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Juan Fernandez. Wie Carl zum ersten Male nach oben stieg und ein Matrose wurde.
Die nächsten Tage vergingen still und ohne irgend einen besondern Vorfall; der Wind war sehr günstig, und das Schiff, ein vortrefflicher Segler, machte außerordentlich raschen Fortschritt. Die Vögel aber, die es in Schwärmen wieder umgaben, konnte Carl nur mit Schaudern ansehen – er vermochte den Gedanken nicht abzuschütteln, daß Blut ihre Schnäbel netze, und durch ihren kreischenden Laut hörte er noch immer den Hülferuf des Unglücklichen.
Mit jedem Tage erreichten sie indessen ein wärmeres, freundlicheres Klima; die See wurde ruhiger, und der Wind, der ganz nach Süden umgesprungen war, wie er gewöhnlich an der chilenischen Küste weht, trieb sie rasch gen Norden, den südlich vom Aequator gelegenen Inseln zu.
Die Boote waren jetzt wieder unter ihre Krahnen gehangen, und zu augenblicklichem Gebrauch hergerichtet, die leichten Stengen nach oben, die Anker auf ihren alten Platz gebracht, und das rege Leben an Bord, womit Alles in Stand gesetzt wurde, zeigte von der Lust und Begierde der Mannschaft, ihren Fang bald beginnen und ihr Schiff füllen zu können. Je eher dies geschehen war, desto früher durften sie heimkehren, und an Land – in wenigen Tagen wieder verjubeln und mit vollen Händen hinausstreuen, woran sie Jahre lang ihre Kräfte verwandt und ihr Leben gewagt. Es giebt kein leichtherzigeres, ja leichtsinnigeres Volk auf der Welt, als die Matrosen, welche das Wort sparen gar nicht kennen. »Wer weiß, ob ich nicht auf der nächsten Reise zu Grunde gehe,« ist ihre gewöhnliche Entschuldigung; »weshalb sollt' ich deshalb das Geld in den Kasten schließen?«
»Land ho!« tönte da eines Morgens der Ruf vom Vortop aus, und vorn am rechten Bug, als Carl an Deck sprang, konnten sie die Umrisse einer ziemlich hohen Insel erkennen. Das Schiff hielt aber nicht darauf zu, sondern der Capitain war das Land nur angelaufen, um zu sehen, ob sein Chronometer auch richtig gehe und seine Observationen genau angebe. Carl schaute ebenfalls ziemlich gleichgültig hinüber. Sie hatten die Falklands-Inseln und später Cap Horn gesichtet, ohne irgend einen dieser Plätze zu berühren; das war eben nur ein ähnliches Ufer, dessen Umrisse er von fern ansehen konnte, und an dem sie jetzt wieder still vorbeisegelten – was half ihm da das Land?
»Weißt Du, mein junger Bursch, wie die Insel da drüben heißt?« fragte ihn der zu ihm tretende Barthels, indem er nach dem gar nicht so sehr fernen Lande hinüberdeutete.
»Nein,« sagte Carl, »woher soll ich das wissen?«
»Juan Fernandez,« lächelte Barthels, und den Platz kennst Du doch gewiß?«
» Den Platz?« rief Carl erstaunt; »bin ich denn je von Hause weggekommen?«
»Aber Du hast doch gewiß davon gelesen?«
»Von Juan Fernandez? – nicht, daß ich mich erinnern könnte. Der Lage nach, und wie mir der erste Harpunirer sagte, daß wir hier nicht so gar weit von der chilenischen Küste wären, muß sie wohl mit zu Chile gehören.«
»Und hast Du wirklich noch nie Etwas von Robinson's Insel gehört?«
»Robinson's Insel?« rief Carl rasch und erfreut; »ist das da drüben Robinson's Insel?«
»Wenigstens die Insel,« sagte der Harpunirer, »auf die jener englische Matrose, Alexander Selkirk, sich rettete und wo er Jahre lang allein zubrachte. Nach dessen Leben schrieb später der Schriftsteller De Foe Robinson Crusoe's Abenteuer.«
»Und leben denn auf der Insel Cannibalen?« fragte ihn Carl erstaunt.
»Nein, das nicht,« lächelte Barthels, »und haben auch wol hier nie gelebt; doch liegt die Insel noch wie früher da, ganz unbewohnt.«
»Ganz unbewohnt von Menschen?«
»Jetzt, ja; vor einer Reihe von Jahren hatten sich einmal Chilenen hier drüben angesiedelt, haben es aber auch wieder aufgegeben, und sind zurück auf das feste Land gegangen. Wilde Ziegen giebt es aber genug hier, und diese und eine kleine Art Papageien mit anderem Geflügel sind wol nun wieder die einzigen Bewohner der Insel.«
»Und Robinson Crusoe hat mit Freitag da nie gelebt?« fragte Carl, merkwürdig kleinlaut dabei werdend.
»Der Mann hieß Selkirk, der Name bleibt sich ja gleich.« –
»Aber Freitag?«
»Den hat der Dichter freilich erfunden,« lachte Barthels; »doch was schadet das? die Erzählung hat trotzdem Tausenden von Kindern und Erwachsenen Freude gemacht.«
»Ja – aber – ich hatte doch geglaubt,« stotterte Carl.
»Daß sich Alles auf's Haar so verhalten habe, mit den Fußstapfen im Sande und den gebratenen Schwarzen? – Ja, mein lieber kleiner Mann, das geht wol so im Leben, daß wir uns Manches so und so denken und ausmalen, und es nachher auch genau so zu finden erwarten. Wenn wir der Sache dann aber recht auf den Leib rücken, so sieht sie ganz anders aus. Dir wird noch manche Täuschung im Leben bevorstehen, und ich will Dir nur wünschen, daß keine schmerzlicher ist, als diese hier.«
»Aber Alexander Selkirk ist wirklich hier mit seinem Schiffe verunglückt, und hat da lange Jahre allein gelebt?«
»Der allerdings, und in damaliger Zeit war die Schifffahrt auf diesen Meeren noch so unbedeutend, ja die Insel selber wol noch nicht einmal entdeckt, wenigstens auf den Karten nicht bezeichnet, daß freilich eine geraume Zeit vergehen konnte, ehe ein Fahrzeug zu seiner Rettung herbeikam.«
»Konnten aber da nicht doch vom nahen festen Lande Menschenfresser herüber gekommen sein, um ihre Gefangenen zu schlachten?« fragte Carl zögernd, den letzten Versuch machend, wenigstens die Hauptsache seines Robinson zu retten.
»Nicht gut,« lächelte Barthels, denn damals war Chile schon von den Spaniern in Besitz genommen, und die Arrokaner, jene Indianer, die sich in Chile noch gehalten haben und ihr Territorium selbst jetzt noch gegen jede Besitznahme der Weißen mit Erfolg vertheidigen, sind keine Cannibalen.
»There she blo – o – o – ws!« »There she blows!« »Dort bläst er!« ist der auf englischen, und selbst auf den meisten deutschen Schiffen gebräuchliche Ruf des Ausgucks, wenn er in See draußen den ausgeworfenen Strahl eines Wallfisches entdeckt, und damit gewissermaßen das Zeichen zur Verfolgung giebt. gellte in diesem Augenblick die laute fröhliche Stimme des Ausgucks von dem Vormast herunter, » there she blows – blows – blows – blows!« die wiederholten Ausrufe, jedenfalls eine ganze »Schule« School; im Deutschen das etwas veränderte Schoal, eine Anzahl Fische zusammen. der so lang und vergeblich ersehnten Fische verrathend.
Was der Ruf für ein wildes, frisches Leben an Bord brachte! wie rasch der Capitain von unten heraufgesprungen kam, und wie eilig die Bootssteuerer, welche die einzelnen Boote in Stand zu halten haben, an ihre Plätze flogen, die kleinen Wasserfässer und Proviantsäcke füllen ließen und mit der zu jedem Boot gehörigen Mannschaft des Befehls zum Niederlassen gewärtig standen!
Die Fische waren in Lee aufgekommen, d. h. unter dem Winde; also konnte das Schiff darauf zuhalten, und der dem steuernden Matrosen gegebene Befehl lenkte den Bug des Kamehameha rasch der neuen Richtung zu. Die Segel wurden mehr aufgebraßt, und das wackere Schiff schäumte der Richtung zu, welche von den Leuten oben – denn vom Deck aus ließen sich die ausgeworfenen Strahlen der Fische noch nicht erkennen – bezeichnet wurde.
»There she blows – blows!« waren jetzt fast die einzigen Laute, die gehört wurden, bis plötzlich der erste Harpunirer, dem das Deck unter den Füßen zu brennen schien, und der keinenfalls die Zeit erwarten konnte, auf die Reiling sprang und seiner Bootsmannschaft zurief, ihre Plätze einzunehmen. Er konnte die Fische jetzt schon selber von Deck aus erkennen.
Im Nu war Alles geschehen; der Kübel mit dem langen Harpunentau darin wurde vorn ins Boot gehoben und dieses niedergelassen; die Leute folgten, das kleine Segel stieg in die Höhe, und wenige Secunden später schoß das scharfgebaute Boot vom Schiffe ab, seine eigene Bahn. Die anderen drei Harpunirer waren indessen aber auch nicht müßig gewesen, und ihre Boote folgten dem vorangegangenen, kaum in Schiffslänge, durch das Wasser schäumend, daß die kleinen Spritzwellen lustig an ihrem Bug emporzischten. Der Mann im Mast oben gab ihnen dabei mit ausgestrecktem Arme die Richtung an, wo er die Fische sah, und als sie sich weiter vom Schiffe entfernten, wurde eine kurze Stange zu ihm hinaufgeschickt, an deren einem Ende ein von Leinwand gemachter und schwarz getheerter Ballon befestigt war, der etwa einen Fuß im Durchmesser hielt, und der den entfernten Booten, wenn er ausgehalten wurde, leicht die Richtung angeben konnte, in der sie die Fische suchen mußten.
Der Kamehameha war aber dadurch ordentlich leer geworden, denn in jedem Boote saßen vier Matrosen zum Rudern mit Bootsteuerer und Harpunirer, also sechs Mann, so daß vierundzwanzig Menschen plötzlich fehlten, und nur eben genug zurückblieben, das Schiff indessen zu regieren.
»So, mein Junge,« wandte sich da der Capitain an Carl, »jetzt geht Dein Matrosenleben auch an, denn so lange wir fischen, brauchen wir keine zwei Stewards, und Du magst von nun an mit den Dienst lernen. So klettere einmal vor allen Dingen da oben hinauf, und mache das Bramsegel fest; der Böttcher, der oben sitzt, wird Dir zeigen, wie Du das anzufangen hast, und Dir dabei helfen, und dann magst Du gleich bei ihm oben bleiben und Dir die Sache mit ansehen, damit wir Dich später manchmal allein hinaufschicken können.«
Carl gehorchte dem Befehl augenblicklich, aber das Herz klopfte ihm doch gewaltig, als er zum ersten Male die schwanken, unsicheren Seile betrat, auf denen hin er die oberen Raaen erreichen mußte, und er klammerte sich an dabei, daß ihm die Hände schmerzten. Auch nach unten durfte er nicht sehen, er wäre sonst schwindlich geworden, und kletterte so langsam bis zu den ersten Marsen, dem im gewöhnlichen Leben sogenannten Mastkorb, wo er nicht weiter konnte. Dieser nämlich, aus starken Planken bestehend, stand horizontal vom Maste ab, und eiserne Stangen, mit einzelnen dünnen Seilen (Wevelien) dazwischen, stiegen auswärts gehend schräg auf. Die Matrosen liefen nun allerdings blitzesschnell darüber hin – er hatte ihnen manchmal zugesehen – und von unten aus war ihm die Sache auch gar nicht so schwierig vorgekommen. Jetzt aber schaute er sich doch etwas ängstlich nach einer andern Stelle um, und überlegte eben, ob er nicht besser von der großen Raae aus, und an den dortigen Ketten und Tauen die fatale Stelle umgehen könne, als das laute Lachen des Capitains und der noch an Deck befindlichen Matrosen zu ihm heraufstöhnte, weshalb er etwas beschämt niederschaute.
»Hahahaha,« lachte der Erstere, »steckst Du fest, mein Junge? nur vorwärts, fass' die eisernen Stangen an, tritt dann mit den Beinen in die Wevelien, und wenn Du den Kopf an die Marsen bringst, greif darüber weg und fass' die Want fest an – mußt aber richtig festhalten, sonst fällst Du hinunter, und wir haben keine Boote mehr unter den Krahnen, um Dich wieder aufzufischen!«
Carl dachte schaudernd an das Schicksal des armen James, und die Möven, die das Schiff umkreisten, schienen ihm höhnisch zuzurufen und sich auf neue, willkommene Beute zu freuen. Aber das Lachen! – wenn er sich jetzt nicht zusammennahm, hätte er sich ja gar nicht wieder an Deck dürfen sehen lassen, so wäre er von der übrigen Mannschaft verspottet worden – und stürzte er hinab? – Der Gedanke an Vater und Mutter zuckte ihm durch den Sinn, und die düstere Schreibstube, die ihm in diesem Augenblick gar nicht mehr so entsetzlich vorkam. Aber es war auch nur ein Moment; es blieb ihm ja gar keine Wahl mehr. Als Matrose mußte er dem Befehl sein Obern gehorchen, und wenn er –
»Na, wird's bald?« rief die ungeduldige Stimme des Capitains jetzt vom untern Deck aus, »was hängst Du denn da oben und guckst in die Höhe? – hinauf mit Dir, oder ich mache Dir Beine.«
Carl biß die Zähne fest aufeinander, griff die dünnen Eisenstangen an, hob sich daran empor und erreichte die Marsen. Hier aber bot sich ihm eine neue Schwierigkeit; darüber hinsehen konnte er nicht gut, und die Want, die er mit der rechten Hand fühlte, und an die er sich anklammerte, um nicht an der linken allein zu hängen und hinten über zu stürzen, war so dick, daß er sie nicht gut umspannen konnte. Er klebte dabei, mit den Beinen nach dem Maste zu, den Kopf nach außen, unter den Marsen, und sein Körper schien ihm immer schwerer, seine Hand matter zu werden. Mit gewaltsamer Anstrengung hob er sich endlich so weit auf, um den Arm um den in den Marsen befestigten eisernen Ring der Want zu bringen, daß er sich mit dem Armgelenk selber daran festhalten konnte. Dies gab ihm mehr Festigkeit, und jetzt zog er auch leichter den übrigen Körper nach.
Er war oben; als er auf dem Holze der Marsen stand und sich an den Wanten der Vor-Stenge anhielt, war es ihm, als ob eine Centnerlast von seiner Seele genommen wäre.
»Bravo!« rief der Capitain von unten hinauf; »siehst Du, mein Bursche, es geht Alles, was man nur ernstlich will oder muß – und nun weiter!«
Die jetzige Want oder Strickleiter, die er nun zu ersteigen hatte, war viel schwanker als die erste, aber er sah auch kein solches Hinderniß weiter vor sich, und wenn ihm gleich die Arme und Hände von der ungewohnten Anstrengung schmerzten, so arbeitete er sich doch ziemlich rasch und unverdrossen aufwärts über die zweiten Marsen hin. Hier aber bot sich ihm eine neue Schwierigkeit; die Wevelien zwischen den Wanten der obern Stenge hörten auf – es war keine Strickleiter mehr da, und er mußte sich, matt und erschöpft wie er war, mit den Händen an den stark getheerten Tauen anhalten, die, Knie dabei nach innen mit den Schienbeinen dagegen lehnen, und dann abwechselnd mit Hand und Knien nach oben rutschen – doch es ging. Es ist nichts so schwer in der Welt, das der Mensch nicht durch Beharrlichkeit, Ausdauer und festen Willen überwinden könnte, und Carl hatte bald die Genugthuung, das Ziel seines Steigens, die Bramraae, zu erreichen, an der er sich festhalten konnte, während er mit dem linken Fuß in den Tauen am Maste blieb, und den rechten in das angespannte Lauftau stemmte. Um sich zu schauen, dazu hatte er aber noch gar nicht den Muth gehabt.
Da oben bewillkommnete ihn jedoch gar freundlich der alte Böttcher, ein Holländer, der aber auch plattdeutsch sprach und sich darin mit Carl recht gut verständigen konnte.
»So, mein Junge,« lachte er, »kommst Du auch einmal zu uns auf's Dach, um zu sehen, wie es hier oben ausschaut? Das ist recht, klammere Dich nur nicht so an, daß Dir die Finger nicht starr werden; wenn Du einen Krampf hinein bekommst, fällst Du weg. – Na, warte, das Segel wollen wir jetzt bald einhaben.«
Die Falle, welche die Schoten oder unteren Zipfel desselben aushielten, waren indeß an Deck gelöst worden, daß das Segel frei ausflatterte, und die starke, schwere Leinwand mußte eingeholt werden, ja noch mehr, Carl mußte mit beiden Füßen auf das Lauftau hinaustreten und, nur mit der Brust gegen die Raae gelehnt, das Segel auf seiner Seite halten und einziehen; – aber es ging wider Erwarten gut. Keinen Blick dabei um sich her werfend, um nicht schwindlich zu werden, sah er nur auf das Segel, und ließ sich von dem Böttcher, dem alten Stevens, wie sein Name war, das schiffsgerechte Umwinden und Festschnüren desselben an die Raae, daß der Wind nicht hineinfangen konnte, zeigen.
»Bravo, mein Junge!« sagte aber auch dieser, als er sich herzhaft zusammennahm und aus besten Kräften half. »Du wirst noch einmal ein tüchtiger Matrose werden. Und nun sieh Dich einmal um nach den Wallen; unsere Burschen sind scharf hinter ihnen drein, und ich denke, heut' Abend wird's fettig bei uns an Bord aussehen.«
Der Alte, der, während er das Segel festmachte, die Jagd doch keinen Moment aus den Augen gelassen und immer über die Schulter danach hingeschielt hatte, richtete sich jetzt auf der Raae so unbekümmert auf, als ob er unten an Deck stände, und den Mast nur leicht mit der rechten Hand fassend, deutete er mit der linken auf das Meer hinaus und rief:
»Siehst Du, Carl – siehst Du dort drüben? – Barthels' Boot ist wahrhaftig voran – there she blows – there – there she blows – blows – blows – sie sind mitten dazwischen, und jetzt wird's gleich was geben!«
»Heiliger Gott, wie wundervoll!« rief aber Carl, als er vorher das Bein über die Raae geschlagen hatte, daß er darauf zu sitzen kam, während er sich mit der Hand an einem der Pardunen festhielt, und jetzt erst, in seiner Stellung vollkommen gesichert, frei um sich her schauen konnte – »wie wunderherrlich ist das hier oben!«
»Nicht wahr, es sieht sich gut an?« lachte der Alte, »ja, mein Bursche, die Landratten gäben wer weiß wie viel darum, wenn sie so Etwas einmal von hier oben aus mit ansehen könnten; – ob sie aber deshalb an einem Maste hinaufkletterten, ist die Frage. Ich für mein Theil kenne nichts Herrlicheres auf der Welt, als von hier aus einer solchen Jagd, wie sie da drüben vor sich geht, zuschauen zu können, das natürlich ausgenommen, wenn man selber mit im Boote sein und das Stöhnen der Fische hören, das Blut sehen kann, wenn sie's hinaus ins Freie blasen.«
Die Jagd? Carl sah gar Nichts davon, denn die weißen Flecken, zu denen die Segel da draußen in dem blauen Gewirr von Schaum und Wogen zusammengeschmolzen waren, hatte sein Auge noch nicht gefunden; aber das Meer, das weite endlose Meer lag um ihn und das Schiff unter ihm – er griff das Tau fester, an das er sich hielt – lag einer Planke gleich, wie ein langer, dünner Balken auf der tiefblauen Fluth, bäumend und tanzend und einen lichten Streifen in seiner Bahn ziehend.
Merkwürdig war ihm dabei, daß der Horizont, gerade wie von Deck aus, und obgleich er sich jetzt um so viel höher befand, seinem Auge gegenüber lag. Der alte Stevens aber, den er deshalb frug, lachte und sagte:
»Das ist immer so, mein Junge; ob Du auf einen Berg steigst, so hoch er ist, oder in die äußerste Spitze des Mastes hinauf, den Horizont bringst Du deshalb nicht hinunter; nur mehr von der um Dich her liegenden Fläche bekommst Du zu sehen, aber Dein Gesichtskreis bleibt rund um Dich abgeschlossen, so weit natürlich, wie Deine Sehkraft reicht, derselbe. Dabei kommt es Einem, besonders in See, und wenn man höher steht, als die Oberfläche des Meeres, immer so vor, als ob man gerade mitten in einem Kessel wäre, und das Wasser rings um uns her höher läge. Das ist aber eben weiter Nichts als Täuschung, und erreicht man den jetzt scheinbar höchsten Rand, so bleibt die Sache doch dieselbe. Hast Du das Land da drüben schon gesehen?
Carl drehte sich langsam darnach um, da er bis jetzt mit dem Rücken dorthin gesessen, konnte aber einen lauten Ruf der Ueberraschung nicht unterdrücken, als er die Inseln – denn es waren drei davon in Sicht – plötzlich wie aus dem Meer herausgehoben mit ihren Gipfeln und Schluchten vor sich liegen sah. Selbst die ungleichen Umrisse der Waldung mit einzeln vorstehenden Bäumen konnte er erkennen.
Wie ein Märchen kam ihm dabei das Ganze vor – Robinson's Insel dort drüben, von der See umspült, die Bäume, unter denen er die wilden Ziegen gejagt – der gelbe Strand, wo er die Fußstapfen im Sande gefunden – jener Hügel, an dem – er seufzte tief auf – Und war das Ganze denn nicht auch ein Märchen? hatte denn Robinson Crusoe je gelebt? und Alexander Selkirk? – was ging ihn Alexander Selkirk an? der hatte keinen Freitag und keine Menschenfresser gefunden. Sonderbar – es war ihm fast, als ob er in dieser Enttäuschung einen lieben Freund verloren, und das gerade in einer Zeit, wo er Diesen erst recht lieb würde gewonnen und alle seine Leiden und Freuden noch einmal mit ihm durchlebt haben. Jetzt war das vorbei, und dennoch konnte er die Augen nicht wieder abwenden von dem Lande. Dennoch spähte er umher, als ob er dort irgend ein Zeichen zu finden erwartete, das ihr Schiff anrief; als ob die Canoes der Wilden, die das Ufer verlassen, noch in Sicht sein müßten.
»Hurrah – sie haben ihn!« schrie da Stevens, der Böttcher, plötzlich mit lautem Jubel an Deck nieder.
»Wen?« rief Carl rasch und erschreckt.
»Wen?« lachte der Holländer, »den Fisch! – Dort ist weiß Wasser – siehst Du nicht den hellen Streifen, der hinter dem Boote herschäumt? – Himmelsapperment, Barthel's Boot ist auch fest – dort gehen sie, hurrah! hurrah!«
Es bedurfte wirklich einiger Zeit, bis Carl mit bloßen Augen in den weiß schäumenden blauen Wellen nur die Boote selber ausmachen konnte. Der Holländer gab ihm aber jetzt ein kleines Fernrohr, das er selbst über die Schulter hängen hatte, und mit dessen Hülfe erkannte Carl allerdings, wie zwei von den Booten, mit niedergelassenen Segeln, von irgend Etwas, das vor ihnen wie ein dunkler Streifen herschoß, gezogen, ziemlich rasch durch das Wasser schäumten. Die Leute in den Booten hielten dabei ihre Ruder in die Höhe, und der eine Fisch, der jetzt im Todeskampf zu liegen schien, warf sich ein paar Mal halb aus dem Wasser, peitschte dieses mit dem riesigen Schwanze und blies einen dunklen Strahl aus, den Stevens jubelnd als Blut kündete – der Alte mußte ein Auge wie ein Adler haben.
Im Ganzen ließ sich von oben aber doch nicht viel erkennen; das Schiff schwankte zu sehr, und Carl war noch zu viel mit seinem eigenen Sitz und mit der Sorge um sich selber beschäftigt, als daß er seine ganze Aufmerksamkeit der nicht recht begriffenen Jagd hätte zuwenden können. Er folgte willig, als ihn der Capitain endlich hinunterrief.
Das Hinabsteigen ging übrigens viel leichter als das Aufwärtsklettern; einmal war er jetzt schon weit mehr an das Schwanken gewöhnt, und dann konnte er auch viel besser um die Marsen hinum nach unten kommen, wo er sich blos niederzulassen hatte.