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Wie der alte Jahn eine Seehundsjagd mitmachte, und was er dabei fing.
Wir müssen hier erst wieder eine kurze Zeit zurückgehen, Carl's alten Bootkameraden Jahn auf seiner heutigen ungewöhnlichen Fahrt zu begleiten, und zu erfahren, was es eigentlich war, das ihn verhinderte, die bestimmte Zeit mit seinem kleinen Passagier heute gerade nicht einhalten zu können.
Schon am Morgen war ein fremder Fischer, der sich aber einige Zeit auf der Insel aufgehalten und von der englischen Regierung die Erlaubniß erwirkt hatte, sich dort ganz niederzulassen, zu ihm gekommen, um mit ihm gemeinschaftlich eine Fahrt zu machen. Sie sollten zwei Amerikaner, die sich seit etwa drei Wochen auf der Insel aufhielten, hinaus in See fahren, wo sie Seehunde schießen wollten. Der Fischer hieß Jakobs, und Jahn mochte ihn nicht besonders gern leiden, weshalb, wußte er eigentlich selber nicht, denn so lange er auf Helgoland lebte, hatte er sich brav und ordentlich aufgeführt, war Niemandem in den Weg getreten, und sogar eher schüchtern und zurückhaltend als aufdringlich gewesen. Niemand wußte in der That, wovon er lebte, obgleich es ihm nie an Gelde fehlte, denn zu thun bekam er fast gar Nichts, bis die beiden Amerikaner, Kaufleute von New-York, wie sie sagten, auf die Insel kamen. Der Jüngere von diesen, ein entfernter Verwandter des Alten, wählte Jakobs zu seinem regelmäßigen Bootführer, und fuhr oft halbe Tage lang mit ihm draußen auf dem Wasser herum – gerade wie Jahn mit Carl.
Heute nun hatte der junge Mann auch den Alten, der sich bis jetzt hartnäckig am festen Lande gehalten, beredet, mit ihm eine Vergnügungsfahrt auf das Wasser hinaus zu machen, und ihm dazu sein kleines Boot vorgeschlagen, in dem sie Jakobs rudern sollte. Draußen wollten sie Seehunde schießen, von denen es dort herum eine ziemliche Anzahl geben sollte. Der alte Herr war aber zu ängstlich auf dem Wasser, und weigerte sich, in dem kleinen Fahrzeug hinauszufahren, zeigte sich jedoch bereit, wenn der junge Mann, der Williams hieß, ein größeres Boot mit zwei Fischern miethen wollte. In einem solchen hatten sie dann selbst von einer höher gehenden See oder einem rasch aufspringenden Winde nicht das Mindeste zu fürchten.
Williams suchte ihm das im Anfange auszureden, und behauptete, es gehe Nichts über das Vergnügen, in eben einem solchen kleinen Kahne wie eine Möve pfeilschnell über das Wasser dahin zu schießen; der alte Herr aber, der ein sehr großes Vermögen und daheim auch Familie besaß, ließ sich nicht überzeugen. Sein Leben wäre, wie er meinte, mehr werth, als es an das etwas unsichere Vergnügen einer solchen Nußschale von einem Boot zu wagen. Wenn Williams kein anderes Boot auftreiben könnte, bliebe er eben am festen Lande, und sie möchten ihre Seehunde allein schießen; er mache sich überdies nicht viel aus einem solchen Vergnügen.
Williams hatte aber seine ganz besonderen Gründe, den alten Herrn mit hinaus auf das Wasser zu nehmen, und zwar in sehr böser, nichtsnutziger Absicht, wie ein Gespräch, das er mit seinem beabsichtigten Helfershelfer Jakobs unten am Wasser führte, am besten zeigen wird.
»Der Alte will nicht mit uns allein gehen, Jakobs,« sagte Williams, als sie langsam an der Düne hinaufschritten; »er fürchtet sich vor dem Wasser, und will ein großes Boot haben.«
»Ja, das wäre recht gut«, sagte Jakobs,« die Augenbrauen finster zusammenziehend, »wenn ich nur eben ein größeres hätte, und miethen wir eins, so müssen wir auch den Fischer nehmen, der dazu gehört, und dann wird aus der ganzen Geschichte Nichts.«
»Es ist zum Tollwerden«, sagte Williams, ärgerlich mit seiner rechten geballten Faust in die linke Hand schlagend; »morgen oder übermorgen will er schon wieder nach Hamburg zurück, und dann haben wir keine Hoffnung mehr.«
»s' ist überhaupt eine fatale Geschichte,« sagte Jakobs nach einer kleinen Pause – »das Fortkommen möchte noch gehen, denn man kann mit dem Boote, sobald es einmal dämmerig wird, leicht nach der Küste hinüberhalten, und die Tonnen in der Wesermündung sind nicht zu verfehlen; auch der Wind wäre ganz vortrefflich heute Abend. Wenn sie aber denn doch am Ende die Leiche fänden und uns nachsetzten – der Teufel hat schon manchmal seine Hand bei einer solchen That im Spiele gehabt, und daß sie dann nachher gleich an der ganzen Küste ihre Spione hinausschickten, wäre so gewiß wie zweimal zwei vier ist. Ich bin da drüben in Deutschland außerdem bekannt wie ein bunter Hund, und keineswegs in so besonders gutem Andenken, um mich, selbst nur auf einen Verdacht hin, wieder vor Gericht stellen zu lassen.«
»Vor Gericht stellen,« sagte aber Williams verächtlich, »und glaubst Du denn, daß ich mich nach der Geschichte hier möchte vor ein Gericht stellen lassen? – Unsinn; jeden Tag laufen jetzt Schiffe aus der Weser nach Amerika hinüber, und wir brauchen nicht einmal bis Bremerhafen hinunterzufahren, um eines zu finden. Geld haben wir dabei genug; Du bekommst, wie ich Dir versprochen habe, Deine 2000 Dollars ausgezahlt, mit denen Du Dir in Amerika eine Farm aussuchen kannst, wie Du sie haben willst, und bis sie uns in Helgoland auch nur vermissen, oder im Stande wären, irgend einen Verdacht zu schöpfen, das tagelange Nachsuchen erst ganz abgerechnet, fliegen wir schon vor dem Winde durch den Canal, und sind, wenn die Sache hier wirklich mit der Zeit herauskommen sollte, längst außer den Bereich der hiesigen Gesetze. Erst einmal aber in Amerika, und wir haben nicht das Mindeste mehr zu fürchten, wenn sie selbst unsere Gerichte gegen uns aufhetzen wollten. Mit einem falschen Namen können wir im Innern, wo uns keine Seele nach Paß oder Ausweis fragt, unbekümmert und sicher leben, so lange wir es selber für gut finden.«
»Ja, das wäre Alles recht schön«, sagte Jakobs kopfschüttelnd, »aber wie machen wir's jetzt mit dem Boot, denn das dürfen wir nicht hoffen, noch Einen in Helgoland zu finden, der uns beistände. Im Gegentheil wäre die Sache in demselben Augenblick verrathen und den Gerichten übergeben, wo wir auch nur eine Andeutung von so Etwas gegen einen der holzköpfigen Burschen machten. Die Tropfe bilden sich so entsetzlich viel auf ihre Helgoländer Ehrlichkeit ein, daß sie einen Heidenlärm erheben würden, sobald sie nur irgend etwas merkten, das ihren »guten Ruf«, wie sie's nennen, untergraben könnte, und – den Andern dann auch mit bei Seite schaffen, das ist erstens zu gefährlich, und nachher wäre der Skandal noch sechs Mal so groß. Aus einem Fremden machen sie sich eben nicht so besonders viel – es kommen jeden Tag eine solche Menge neue; aber mit einem Helgoländer Kind – hol's der Teufel! – ich glaube, sie drehten die ganze Insel herum, bis sie herausbekämen, was aus ihm geworden wäre.«
»Und habt Ihr keinen fremden Matrosen weiter hier, dem man am Ende die ganze Geschichte nachher in die Schuhe schieben könnte?« fragte Williams.
»Hm«, sagte Jakobs, sich hinter dem rechten Ohre kratzend, »da wäre allerdings Einer, der mit den Anderen auch wenig verkehrt, und von dem es bekannt ist, daß er diesen Herbst noch wieder an Bord eines Schiffes in See gehen will, weil er das Fischerleben satt hat. Der hat allerdings nicht viel mit den Anderen zu thun, und sie auch nicht mit ihm.«
»Wäre der am Ende –« sagte Williams rasch.
»Oh bewahre,« rief Jakobs, der seine Gedanken errieth, »in der Art ist Nichts mit ihm anzufangen – in fünf Minuten wüßt' es die ganze Insel. Er ist aber alt, und jetzt eine Weile krank gewesen, überhaupt eben nicht besonders kräftig. Der hat auch eines von den großen Booten, wie sie der alte Starrkopf haben will, und vielleicht, wenn wir ihm guten Lohn versprechen, vermiethet er uns den Cutter, ohne darauf zu bestehen selber mitzugehen. Hol's der Teufel, wir werden mit dem Einen zu thun bekommen, und ich möchte nicht noch gern einen Andern gegen uns im Boote haben.«
»Gut denn, Jakobs, besorge Du Alles«, sagte Williams nach einigem Nachdenken; »um eilf Uhr fahren wir ab; ich werde durch irgend Einen von den Leuten dann, sobald Du das Boot gemiethet hast, einen Korb mit Lebensmitteln, und darunter versteckt Kleider und Wäsche von mir mit zum Strande niederschicken. Das packst Du nachher Alles ordentlich weg, und kommst dann gleich hinauf und sagst mir Antwort.«
»Aber wenn er das Boot nicht hergeben will, ohne selber mitzugehen?«
»Biete ihm den doppelten Lohn, und sage ihm, wir wollten ungestört sein; vielleicht thut er's doch.«
»Und wenn er's nicht thut? –«
»Ei, beim Bösen! dann nimm ihn mit«, rief Williams mit finster zusammengezogenen Brauen; »dann hat er sich die Folgen auch selber zuzuschreiben, und wenn Du den Alten übernimmst, sorg' ich indeß für Den. Wir sind einmal so weit zusammen gekommen, und können jetzt nicht mehr zurück.«
Damit war das Gespräch für den Augenblick abgebrochen, und Jakobs suchte jetzt den alten Jahn auf, um mit ihm über das Miethen seines großen Bootes zu accordiren. Jahn aber, der, wie gesagt, den Jakobs überdies nicht leiden mochte, weil er Etwas in Gesicht und Auge hatte, das ihm nicht gefiel, wollte erst gar nicht darauf eingehen, und meinte, wenn die Fremden das Boot haben wollten, könnten sie selber zu ihm kommen, und brauchten keinen Andern zu schicken. Jakobs erklärte ihm aber, wie er bis jetzt alle Fahrten mit dem Amerikaner gemacht – Jahn wußte das recht gut – und deshalb auch von ihm nun beauftragt sei, ein Boot zu besorgen, wofür der junge Mann, der steinreich wäre, gern gut genug bezahlen würde.
Jahn verstand sich endlich dazu, ihm sein Boot zu vermiethen, aber er wollte selber mitfahren, und als ihm Jakobs das Doppelte bot, wenn er zu Hause bliebe, wurde er erst recht mißtrauisch, denn die Sache fing an ihm verdächtig vorzukommen. Am Ende wollte Jakobs, der die beiden Amerikaner nur so vorschob, mit seinem Boote, das ein braves, tüchtiges Seeboot war, durchgehen, und wenn er an die norwegische oder englische oder selbst an die holländische Küste damit anlief, konnte er selber nachher sehen, wie er es jemals wiederbekam. Solche Boote waren genug in Helgoland zu miethen, weshalb wollte er ihm gerade so viel dafür bezahlen? Er weigerte sich auch deshalb entschieden, auf einen derartigen Vertrag, so gern er auch Geld verdiene, und so nothwendig er es brauche, einzugehen. Wenn er sein Boot vermiethe, müsse er selber mit dabei sein – anders nicht. Außerdem habe er schon einen jungen Passagier, den er alle Nachmittage fahre, und dessen Vater ebenfalls gut für ihn bezahle; um vier Uhr müsse er also jedenfalls wieder zurück sein, seine Verbindlichkeit einzuhalten.
Als Jakobs sah, daß er mit dem Alten auf keine andere Weise fertig wurde, nahm er endlich seine Bedingungen an. Um eilf Uhr sollte das Boot segelfertig am Strande liegen, wo sie dann hinausfahren, und wo möglich ein wenig nach der Mündung der Elbe zu halten wollten, um Seehunde zu schießen. Deren gab es dort allerdings, wenn sie ein Boot auch nicht gern auf Schußnähe hinanließen. Das blieb sich aber auch gleich; Jahn hatte schon oft solche Sonntagsjäger gefahren, die, wenn sie nachher keine Seehunde zum Schuß bekamen, eben so gern auf Möven und alles Andere, was Leben zeigte, schossen – wenn sie es nur knallen hörten.
Zur bestimmten Zeit lag er übrigens mit seinem Boote, wie er versprochen hatte, bereit. Jakobs brachte dann ein paar Körbe herunter, in denen Provisionen, Schießgeräthschaften, Bücher und Mäntel lagen – was Jahn wenigstens oberflächlich davon sehen konnte – und als das Alles in die kleine Kajüte weggestaut war, kamen die beiden Amerikaner, denen ein Bedienter mit Gewehren auf der Schulter folgte, die Treppe herunter, und gingen an Bord. Der Bediente wurde wieder zurück geschickt, und während Jahn am Steuer stand, hob Jakobs den kleinen Anker auf, löste die Segel, und, von der frischen Brise geführt, standen sie bald nach Westen hinüber in See.
Der alte Amerikaner, dessen Name Slocum war, hatte im Anfange ziemlich theilnahmlos neben Jahn gesessen, und auf das Wasser hinausgeschaut. Er schien sich nicht besonders viel aus der ganzen Fahrt zu machen, zu der er sich auch wirklich nur aus Gefälligkeit gegen den jungen Williams entschlossen. Als sie aber weiter hinauskamen, und die Brise so kräftig in die Segel faßte, daß ihr kleines Fahrzeug ordentlich über das Wasser hinüber tanzte, fühlte auch er wol den Einfluß der frischen Luft, der freien Bewegung des Bootes. Sein Gesicht nahm eine lebhaftere Färbung an, seine Augen selber bekamen einen höhern Glanz, und er nickte von Zeit zu Zeit still und vergnügt vor sich hin, ja er fing sogar an, sich mit dem alten Seemann zu unterhalten und ihn nach dem und jenem Punkte der fernen deutschen, eben sichtbaren Küste, nach den Kirchen- und Leuchtthürmen und einzelnen Dünen zu fragen, über die ihm Jahn allerdings genauen Bescheid zu geben vermochte.
Als die Mittagszeit herankam, legten sie eine Weile bei, und aßen Etwas von den mitgenommenen Provisionen, wobei Mr. Slocum erklärte, daß er sich der Zeit nicht erinnere, in der es ihm so gut geschmeckt habe, und Mr. Williams und Jakobs versuchten dann zu fischen. Sie fingen auch einige wenige Fische, der Ertrag war aber doch nicht so besonders ergiebig, und Williams befahl zuletzt Jakobs, ihnen den Plan zu zeigen, wo er neulich die vielen Seehunde getroffen haben wollte.
Der lag noch etwas nach Süd-Westen zu, und der alte Jahn schien eben keine besondere Lust zu haben, weit nach Lee hinunter, das heißt mit dem Winde fort zu halten, da sie nachher soviel längere Zeit gebrauchen würden, wieder dagegen aufzukreuzen. Williams aber beharrte darauf, und so steuerten sie langsam der angegebenen Richtung zu. Jahn hatte dabei wirklich seinen kleinen Passagier ganz vergessen; er verdiente freilich hier fast sechs mal so viel, als er von Carl's Vater für die viel leichtere Bootfahrt bekam, und wenn er wirklich daran dachte, tröstete er sich bald damit, daß er dann morgen lieber soviel länger mit ihm draußen bliebe.
Was liegt nicht oft zwischen heute und dem »Morgen«, und wie oft bereut der Mensch, während er sich so gern auf den folgenden Tag vertröstet, das nicht zur rechten Zeit gethan zu haben, was er eben thun wollte, oder zu thun hatte. Man sollte nie Etwas aufschieben, so lange das Vollbringen eben noch in unserer Hand liegt; morgen ist es vielleicht zu spät, und die einmal verlorene Zeit kehrt nie, nie mehr zurück, die einmal versäumte Pflicht ist vielleicht nimmer nachzuholen.
Die Seehundsjäger waren etwa eine halbe Stunde in der oben angegebenen Richtung fortgefahren, als sie wirklich Seehunde an der Oberfläche schwimmend trafen, nach denen Williams einige Male, freilich erfolglos, schoß. Die Schrote schlugen allerdings um die Thiere ein, und eines oder das andere mochte er auch vielleicht getroffen haben, aber sie sanken unter und kamen nicht wieder zum Vorschein. Mr. Slocum hatte ebenfalls eine gezogene Büchse mit, und schoß aus dieser einige Male nach den Köpfen auftauchender Seehunde; im Anfang zwar ohne Erfolg, mit dem dritten Schusse aber traf er einen, der hoch aus dem Wasser sprang, daß sie das an ihm herunterlaufende rothe Blut erkennen konnten; ehe sie jedoch im Stande waren ihn zu erreichen, sank er ebenfalls. Dadurch wurden die Jäger aber nur um so hitziger, und selbst Jahn, dem Williams noch ganz besonders ein Goldstück versprochen hatte, wenn er sie so führte, daß sie einen Seehund erlegen und wirklich bekommen würden, fing an eifrig zu werden, und hatte Nichts mehr dagegen, noch weiter in dem Cours fortzusteuern. Freilich warf er dabei manchmal einen eben nicht ganz zufriedenen Blick nach den im Norden aufsteigenden Wolken hin, die Brise war aber frisch, die Fluth ihnen bald günstig und er selber hier mit dem Wasser so genau bekannt, daß er eben Nichts für ihre Sicherheit zu fürchten brauchte. So leicht waren die Goldstücke überdies in jetziger Zeit nicht zu verdienen, und die Aussicht auf einen solchen Gewinn ließ ihn schon Manches in Wind und Wetter leichter nehmen, als er es sonst wol gethan haben würde.
Es ging jetzt stark auf vier Uhr, als sie wieder zwei Seehunde vor sich schwimmen sahen, die allem Anschein nach auf dem Wasser lagen und schliefen. Sie hatten dabei gefunden, daß die ziemlich scheuen Thiere stets untertauchten, wenn sie gerade auf sie zu hielten, aber das Boot oft ziemlich nahe heranließen, wenn es an ihnen vorbeisteuerte. Jahn wurde deshalb bedeutet, so mit seinem Boote anzuliegen, daß sie unter dem Winde an dem Wilde vorbeisegeln wollten, während Herr Slocum an der rechten Seite des kleinen Cutters mit seiner Büchse stand, den rechten Augenblick abzupassen. Jahn achtete aber fast gar nicht mehr auf die Seehunde, denn der aufsteigende Nebel gefiel ihm nicht. Er war auch fest entschlossen, sobald die Gewehre abgeschossen wären, mit seinem Fahrzeug zu wenden, und nach Helgoland zurückzuhalten. Aus Wind und Wetter, so lange sie ihre Bahn frei sehen konnten, machte er sich nicht viel, und selbst Nachts hätte ihnen schon der Helgoländer Leuchtthurm ihre Bahn gezeigt; aber in einem dichten Nebel, der hier manchmal mauerdick auf dem Wasser lag, und zäh und dumpfig war, hätten sie am Ende selbst das Licht nicht mehr gesehen, und traf sie dann ein Wetter, so konnte die Sache auch wirklich, selbst in dem großen Boote, gefährlich werden.
Als er zurück nach Helgoland schaute, um sich wenigstens zu überzeugen, wie weit das Land bis jetzt noch sichtbar wäre, und ob der Nebel dichter würde, entdeckte er ein Segel auf dem Wasser, das allem Anschein nach gerade auf sie zu hielt, und jedenfalls einem sehr kleinen Boote gehören mußte.
»Hm, da ist noch Jemand auf der Seehundsjagd,« murmelte Jahn leise vor sich hin, »denn einem andern vernünftigen Menschen könnte es doch sonst wahrhaftig nicht einfallen, bei solch aufsteigendem Nebel vom Lande ab zu halten, statt darauf zu, noch dazu in einer solchen Nußschaale von einem Ding. Wenn ich übrigens nicht wüßte, daß der alte Jahn hier an Bord sitzt, glaubt' ich wahrhaftig, das Ding dahinten wäre sein eigenes kleines Boot – es sieht ihm unmenschlich ähnlich.«
Jakobs, dessen Blick bis dahin oft über den Horizont geschweift war, hatte das kleine Segel ebenfalls bemerkt, und er flüsterte Williams leise ein paar Worte zu, der dann aufmerksam dort hinüber sah, und selber die Seehunde zu vergessen schien. Dem alten Jahn war dies übrigens nicht entgangen, und während sein klares blaues Auge ein paar Momente halb forschend, halb mißtrauisch auf den beiden Gestalten haftete, hatte er so seine Gedanken für sich und schüttelte leise den Kopf. »Was nur die zwei Gesellen da in Einem fort mit einander zu flüstern und zu wispern haben, und was für ein bitterböses, boshaftes Gesicht doch eigentlich der Jakobs hat – wie ein Kains-Zeichen liegt's ihm über Stirn und Augen – möchte nicht viel mit ihm zu thun haben.«
Die augenblickliche Jagd nahm jedoch seine Aufmerksamkeit gerade jetzt zu sehr in Anspruch, als daß er seinen Gedanken noch länger hätte nachhängen können, und sich etwas stärker in das Steuer legend, hielt er genaue Richtung den Seehunden zu, an die sie gerade in Schußnähe hinanliefen. Unwillkürlich haftete sein Auge ebenfalls dabei an den beiden gar sehr gefährdeten, und doch sorglos auf dem Wasser schwimmenden dunklen Körpern der beiden Thiere, die sich um das an ihnen vorüberstreichende Boot gar nicht zu bekümmern schienen.
Der alte Herr Slocum hob jetzt die Büchse – wie dicht der Nebel auch wurde, der wie eine Wolke über das Wasser gezogen kam – zielte eine halbe Minute etwa nach dem ruhig aushaltenden Wild, und drückte ab.
»Er ist getroffen!« rief er dabei, als das verwundete Thier in die Höhe schnellte, und sich dann an der Oberfläche des Wassers, diesmal ohne unterzusinken, umherwand, indem er selber seine Büchse an die Reiling lehnte und nach vorn, der Back des kleinen Bootes, zusprang. »Dorthin, Steuermann!«rief er, »dorthin! den müssen wir bekommen!« –
»Das Boot ist fort,« flüsterte Jakobs in diesem Augenblick dem jungen Amerikaner zu – »der Nebel kam zur rechten Zeit – jetzt oder nie!«
»Wenn wir den Seehund an Bord nehmen,« flüsterte Williams rasch zurück; – er sah kreideweiß im Gesicht aus und zitterte an allen Gliedern.
»Ich glaube, Sie fürchten sich?« zischte Jakobs zurück.
»Still! – um Gottes willen!« sagte der junge Mann, und drehte sich von ihm ab, um zu dem Verbrechen, das er jetzt begehen wollte, Fassung zu gewinnen.
Der alte Jahn stand am Steuer und ließ den Bug des kleinen Cutters dicht an den Wind aufluven, das heißt er hielt so weit aufwärts, als er möglicher Weise segeln konnte, ohne gegen den Wind zu kommen; dabei war ihm aber nicht entgangen, daß die beiden Leute etwas Außerordentliches mit einander haben mußten, und zwar hinter dem Rücken des alten Herrn, wenn er ihnen auch freilich nicht einen so nichtswürdigen, blutigen Plan zutraute, als sie wirklich mit einander verabredet hatten.
»Hier kommt er! faßt zu, Jakobs!« rief Herr Slocum, der in dem neu erwachten. Jagdeifer auf alles Andere, was um ihn her vorging, gar nicht geachtet hatte; – »hier! Jahn, habt Ihr keinen Haken? – macht rasch, oder er sinkt unter!«
Neben Jahn lag ein Bootshaken, und das Steuer jetzt in eine zu dem Zweck schon angebrachte Schlinge bringend, damit das Boot seine Richtung beibehalten mußte, griff er den Haken auf, um das Goldstück zu verdienen. Eben wollte er auch zu dem Zweck nach dem Steuerbord, oder der rechten Seite des Cutters hinüber springen, das geschossene Thier damit zu fassen, als er den jungen Williams seine Flinte aufgreifen und spannen sah. In demselben Augenblick riß aber auch Jakobs, der dicht hinter den alten Herrn auf die Bank getreten war, ein bis dahin verborgen gehaltenes großes Messer unter seiner Jacke vor, hob es und wollte es gerade dem alten, ehrwürdigen Manne in den Rücken stoßen, als Jahn, mit einem lauten Aufschrei von Schreck und Entrüstung, vorsprang, und dem Buben den vorn mit einer kurzen Spitze versehenen Bootshaken mit voller Gewalt in die Seite rannte. Sein ganzes Gewicht hatte er dabei in den Stoß gelegt, und während er selber über eines der Querhölzer stolperte und in das Boot hineinstürzte, verlor der Mörder, dessen ganze Aufmerksamkeit aus den Stoß gerichtet gewesen war, ebenfalls das Gleichgewicht und taumelte über Bord.
In dem Moment krachte dicht neben dem alten Jahn ein Schuß, und zwar so nahe, daß es ihm war, als ob ihm das Trommelfell gesprungen wäre; auch fühlte er in Hals und Schulter einen stechenden Schmerz. Sein Sturz hatte ihn aber gerettet, denn der von Williams nach ihm, auf kaum drei Schritt Entfernung, abgefeuerte Schuß, war dadurch dicht über ihn weg und ins Blaue gegangen, während ihn nur ein paar einzelne Schrote in Hals und Schulter getroffen hatten.
Der alte Amerikaner wußte dabei selbst nicht recht, wie ihm geschah, denn, sich rasch umdrehend, hatte er wol das über ihm erhobene Messer und den so rechzeitig geschehenen Stoß Jahn's gesehen, aber Williams' Schuß machte ihn wieder irre. Eine so entsetzliche Absicht war er doch nicht im Stande, dem jungen Manne, dem er so viele Wohlthaten erzeigt, zuzutrauen, als Dieser selbst durch einen neuen Angriff allen Zweifeln ein Ende machte.
Den jungen Verbrecher hatte nämlich, als der entscheidende Augenblick nahte, eine so furchtbare Angst erfaßt, daß er mit leichenblassen Wangen und zitternden Gliedern dastand, und die Brust ihm fast den Dienst zum Athemholen versagte. Wie ein Schleier legte es sich vor seine Augen, und als er seinen Helfershelfer hinter das ausersehene Opfer treten sah, griff er selber, kaum mehr wissend was er that, das neben ihm liegende Gewehr auf, um den alten Matrosen unschädlich zu machen. Daß Dieser das Steuer verlassen könnte, hatte er aber gar nicht gedacht, und als er zu gleicher Zeit seinen Helfershelfer über Bord stürzen und seine schändliche Absicht schon halb mißglückt sah, fühlte er sich verloren. Den Schuß feuerte er schon in einem Taumel von Angst und Verwirrung ab, und da er zugleich die Gefahr erkannte, in der er sich jetzt befand, verlor er dabei – das Schlimmste für ihn – auch seine Geistesgegenwart. Der Anschlag war mißglückt, wenigstens in der Art, in der er ihn vorher mit Jakobs verabredet hatte, und sein Helfershelfer über Bord gefallen; hätte er jetzt kaltes Blut behalten, so wäre es ihm vielleicht ein Leichtes gewesen, das ganze Verbrechen auf des Andern Schultern zu wälzen. Selbst der Schuß konnte, einer vermutheten Gefahr zu begegnen, nur in eigener Vertheidigung und ohne böse Absicht losgedrückt sein. Mit dem Fehlschusse verlor er aber auch den Kopf, drückte das zweite Rohr in jetzt blinder, wahnsinniger Wuth gegen den alten Slocum ab, und warf sich dann, als dieses glücklicher Weise versagte, das Gewehr herumdrehend, und den Kolben als Keule gebrauchend, aus den alten Amerikaner, um ihn mit dem schweren Holze zu Boden zu schlagen.
Jetzt aber sprang unser Freund Jahn, der mit Blitzesschnelle wieder vom Boden auffuhr, dem Schlage eben so in den Weg, wie er vorher den Stoß parirt hatte, unterlief den jungen, viel kräftigern Menschen, und hatte ihn im nächsten Augenblick, jetzt von Slocum dabei unterstützt, fest und bewältigt am Boden liegen, wo er seine Hände und Füße mit einer dortliegenden derben Schnur umwand und ihn so unschädlich machte. Der Gefangene tobte und wüthete zwar noch eine Zeit lang gegen die Banden an, aber vergebens; der Hans hielt, und mit den Zähnen knirschend lag er bald still und überwunden im Innern des kleinen Fahrzeugs.
Dieses hatte aber indessen in der immer frischer einsetzenden Brise und mit den straff angespannten Segeln eine tüchtige Strecke durchlaufen, und Jahn, der jetzt erst wieder Zeit fand, auch nur ein Wort über die so rasch aus einander folgenden Vorgänge zu äußern, rief dem alten Herrn zu, nur um Gottes Willen auf den Gefangenen Acht zu geben, damit er ihnen nicht noch mehr Unheil anrichte, und sprang dann an das Steuer zurück, das kleine Fahrzeug über den andern Bug zu werfen, und jetzt so rasch als möglich nach Helgoland zurückzulaufen. Der Nebel war in den wenigen Minuten so furchtbar dicht geworden, und der erwachende Wind heulte so wild und zornig durch die Taue und Blöcke des Cutters, daß der alte Seemann nicht umsonst für ihre Sicherheit fürchtete, wenn sie jetzt, wo er noch dazu allein sein kleines Fahrzeug zu bedienen hatte, auch nur eine Minute länger säumten, als unumgänglich nöthig war.
Der Amerikaner hatte indessen, als der erste Kampf überstanden war, in starrem Entsetzen dagestanden und den jungen Verbrecher angesehen. Trotz dem Geschehenen sträubte sich sein gutes Herz noch immer, an eine so furchtbare That zu glauben. Die Thatsache ließ sich aber auch nicht mehr wegläugnen, und er rief jetzt, die Hände in bitterem Schmerz gefaltet und langsam mit dem Kopfe schüttelnd aus:
»Williams, Williams, was um Gottes willen hatte ich Ihnen gethan, daß Sie so Böses gegen mich beabsichtigten?«
Der junge Verbrecher erwiderte kein Wort darauf – er war leichenblaß und lag, mit stierem Blick vor sich hinstarrend, still und regungslos auf dem Deck des kleinen Cutters.
»Aber wo ist sein Helfershelfer jetzt?« fragte der alte Herr Slocum, sich rasch und erschreckt im Boote aufrichtend, als er des über Bord Gefallenen gedachte; »wir können ihn doch nicht hier im Wasser zurücklassen?«
»Können wir nicht?« sagte Jahn trocken, ohne auch nur nach ihm über Bord zu schauen und einzig und allein mit seiner Richtung und den Segeln beschäftigt; »sollten wol gar die Geschichte noch einmal von vorn wieder anfangen, wenn wir die beiden Kerle jetzt hier im Nebel zusammen und zum Aeußersten gebracht hätten? Ueberdies sind wir schon seit der Zeit eine halbe englische Meile wenigstens von ihm fortgelaufen, und könnten ihn vielleicht bei schönem Wetter wiederfinden; wie es aber jetzt steht, mit einem Sturm vor uns und bei einem Nebel, daß man die Hand kaum mehr vor den Augen sehen kann, wäre es geradezu Wahnsinn umzukehren, noch, dazu eines solchen Schuftes wegen. Ob der Kerl nun hier ersäuft, oder drüben in Helgoland gehängt wird, bleibt sich doch ziemlich gleich.«
»Wir wollen wirklich fortsegeln und ihn dem Ertrinken preisgeben?« rief der alte Herr erschreckt.
»Allerdings wollen wir das,« versicherte Jahn vollkommen ruhig; »eben weil es besser ist, daß er allein ersäuft, als wir alle mit einander. Ueberdies wäre es ein reiner Zufall, wenn wir ihn wiederfänden, wollten wir wirklich nach ihm suchen. – Das kleine Boot läuft jetzt vor der Brise seine acht Knoten Um die Schnelligkeit eines Fahrzeugs berechnen zu können, hat der Schiffer das Log, ein kleines dreieckiges Brettchen, unten etwas mit Blei beschwert, das auf dem Wasser schwimmt, und an dem eine Leine befestigt ist, die von Bord abgelassen wird. Die Leine ist mit in regelmäßigen Entfernungen von einander eingeknüpften Knoten versehen, die Meilen bedeuten, und soviel Knoten in einer bestimmten Anzahl von Minuten ablaufen, soviel Meilen legt das Schiff in der Stunde zurück. die Stunde, und wie viel wir Abdrift dabei machen, d. h. wie weit wir dabei nach Lee zu geschoben werden, können wir überdies jetzt nicht einmal genau berechnen. Das hat er an uns verdient, und ich sehe nicht ein, warum wir uns nach dem, was er und der Musje da uns Beiden hier zugedacht hatten, uns weiter um ihn bekümmern sollen. Wer Anderen eine Grube gräbt, fällt oft selbst hinein, ist ein altes gutes Sprüchwort, und da er jetzt drinnen liegt, mag er auch sehen, wie er wieder herauskommt.«
»Ich glaube, ich höre rufen,« sagte der alte Herr, der indessen ängstlich nach der Richtung hinüber gehorcht hatte, in der er den über Bord Gefallenen vermuthete.
Jahn richtete sich auf und lauschte dort hinüber; sie konnten aber Nichts weiter in dem Rauschen der Wellen und bei dem Pfeifen des Windes durch die Blöcke unterscheiden; eine Möve kreischte – das konnte es recht gut gewesen sein; dann war Alles wieder ruhig. Das kleine Fahrzeug schoß und schäumte indeß durch die Wogen seine Bahn dahin, dem aufsteigenden Wetter zu entgehen, das Jahn in allen Gliedern zu spüren schien, so unruhig wurde er, so ängstlich sah er nach den jetzt den Himmel deckenden Wolken hinauf, nach den immer dichter um sie her ziehenden Schwaden. Im Norden fing es zugleich an zu donnern – noch ganz fern und wie unwillig grollend, aber der Feind dort ließ sich nicht verkennen, und auch der alte Amerikaner fing an scheu umher zu sehen, und fragte den Bootsmann, ob er sich wol getraue, die Insel wiederzufinden.
»Mit Gottes Hülfe hoffe ich es,« sagte der alte Mann, und sah nach seinen Segeln hinauf; aber kein Wort wurde weiter gesprochen, und der kleine Cutter zischte durch die jetzt immer lebendiger werdende Fluth, als ob er selber die Gefahr gekannt hätte, der sie hier draußen ausgesetzt waren; er drängte nun und trieb, der sichern Hasen noch vor Ausbruch des Sturmes zu erreichen.