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9. Capitel

Etwas über Sommer und Winter in der Welt und über Längen- und Breitengrade. – Mann über Bord!


Die See war ziemlich ruhig, und das Schiff machte die nächsten Tage hindurch raschen Fortgang. Dem Capitain lag daran, so schnell als möglich um Cap Horn herum zu kommen und seine Jagdgründe für Sperm- oder Pottfische zu erreiche«. Wenn auch die Ausgucks oben im Mast blieben, so schien doch die Mannschaft selber wenig an einen Fang zu glauben, oder ihn nur zu wünschen, da sie dadurch um so viel länger hier aufgehalten worden wäre, wo sehr häufig Stürme herrschen, welche dann, bei der rauhen See, das Aussetzen der Boote fast unmöglich oder jedenfalls höchst gefährlich machen. Boot und Mannschaft ist schon oft in solchen plötzlichen Böen oder Pamperos verloren gegangen.

Schon in der Nacht bekamen sie auch heftigem Wind, und die See wuchs bis gegen Morgen so sehr an, daß gar keine Leute mehr nach oben geschickt und die leichteren Segel eingenommen wurden. Ueberhaupt bereitete sich jetzt das Schiff auf seine Cap-Umsegelung vor; sämmtliche alte, abgenutzte Segel wurden von den Raaen heruntergenommen und neue dafür befestigt, auch selbst die obersten leichten Stengen (die Verlängerungen der Masten) niedergelassen, um einem etwaigen »schweren« Wetter nicht zu viel Halt oben zu bieten. Die vorn auf der Back liegenden großen Anker wurden herein an Deck genommen und fest geschnürt, auch die Boote »nach binnen« geholt und, den Kiel aufwärts, über die Aussiedekessel befestigt. Die Luft erkaltete dabei auffallend, und Carl bekam vom Capitain eine warme Jacke und Hose und drei wollene Hemden, sowie einen Südwester (einen runden Wachstuchhut, der eine lange, mit Wolle gefütterte Klappe im Nacken, auch wollene Ohrenklappen hat), um sich besser gegen die rauhe Witterung schützen zu können.

Allerdings waren sie in der Jahreszeit schon ziemlich weit vorgerückt, d. h. im September, wo auf der südlichen Hälfte unserer Erdkugel der Frühling beginnt. Die Stürme wüthen aber in dieser Jahreszeit oft noch sehr heftig, und das Wetter ist in südlicher Breite kalt und rauh.

Frühling im September – das klingt uns freilich wunderbar, wenn wir aber an einem Globus die Drehung unserer Erde genau beobachten, so wird es uns leicht erklärlich werden.

Die Erde dreht sich nämlich, wie meine jungen Leser jedenfalls wissen, nicht allein um die Sonne, sondern auch um ihre eigene Achse, das erstere in einem Jahre, das zweite in je vierundzwanzig Stunden einmal, wodurch wir Sommer und Winter, Tag und Nacht bekommen. Die Richtung derselben ist aber eine schräge, wo der Sonne die Hälfte des Jahres hindurch die südliche, die andere Hälfte mehr die nördliche Halbkugel zugedreht ist, und dadurch entstehen die Jahreszeiten. Der Aequator oder Mittelring unserer Erde bleibt dabei der Sonne am Meisten zugedreht, und die Wendekreise, im Norden der des Krebses, im Süden der des Steinbocks, bilden die äußersten Grenzlinien, wo die Sonne scheitelt, d. h. senkrecht aus die Erde niederfällt, was nicht etwa allein unter dem Aequator geschieht. Hat unsere Erde ihre Drehung so weit vollbracht, daß die Sonne über dem Wendekreis des Krebses, 23½ Grad nördlicher Breite steht, so haben wir in unserer gemäßigten Zone den längsten Tag (21. Junius); die Sonne ist uns dabei am Nächsten gerückt und in der Zeit nun sehr wenig weiter von uns entfernt, als vom Aequator. Dreht sich die Erde nachher weiter, so daß die Sonne wieder mehr dem Aequator zurückt, so haben wir, wenn sie gerade über diesem steht. Tag- und Nachtgleiche, also Frühling oder Herbst, da dies zweimal in jedem Jahre geschehen muß, und steht sie über dem Wendekreise des Steinbocks, so ist sie am Weitesten von uns entfernt, und zwar einige siebzig Grade. Ihre Strahlen werden dann so viel schräger durch den die Erde umgebenden Dunstkreis gebrochen, und wir haben den kürzesten Tag in unserer gemäßigten Zone.

Großer Unterschied herrscht aber auf der ganzen Erde in diesen Tageslängen, denn im Junius, während die nördliche Halbkugel der Sonne mehr zugedreht ist als die südliche, geht sie am äußersten Nordpol, und selbst schon im Eismeer am nördlichsten europäischen Cap, achtzehn Grad vom Pol entfernt, nicht mehr unter, sondern sinkt bis Mitternacht nur bis auf wenige Grade über den Horizont, und steigt dann wieder. Eine gleiche Erscheinung findet im December, dem dortigen Sommer, also auch am Südpol statt, wo der Nordpol dann in fast sechsmonatlicher Nacht liegt.

Hieraus folgt, daß unter dem Aequator die gleichmäßigsten Tage und Nächte sein müssen, da dieser sich am Wenigsten von der Sonne entfernt.

Was den Wechsel an Hitze und Kälte in unseren Breitengraden betrifft, so ist dieser aber nicht allein durch die am senkrechtesten fallenden Strahlen der Sonne bedingt; diese steht im Sommer, wie vorerwähnt, über dem Wendekreise des Krebses, also nur etwa 27 Grad von uns, von Rio de Janeiro dagegen oder der südlichen Tropengrenze 47 Grad entfernt. Darnach müßte es also bei uns in der Zeit viel heißer sein als dort. Dem ist aber nicht so; bei uns übt die Nähe des Pols einen bedeutenden Einfluß auf die Temperatur aus, und die ungeheuren Massen des dort aufgeschichteten Eises, von dem die näher zum Aequator liegenden Länder auch so viel weiter entfernt sind, kälten unsere Zone ab. Deshalb haben wir auch Ende Junius, wo uns die Sonne am nächsten steht, weder den heißesten, noch Ende December, wo sie am entferntesten von uns ist, den kältesten Tag, weil eben die Oberfläche der Erde den Winter hindurch ausgekühlt ist, und Eis und Schnee sich aus einen weit größern Flächenraum südlicher dehnen. Wie das abnimmt, nimmt auch bei uns die Wärme zu, daß unsere heißesten Tage im Julius und August fallen. Umgekehrt ist es eben so mit den kältesten.

Was die Eintheilung der Erde in Grade betrifft, so geschieht dies auf folgende Art. Die ganze Erdkugel ist in 180 Breiten- und 360 Längengrade getheilt; mein junger Leser muß sich also ein Netz von 360 Fäden denken, deren Enden an den Polen eingezogen sind, und dort also spitz zusammen laufen. Da die Erde Kugelform hat, versteht es sich von selbst, daß diese Fäden oder Grade, die von Pol zu Pol laufen und Längengrade sind, am Aequator auch am Weitesten von einander entfernt liegen, während ihre Entfernung von einander schon bei uns um ein sehr Bedeutendes vermindert wird. Die Breitengrade dagegen sind mit dem Aequator gleichlaufend gezogen, und haben von hier aus bis zu den Polen immer eine gleichmäßige Größe von 15 geographischen Meilen – genau dieselbe Größe, welche die Längengrade am Aequator haben. Die nördliche Hälfte hat also neunzig solche gedachte Ringe, die rings um die Erde laufen, und die südliche ebenfalls.

Was nun die Größe der Längengrade betrifft, so sind sie, wie vorerwähnt, am Aequator, eben so wie die Breitengrade, 15 geographische Meilen lang, und nehmen nach den Wendekreisen und bis zu diesen, natürlich allmählich, aber doch nicht so sehr bedeutend ab, von dort an wird der Unterschied aber schon sehr merklich und wächst, wie sich das von selbst versteht, mit jedem Grade. Ein schnellsegelndes Schiff – wenn man eben eine freiliegende Bahn annimmt, in der es fahren könnte – das vielleicht 90 Tage dazu, gebrauchen würde, um sämmtliche Längengrade am Aequator zu durchlaufen, würde also dasselbe auf einem Grad nördlicher oder südlicher Breite in kaum so vielen Stunden vollbringen können.

Wie aber der Aequator die Erde in zwei Halbkugeln mit seinen Breitengraden theilt, die an diesem mit 0 beginnen und bis neunzig zu den Polen hinauflaufen, so trennt die nautische Berechnung unsern Planeten ebenfalls mit ihren Längengraden in zwei Theile, nach der wir westliche und östliche Länge haben. Die beiden Grenz- und Scheidelinien derselben sind aber, da sie nicht von der Natur selbst angegeben wurden, wie dies beim Aequator der Fall ist, von den verschiedenen Nationen auch verschieden bezeichnet worden.

Auf den deutschen Landkarten wird gewöhnlich die Insel Ferro, zu der Canarischen Inselgruppe an der Westküste von Afrika gehörend und unter dem 28. Grad nördlicher Breite liegend, angenommen; die Engländer rechnen dagegen von ihrem Observatorium zu Greenwich aus, und mit ihnen, weil sie meist englische, nautische oder die Schifffahrt betreffende Hülfsbücher, so wie englische Karten benutzen, die deutschen Seefahrer. Die Franzosen dagegen nehmen den Mittelpunkt von ihrer Pariser Sternwarte, die Amerikaner von Washington, dem Hauptsitz ihres Gouvernements aus. –

Ferro, Greenwich und Paris sind nur wenige Längengrade von einander entfernt, und sie zählen also 180 derselben nach Osten, was die östliche Länge, und 180 nach Westen, was die westliche Länge giebt. In der Südsee durch die Neu-Caledonische Gruppe läuft die Ferro, und durch Neuseeland die Greenwich gegenüberliegende Grenzlinie.

Diese Eintheilung ist dabei unumgänglich nöthig, nicht allein die genaue Lage der verschiedenen Länder und Inseln zu bezeichnen, sondern auch dem Seefahrer, der, draußen im Meere und fern von Land, keinen andern Anhaltepunkt zu seinen Berechnungen hat, ein Mittel an die Hand zu geben, durch seine Instrumente den Ort genau auf der Karte suchen zu können, auf dem sich sein Schiff gerade befindet. Ich will versuchen, Dir mit so wenig Worten als möglich einen Begriff davon zu geben.

Der Breitengrad, unter dem sich ein Schiff befindet, ist sehr leicht berechnet. Der Seemann beobachtet unter Mittag die Sonne, d. h. er nimmt seine Observation mit dem Quadranten, einem sehr künstlich zusammengesetzten Instrumente mit kleinen Spiegeln und Gläsern, mit dem er das Bild der Sonne auf den Horizont herunter bringt. So lange die Sonne noch nicht im Zenith steht, oder ihren höchsten Punkt erreicht hat, steigt das Spiegelbild derselben vom Horizont empor, wobei der Observirende mit einer der Hand bequem liegenden Schraube den Wiederschein immer wieder auf den Horizont zurückbringt. Hat die Sonne den Zenith erreicht, so steht sie scheinbar wenige Secunden fest und geht dann zurück. Ich sage scheinbar, da wir recht gut wissen, daß sich nicht die Sonne, sondern die Erde bewegt, und es eben nur so aussieht, als ob die Sonne aufstiege und unterginge. Diesen Moment, wo sie hält, bezeichnet der Observirende, indem er sein Instrument fest schraubt, daß es sich nicht wieder verrücken kann, und sich dann die darauf erreichten Grade merkt. Nach sehr einfacher Berechnung erfährt er dann die Entfernung, in der sich sein Schiff vom Aequator befindet.

Schwieriger ist es, die Länge zu erfahren, und ein Chronometer dazu das beste Instrument. Chronometer ist ein »Zeitmesser,« also eine sehr richtig gehende Uhr, die mit außerordentlicher Sorgfalt gearbeitet sein muß, und an Bord des Schiffes in einem zu verschließenden Kasten in der Art befestigt wird, daß sie, wie das auch mit dem Compaß geschieht, an sich gegenüberliegenden Ringen und Stiften hängt, und, ihre wagerechte Lage bewahrend, jeder Bewegung des Schiffes nachgiebt. Diese Uhr geht aber nicht mit der Zeit an Bord, sondern genau mit der Zeit in Greenwich – wenn eben das Schiff nach diesem Orte seine Berechnung hat. Die Observation, um die Länge zu finden, wird Vor- oder Nachmittags genommen, etwa um 9 oder 3 Uhr an Bord des Schiffes, wobei zugleich, mit der Secunde zusammentreffend, die genaue Zeit des Chronometers gemerkt wird. Außerdem, und auch um den richtigen Gang seines Chronometers zu bestätigen, hat der Seefahrer noch andere Berechnungen und Observationen mit dem Sextanten, womit er die Entfernungen zwischen Sonne und Mond oder einzelnen Sternen mißt; dies weiter zu erklären, würde aber hier zu weit führen. Dadurch erfährt der Seemann, welche Zeit es in einem und demselben Moment da, wo er sich gerade befindet und zugleich in Greenwich ist, und berechnet nun den Längengrad, unter dem sein Schiff segelt. Auf gleiche Weise wird auch die Lage der verschiedenen Inseln oder Klippen und Sandbänke im Meere gefunden und bezeichnet.

Der Unterschied der Zeit entsteht nämlich aus der Drehung der Erde um ihre eigene Achse. Da sich die Erde von Westen nach Osten dreht, woher es uns auch scheint, als ob die Sonne im Osten aufstiege, so werden die Länder und Meere im Osten früher von ihren Strahlen erreicht, als die im Westen. Der Umschwung der Erde um ihre Achse dauert vierundzwanzig Stunden, der Umfang derselben ist in 360 Grade, und jeder Grad in 15 geographische Meilen getheilt, zusammen 5400 Meilen; also ist immer auf je 15 Graden oder 225 Meilen ein Unterschied von einer Stunde in der Tageszeit, oder auf je vier Minuten 1 Grad = 15 Meilen. So liegt, um ein Beispiel zu geben, Wien etwa 9½ Grad östlicher als Köln, und wird deshalb 38 Minuten eher von der Sonne erreicht, als die letztere Stadt. In Köln ist es daher 6 Uhr Morgens, wenn die richtig gehenden Uhren in Wien schon 6 Uhr 38 Minuten zeigen. Hierdurch wird es möglich, daß mit unserer jetzigen Einrichtung der elektrischen Telegraphen eine Depesche nach Köln, in Wien um sechs Uhr Morgens aufgegeben, ihren Bestimmungsort, so viele Meilen entfernt, noch vor sechs Uhr dort erreichen kann, da der elektrische Strahl noch rascher seine Bahn durchläuft.

Mit der Zahl der Längengrade oder der Größe der Entfernung, wächst demnach auch der größte Unterschied der Zeit, der also bis zum 180. Grade, bei unseren Antipoden oder Gegenfüßlern, gerade 12 Stunden beträgt, woher es kommt, daß sie Mitternacht haben, während bei uns die Sonne im Mittag steht.

Hieraus folgt nun sehr natürlich eine Eigenthümlichkeit. Wenn nämlich ein Schiff von uns aus und fortwährend gen Westen segelt, so muß es in der Zeitrechnung nach und nach einen Tag einbüßen, und wenn es die Erde umschifft hat und von Osten her wieder zurückkommt, gerade vierundzwanzig Stunden verloren haben. Umsegelt es dagegen nach Osten die Erde, so wird es dafür in der Zeitrechnung aus demselben Grunde einen Tag gewinnen.

Demnach überspringen die den 180. Längengrad nach Westen hin kreuzenden Schiffe einen Tag in ihrem Journal, und die nach Osten fahrenden rechnen einen doppelt, um mit der Zeitrechnung der Längenhälfte, die sie gerade erreicht haben, wieder in Ordnung zu kommen.

Mir ist auf diese Art einmal der 12. März abhanden gekommen.

Carl bekümmerte sich indessen weder um Längen- noch um Breitengrade, sondern fror entsetzlich. Das Thermometer fiel rasend schnell, und es wurde trotz der vorgerückten Jahreszeit so kalt, daß er sich kaum zu erwärmen vermochte. Der Wind hielt sich dabei ziemlich gleichmäßig und stark Westnordwest, so daß sie viel weiter nach Süden hinunter laufen mußten, als sonst nöthig gewesen wäre; als sie später das Schiff wendeten und über den andern Bug wieder zurück nach Norden hinaufliefen, hatten sie immer noch keine Hoffnung, das Cap zu dubliren, wenn sich der Wind nicht wenigstens etwas zu ihren Gunsten änderte.

Cap Horn ist die Südspitze des ungeheueren amerikanischen Festlandes, das sich bis etwa zum 54. Grad südlicher Breite hinunterzieht und dort von einer Zahl Inseln, die früher sehr wahrscheinlich mit dem ganzen Continent zusammenhingen, begrenzt ist.

Die Fahrt um Cap Horn wurde in früheren Zeiten von den Seefahrern für das gefährlichste Unternehmen gehalten, das zur See ausgeführt werden konnte. In jetzigen Jahren aber, wo Schiffe wie Instrumente und Karten so große Verbesserungen erfahren haben, hat sie sehr viel von ihrer Gefahr verloren, und Hunderte von Fahrzeugen, Kauffarthei- und Kriegsschiffe und Wallfischfänger, selbst kleine Schooner trotzen jedes Jahr den dort allerdings oft sehr bösartigen und heftigen Stürmen und der hohen See, die da gemeinlich bei schwerem Wetter steht.

Glücklicher Weise wechselte der Wind mit Tagesanbruch des dritten Morgens, wo sie schon in einer Länge fast mit dem Cap selber kreuzten, und gegen Wind und Strömung nicht den geringsten Fortgang machen konnten. Sie waren gerade in Sicht der Westspitze von Staten-Island gekommen, und konnten jetzt, anstatt wieder wenden zu müssen, ihre Segel aufbrassen, d. h. günstiger stellen, und vor einer frischen, mit jeder Stunde wachsenden Brise westlich hinüberhalten.

An diesem Morgen kamen die ersten Wallfische in Sicht, und zwar so nahe, daß sie vom Bord des Schiffes aus gesehen wurden. An ein Aussetzen der Boote war aber gar nicht zu denken, und die Leute schauten sehnsüchtig nach den riesigen Fischen hinüber, die unbelästigt ihre Bahn verfolgen durften. Es ist immer ein unangenehmes Gefühl für den Jäger, das jagdgerechte Wild an sich, in der Waffe Bereich, vorbeiziehen zu sehen, und doch nicht zugreifen zu können; aber sie trösteten sich auf die nächste Zeit und einen guten Fang, und wenn sie Glück hatten – der Wasserjäger läßt sich gern Glück wünschen, was dem Landjäger dagegen höchst fatal ist, und ihm gerade Unglück oder doch wenigstens schlechte Jagd bedeuten soll – konnten sie vielleicht schon in zwei Jahren ihr Schiff »gefüllt« haben und mit dem »Segen« reich beladen nach Hause ziehen.

Das Menschenherz ist ja immer voller Hoffnung, und dies ist wohl die schönste, herrlichste Gabe, die ihm Gott verliehen. In Leid und Schmerz und der Verzweiflung fast schon nahe hält es die Hoffnung noch aufrecht; so trübe, so traurig das Leben auch vor ihm liegen mag. Etwas noch bleibt immer zurück, auf das es eben hofft, ein kleiner Stern dringt stets durch seine Nacht, und läßt es dem mit wieder und wieder neu geweckter Kraft entgegenstreben – bis es im Tode bricht. Und dann noch selber liegt ihm ja die schönste Hoffnung hinter dem Augenblick, wo er von diesem Leben Abschied nimmt – die Hoffnung auf den Himmel. Nehmt dem Herzen die Hoffnung, und Ihr nehmt ihm Licht und Leben – es würde aufhören zu schlagen.

Hei! wie das so wild und lustig durch die Wogen peitschte, wie die Wellen in ihren riesigen, gläsernen Massen, von der jetzt günstigern Brise noch nicht gelenkt, so toll und trotzig seitwärts am Bug emporbäumten und ihre spritzenden Kämme über Deck warfen – aber sie waren da keine willkommenen Gäste, denn sie wurden zu Eis, sobald sie das Deck berührten, und die Taue selbst, die sie näßten, wurden starr und unbiegsam und machten es zu einer höchst bösen und schwierigen Arbeit, mit ihnen zu hantiren und die Segel zu richten oder zu ändern.

Carl war allerdings bis jetzt noch von dieser Arbeit befreit geblieben, da zu den nöthigen Geschäften übrig genug Leute an Bord waren; aber lernen sollte er es auch, wie es ihm schon angekündigt worden, und das Herz schlug ihm doch etwas ängstlicher in der Brust, als er die Leute in den gefrornen, glatten, eisigen Wanten hinauflaufen und auf den Lauftauen, die zum Stehen der Matrosen unter den Raaen angebracht sind, gar manchmal ausrutschen und sich nur mit großer Mühe festhalten sah, und wenn er daran dachte, daß er dasselbe vielleicht auch mit durchmachen müßte.

Er hatte sich das Leben an Bord eines Wallfischfängers doch eigentlich anders gedacht, und nie geglaubt, daß so viel Arbeit zu dem einfachen Segeln erfordert würde. Aber was that's? – wenn's einmal so weit war, und er wirklich da mit hinauf mußte, konnte er auch lernen, was Andere lernten, und dem Muthigen gehört nun doch einmal die Welt.

Zu ihrer Rechten hatten sie noch immer die starren Felsen der südlichsten Landspitze in Sicht, und das wettergepeitschte Ufer, das den wüthenden Capstürmen schon seit Jahrtausenden getrotzt und ihnen die fest und ingrimmig zusammengezogene Stirn geboten, sah grau und düster genug aus. Wehe dem Schiffe, das hier bei schwerem Wetter verloren geht; ein Boot kann in dieser hohen See nicht fahren, ein Mann in dem kalten Wasser und hohen Seegang nicht schwimmen, und könnte er es, wie dürfte er je hoffen, das starre Ufer zu erreichen, gegen das die Wogen mit ihrer riesigen Wucht sich bäumen und jedes lebende Wesen, das, von ihnen getragen, den rauhen Felsenkamm erreichen wollte, in Atome zerschmettern würden.

Carl schauderte, wenn er sich eine solche Möglichkeit dachte, und das Herz schlug ihm manchmal recht laut und ängstlich in der Brust, sobald eine etwas derbere Woge als gewöhnlich vorn gegen ihren Bug anprallte und das Schiff bis in seinen innersten Kiel erzittern machte. Wie viele Menschenleben hingen an der Zähigkeit der Planken, und wenn eine nur brach oder nachgab, wie bald hätte die gierige Fluth da hinein geleckt und gedrängt, und das arme Fahrzeug dem Abgrunde zugerissen.

Der Kamehameha war aber ein tüchtiges, treffliches Schiff, das schon manchem Sturm die Stirn geboten, und jetzt auch wacker seine Bahn stemmte gegen den alten Feind. Manche Seeleute behaupten, daß ein Schiff selber, wie ein lebendes Wesen, Gefühl und Bewegung habe, und wer an Bord mit dem Gedanken steht, und sieht, wie der Bug den wieder und wieder anstürmenden Wogen jetzt ausweicht, jetzt keck begegnet, jetzt sich niederduckt, als ob er dem gar zu starken Feind entgehen wollte, jetzt sich hebt und mit triefenden Seiten rasch und behend den Gipfel einer der gläsernen Massen ersteigt, mag sich das, mit nur ein wenig reger Einbildungskraft, wol recht gut ausmalen können. An Bord herrscht überhaupt mancher Aberglaube, und wenn irgendwo, so ist es hier verzeihlich, wo sich der Seemann stets von dem weiten, öden Meer in seiner ganzen Größe und Furchtbarkeit umgeben sieht, und über einer Tiefe schwebt, in die noch keines lebenden Menschen Auge gedrungen ist, und die deshalb der Phantasie um so weitern Spielraum bietet. Aber noch andere Ursachen hat der Mann, den nur die dünne Planke vom Tode trennt, und das Reißen eines Taues, das Schlüpfen des Fußes, ein plötzlicher Schwindel oder Krampf im nächsten Augenblick schon seinem nassen Grabe in die auszüngelnden Arme werfen kann, mehr an das geheimnißvolle Jenseits zu denken, als der Landbewohner, wenn er dem auch immer noch leichtsinnig genug entgegengeht. Wer die Gefahr aber zum Handwerk hat, gewöhnt sich doch zuletzt daran, und nur manchmal, wenn sie ihm mahnend selbst ans Leben klopft, und aus der Gefährten Mitte sich ihr Opfer herausholt, wird er ernst gestimmt, und eine Ahnung dessen kommt über ihn, um was es sich hier handelt – aber auch das dauert nicht lange. Carl sollte das selber, und weit früher vielleicht erfahren, als er es geglaubt.

Das Wetter hatte sich gebessert; die See ging allerdings noch hoch, aber das Schiff machte doch raschen Fortgang, und da die Wellen nicht mehr so stark von vorn kamen, sondern jetzt, von einem frischen Nordost getrieben, mehr vom Lande ab und mit dem Fahrzeug schräg fortdrängten, konnte der Capitain auch daran denken, mehr Segel zu setzen. Die Reefen waren schon lange ausgeschüttelt, d. h. die unteren Segel, die man im Sturm eingebunden hatte, wieder zu ihrer vollen Größe ausgespannt, und die Bramsegel, die dritten von unten, gesetzt worden. Da der Wind aber immer günstiger wurde, tönte des Capitains Befehl über Deck, die oberen Leesegel – kleine Segel, die rechts und links von den großen gestellt werden können und dort an den von den Raaen ausgeschobenen Spieren festsitzen – aufzuziehen, damit sie das kalte Wetter und die rauhe See, die jeden Fischfang verhinderte, bald hinter sich ließen. Das Tauwerk dazu war aber noch nicht in Ordnung, und einer der Leute, ein junger Schotte und der beste, keckste Matrose an Bord, wurde nach oben geschickt, das »Fall«, wie die dünnen Taue genannt werden, durch den obern Leesegel-Block Diese Blöcke haben Scheiben oder Rollen, über welche hin die Taue laufen, um die schweren Segel und Raaen besser aufziehen und bewegen zu können. zu ziehen.

James, wie der junge Bursche hieß, lief wie eine Katze an den Wanten (Strickleitern) hinauf, bis zur Marsraae, um an deren äußerster Spitze das dünne Fall, (dessen Ende er sich vorn in den Gürtel geschoben hatte, um beim Hinauflaufen die Hände frei zu haben) durch den bezeichneten Block zu bringen. Das aber war auch gefroren und schief gebogen, und er mußte es ein paar Mal gegen die Raae schlagen, um es geschmeidig zu machen, und das Eis davon zu entfernen. Ganz unbekümmert lag er dabei, nur mit den Füßen auf dem ausgespannten Taue stehend, mit dem Oberkörper gegen die Raae an, beide Hände bei seiner Arbeit frei gebrauchend, und Carl bewunderte staunend die kaltblütige Ruhe des jungen Burschen, der in der schwindelnden Höhe, während er durch das Schaukeln des Schiffes herüber und hinüber geworfen wurde, so behaglich lehnte, als ob er die Arbeit unten auf dem sichern Deck verrichtet hätte.

Jetzt war das Tau soweit in Ordnung, und James bog sich wieder hinaus, den Block einzunehmen und mit der linken Hand soweit herüber zu bringen, daß er ihn mit dem in der rechten gehaltenen Fall erreichen konnte. Aber der Block war ebenfalls von dem aufspritzenden Staub der Wellen mit Eis überzogen und glatt, und rutschte ihm wieder aus der Hand.

»Nun, mach' rasch da oben!« rief ihm der erste Harpunirer zu, »was trödelst Du denn eine Ewigkeit?«

»Ay, ay, Sir!« rief der Mann mit der seemännischen Antwort nieder – »verwünscht glatt Alles – wird gleich gethan sein!«

Wieder bog er sich seitwärts über, den hin und her schwingenden Block zu ergreifen, als ihm der linke Fuß auf dem spiegelglatten Tau ausglitt; mit rasch erschlossenem Griff fuhr der Matrose unwillkürlich nach dem ihm nächsten steifgefrorenen und hoch ausgebogenen lockern Tau, das er selber mit herauf gebracht, und ergriff es, statt der festen Raae, um sich zu halten.

»Habt Acht da oben!« schrie der Harpunirer, und beide Arme des Unglücklichen haschten nach der Raae und klammerten sich krampfhaft an diese an. Aber schon zu weit hatte der schwere Körper das Uebergewicht bekommen; die kalten steifen Finger konnten das glatte Holz nicht mehr halten, und noch vergebens nach dem Block greifend, den er zwar erreichte, der ihm aber auch unter dem Griff entglitt, stürzte der Mann von der Raae ab, und da das Schiff in diesem Augenblicke gerade nach rechts schwer überholte, in die gierig aufzüngelnde See.

»Ein Mann über Bord!« ging der Schreckensschrei durch das ganze Schiff; die Leute, die nach vorn im »Logis«, dem Schlafplatz der Matrosen, oder im Zwischendeck waren, kamen auf Deck gestürzt, und Carl, dem das Blut vor Angst und Entsetzen zu Eis erstarrte, war mit einem Sprung an der Reiling drüben, um zu sehen, ob er dem Verlorenen nicht Hülfe bringen könne.

Der Harpunirer hatte gleich mit dem ersten Griff einen neben ihm liegenden Kajütskittel über Bord geworfen, daß sich der Schwimmende darauf über Wasser erhalten könne, und die Leute, die der erste Blick überzeugte, daß der Kamerad schon aus Tauwurfs Nähe fortgeschwemmt sei, sammelten sich fast instinctartig an ihren verschiedenen Bootstationen, den Befehl erwartend, die Boote überzulassen, wenn sie gleich selber gut genug wußten, wie erfolglos dies gewesen wäre. Ein Boot konnte in der See da draußen gar nicht leben, die überstürzenden riesigen Wogen hätten es augenblicklich gefüllt, und die Mannschaft ebenfalls dem Verderben geweiht, wäre es auch wirklich möglich gewesen, es nur selbst niederzulassen. Die Augen der Mannschaft hingen dabei in stummem Entsetzen an dem seinem Untergange geweihten Kameraden, der, in wilder Verzweiflung im Wasser und mit den Wogen kämpfend, die schweren wollenen Kleider von sich warf, und, den Arm in die Höhe hebend, den gellenden, Mark und Bein durchschneidenden Hülferuf dem Schiffe nachschickte.

»Da kommen die Vögel!« rief da der erste Harpunirer erschreckt; »armer James – das ist fürchterlich!« – und er hatte nur zu sehr Recht, denn die Albatrosse und Boobys, die Captauben und Seeschwalben, die das Schiff bis dahin einzeln und in Schaaren umschwärmt, sammelten sich über dem Schwimmenden und dem ausgeworfenen Lukendeckel in immer engeren Kreisen, und stießen nieder nach dem ihnen verfallenen Opfer.

»Hülfe!« gellte es noch einmal von dort herüber, und der Schrei klang so geisterhaft, als ob er aus den Wolken käme – aber nur das gellende Kreischen der Albatrosse antwortete ihm, die mit den gierigen, eisenharten Schnäbeln nach der willkommenen Beute niederhieben, während die kleineren Vögel, Captauben und Seeschwalben, ärgerlich und neidisch über sie hinschossen, und doch die stärkeren Kameraden nicht fortscheuchen konnten von dem gefundenen Mahl.

Der Capitain, der bei dem Schrei »Mann über Bord!« ebenfalls an Deck gesprungen war, wandte sich schaudernd und schweigend ab, und stieg langsam wieder in die Kajüte hinunter! auch die Offiziere wendeten sich ab von dem entsetzlichen Schauspiel – Hülfe zu bringen, war ja doch unmöglich. Es war, als ob das Schiff selber drängte, von dem Platze fortzukommen, so brauste und schäumte es jetzt durch die Wogen, und bald konnte man nur noch in weiter Ferne die Stelle der dunklen Masse der Vögel erkennen, die sich dort gesammelt hielten.

»Bringe das Tau nach oben durch den Block,« schallte da wieder, so ruhig als vorher, der Ruf des Harpunirers über Deck, einen zweiten Mann an dieselbe Stelle hinauszuschicken, von der vor wenigen Minuten der unglückliche Schotte herabgestürzt war, und ein anderer der Leute lief nach oben, den Befehl zu erfüllen. Carl zitterte dabei in Todesangst, auch Diesen dasselbe Schicksal theilen zu sehen. Der Mann aber, vorsichtig gemacht durch den Fall des Kameraden, trat nicht so keck wie Jener auf, brachte das Fall in den Block, zog es durch und wand es sich dann selber um den Ellbogen, um gegen jeden weitern Zufall geschützt zu sein. Einmal hielt er noch, ehe er wieder herunterstieg, und warf einen scheuen Blick zurück – aber es war auch nur ein Moment; er durfte sich da oben das Auge nicht unklar machen durch das Schreckensbild, und rasch und vorsichtig kletterte er an Deck zurück.

Auf Carl hatte dieser Unglücksfall einen furchtbaren Eindruck gemacht, den er in seinem ganzen künftigen Leben nicht vergessen konnte, und den selbst die späteren Jahre nur wenig schwächten. So gräßlich schnell war das Ganze vor seinen Augen geschehen: ein Mensch, der erste, den er sterben sah, war in der Fülle der Gesundheit und Kraft in Tod und Verderben, und auf so entsetzliche Art, hineingerissen worden, daß es ihm immer war, als ob das gar nicht möglich sein könne, als ob Gott nicht so Fürchterliches über eines von seinen Kindern verhängen sollte. Und die kalte Ruhe der übrigen Mannschaft dabei; es konnte ja wol sein, daß sie eben so tief ergriffen von dem Tode des Kameraden waren als er selbst, aber kein Blick, keine Miene verrieth dies wenige Minuten später. Der Harpunirer hatte einen zweiten Mann zu derselben Stelle hinaufgeschickt, von welcher der Unglückliche herabgestürzt war, als ob Dieser nur eben mit einer andern Arbeit beschäftigt gewesen wäre, und nicht vielleicht noch in demselben Augenblicke, aus seinen Wunden blutend, gegen die gierigen, erbarmungslosen Vögel ankämpfte. Waren Alle hier so gleichgültig gegen ein Menschenleben, das nicht allein sich selber, nein, das auch ihnen angehörte? und galt der Mensch mit seinen Tugenden und Fehlern hier so gar Nichts mehr, wie nur als Hand, die eben die nöthige Arbeit that?

Es ist das so im Leben draußen, junger Freund. – So lange wir im Kreise unserer Familie stehen, wo jedes liebe Haupt uns theuer ist, wo herzliche Liebe die einzelnen Glieder vereint, treue Sorgfalt über dem Kranken wacht, und der Tod, der da hineingreift und sich sein Opfer holt, sie Alle schwerer zu treffen scheint, als gerade den Geschiedenen, so lange wissen wir nicht, wie draußen die Welt geht, haben keine Ahnung von dem wilden, rücksichtslosen Drängen und Treiben, mit dem das Menschenvolk dem eigenen Ziele entgegendrängt. Wer unter die Füße kommt, ist verloren; die hinter ihm kommen, treten erbarmungslos über ihn hinweg; hilft er ja doch vielleicht, sie selber etwas höher hinauf zu bringen, und was da abfällt und zu Grunde geht – wer soll's vermissen?

Ein Mensch stirbt – wie ein Fingerhut voll Wasser ist es, den Du dem Meere entnimmst; zeigt Dir der nächste Augenblick die Stelle, die es eingenommen? – ist ein Fleck etwa geblieben, auf dem es fehlt? – Nein; es ist verschwunden und die Fluth rollt noch eben so tief, so glatt an jener Stelle, wie vorher. Werden wir älter, so lernen wir selbst diesen Gleichmuth wie die Anderen auch, aber das junge Herz quält und ängstigt sich darnach, und hält oft für Kaltsinn, für Gemüthlosigkeit, was eben doch nur das Bewußtsein ist, Nichts ändern zu können an dem Geschehenen. Die Zeit rollt weiter, neue und immer neue Opfer fordernd, wer kann der alten da lange gedenken?!

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