nur Niemand zu begegnen, der ihn kannte. Selbst wenn er wirklich Bekannte traf, wandte er halb den Kopf zur Seite, um ihre Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken; seine Furcht war jedoch unbegründet. Wol wunderte er sich, daß ihn Niemand von den vielen bekannten Gesichtern, die er traf, beachtete, aber er dachte nicht daran, wie er in den zwei Jahren gewachsen und breit und kräftig geworden war. Die heiße Sonne der Tropen hatte dabei seine Haut gebräunt und seinen Gesichtszügen etwas weit Festeres, Männlicheres gegeben.
Wohl war es ihm recht, gerade heute so ungekannt durch die Straßen eilen zu können, in denen er nur hier und da Einem durch den seemännischen Schnitt seiner Kleider auffiel; doch that es ihm auch wieder weh, in der kurzen Zeit so ganz vergessen zu sein, während er die Züge aller dieser Bekannten so treu in dem eigenen Gedächtniß bewahrt und sich so oft zurückgesehnt hatte, selbst zu den gleichgültigsten von ihnen.
So erreichte er endlich in der Vorstadt den Garten seines Vaters, in dem das Wohnhaus stand, und vor der Thür – wie ihm das Herz schlug, als er den ersten alten Freund entdeckte! lag Nestor, der alte, treue Pudel, jetzt freilich recht alt und matt geworden, in der Sonne und erhob schnuppernd den Kopf, als er den Knaben auf sich zukommen hörte.
»Nestor!« rief Carl mit unterdrückter Stimme, denn er fürchtete sich ordentlich vor seinen eigenen Lauten – »Nestor, mein altes, gutes Thier – kennst Du mich noch?«
Nestor, der arglos einen vollkommen Fremden in dem Nahenden erwartet haben mochte, spitzte die Ohren, schnupperte die Luft ein und wedelte mit dem Schwanze; plötzlich aber, als ob die Erinnerung an die früheren Jagden seines jungen Herrn in ihm aufgetaucht wäre, sprang er in die Höhe, drückte sich scheu von ihm zurück und knurrte und winselte dabei.
Carl traten die Thränen in die Augen, und mit leiser, bittender Stimme rief er ihn an.
»Nestor, mein armer, guter, alter Nestor, willst Du denn gar Nichts mehr von Deinem Spielkameraden wissen?«
Nestor stand einen Augenblick wie unschlüssig; aber der alte gute Bursche vergaß in der Erinnerung an empfangene Wohlthaten die erhaltenen Schüsse mit stumpfen Pfeilen, vergaß Flucht und Verfolgung langer Monate, selbst die ausgestandene Angst damaliger Zeit, die ihn fast mißtrauisch gegen das ganze Menschengeschlecht gemacht hatte. Er kam wedelnd wieder hinan zu Carl, leckte ihm die Hände und sprang winselnd an ihm hinauf. Carl aber bog sich nieder zu dem Hunde, küßte und streichelte ihn und fühlte dabei, wie ihm die Thränen voll und schwer aus den Augen liefen.
Da ging die Thür auf und ein Dienstmädchen, das er aber nicht kannte, verließ den Garten, um in die Stadt zu gehen. Carl richtete sich rasch empor, schüttelte die verrätherischen Tropfen ab und fragte das Mädchen mit klopfendem Herzen »ob Herr Hollberg zu Hause sei.« – Es war ein Sonntag Morgen und er wußte, daß dann der Vater immer in seinem eigenen Zimmer saß und für sich allein arbeitete.
»Herr Hollberg? ja,« sagte das Mädchen, die etwas erstaunt den jungen Mann betrachtete; »er ist oben in seiner Stube – wollen Sie zu ihm?«
»Ist Madame Hollberg auch zu Hause?« fragte der Knabe weiter. Die Lippen wagten es nicht, den theuren Namen Mutter auszusprechen.
»Die Madame ist in der Kirche,« lautete die Antwort, »muß aber gleich nach Hause kommen – ich glaube, dort drüben an der Ecke sehe ich sie schon.«
Carl fühlte, wie ihm das Herz aufhörte zu schlagen, aber er nahm sich wacker zusammen. Hier vor dem Garten durfte ihn die Mutter nicht treffen, und ohne den Blick zurückzuwerfen, eilte er mit einem flüchtigen »Danke!« in das Gartenthor.
»Klingeln Sie nur stark an der Thür,« rief ihm das Mädchen noch nach; aber er hörte das schon nicht mehr, sprang über den freien Rasenplatz vor dem Hause, ohne auch nur zu wagen, einen Blick hinauf zu den Fenstern zu werfen, um das Haus hinum durch die stets offene Hinterthür, glitt unbemerkt in den Vorsaal, war mit wenigen Sätzen die Treppe hinauf und stand, von Nestor gefolgt, der ihm nicht mehr von der Seite ging, im nächsten Augenblick vor des Vaters Thür.
Daß er dort anklopfte, wußte er kaum; als aber die liebe theure Stimme da drinnen so ernst und ruhig ihr »Herein!« rief, da hielt er sich nicht länger, riß die Thür auf und lag im nächsten Augenblick schluchzend, und doch vor innerem Jubel fast vergehend – an dem Herzen des Vaters.
»Mein Sohn – mein Kind – mein lieber, lieber Sohn!« rief der Mann, und Vater und Sohn hielten sich fest, fest umschlungen, als ob sie im Leben, nie wieder von einander lassen wollten.
Das Mädchen hatte indessen dem jungen Burschen, dessen ungewöhnliche Aufregung ihr unmöglich entgehen konnte, erstaunt nachgesehen und natürlich nichts Eiligeres zu thun, als der jetzt wirklich nach Hause kommenden Madame Hollberg zu erzählen, was für ein hübscher, von der Sonne ganz braun gebrannter, junger Mensch, die Augen voll Thränen, den alten Nestor geküßt und umarmt hätte und jetzt gerade in den Garten und ins Haus gesprungen wäre.
»Heiliger – barmherziger Gott!« rief die Frau, und mußte sich an der Gartenmauer halten, um nicht umzusinken – »mein Kind – mein Carl!« – Aber die Mutterliebe gab ihr Kräfte, die Schwäche rasch zu besiegen, und mit zitternden Schritten eilte sie in wilder, athemloser Hast, von dem Mädchen jetzt neugierig gefolgt, in das Haus, die Treppe hinauf und in des Vaters Stube.
Noch standen die Beiden oben, der Vater den Sohn fortwährend an sich drückend, sein Auge an der kräftigen Gestalt, an dem ehrlichen Gesicht des Knaben zu weiden und den Verlorenen und Wiedergefundenen dann nur fester und inniger wieder in die Arme zu ziehen. Da ging die Thür wieder auf, und im nächsten Augenblick lag Carl zu den Füßen seiner Mutter, und in den Armen des Kindes, von dem Gatten umschlungen und gehalten, weinte und lachte und schluchzte die Frau und küßte und herzte das vor ihr gebeugte Haupt des lieben Knaben.
Und sollte ich den Jubel schildern, lieber junger Leser, der dieser seligen Stunde des lang und heiß erhofften Wiedersehens folgte? – Es wäre unmöglich, denn solches Glück muß gefühlt, muß empfunden sein, das läßt sich nicht mit kalten Worten nacherzählen und beschreiben.
Kein Vorwurf kam über der Aeltern Lippen der Ursache wegen, die solches Leid hervorgerufen; der Knabe hatte schwer genug dafür gebüßt und tief und herzlich bereut, und das Aelternherz verzeiht ja so gern. Eins nur fürchtete der Vater, daß Carl durch das wilde, unstete Leben, das er die letzten Jahre geführt, zu jeder ruhigen Beschäftigung untauglich geworden sein und nun gar die Lust zum Kaufmannsstande verloren haben würde; aber darüber beruhigte ihn der Sohn bald selbst.
Das wilde Leben, das er sich sonst so heiß ersehnt, war ihm in der Wirklichkeit, da er plötzlich mitten hinein geworfen worden, ganz anders erschienen, als er sich's früher in seinen bunten Knabenträumen ausgemalt; so hatte es, statt ihn zu verlocken, daß er ihm weiter folgen möchte, gerade das Gegentheil bewirkt. Selbst die Schreibstube mit den kritzelnden Federn und dem langen Buchhalter schienen ihm nicht mehr halb so düster, als er sie früher wol geglaubt; er sehnte sich ordentlich nach einer festen, bestimmten Thätigkeit, nach einem geregelten Lebensberuf im Vaterlande. Als er sich erst eine Weile im Vaterhause ausgeruht von der langen Fahrt – denn eher hätte ihn die Mutter doch nicht wieder von sich gelassen, – bat er den Vater selbst, ihm den neuen Wirkungskreis, dem er sich jetzt mit Freuden fügen würde, anzuweisen.
Jahre sind seitdem vergangen, Carl wuchs heran und wurde ein tüchtiger Kaufmann, machte dabei, wie es ihm sein Vater vorausgesagt, große Reisen, und erlebte manches Interessante und Wunderbare. Aber, der Raum dieser Blätter ist zu beschränkt, um Dir das, lieber, junger Leser, noch Alles hier mitzutheilen. Hast Du den Carl jedoch lieb gewonnen auf seiner Wallfischfahrt, und willst Du wissen, wie es ihm später weiter erging, so erzähl' ich Dir das vielleicht ein andres Mal.
August Preuß in Köthen.