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Wie Carl gegen das Gebot seines Vaters handelte, und was ihm da begegnete.
So waren volle acht Tage vergangen, und die Seebäder der Madame Hollberg so vortrefflich bekommen, daß Herr Hollberg beschloß, noch nicht zurückzukehren, und wenn es sein müßte, selbst vierzehn Tage zuzugeben. Carl jubelte darüber. Vom herrlichsten Wetter begünstigt, konnte er alle Tage hinausfahren mit Jahn, den sein Vater in der That auf gewisse Stunden des Tages für ihn gemiethet hatte, und in Jahn's eigener Bequemlichkeit lag es, dem jungen Burschen, der sich nie glücklicher als bei solcher Beschäftigung fühlte, das Segeln und Steuern ganz allein zu überlassen. Jahn lag dann behaglich ausgestreckt im Boote, kaute sein Priemchen Tabak, und spritzte den braunen Saft leewärts über Bord, oder rauchte auch aus einem kurzen Pfeifenstummel einen nichts weniger als wohlriechenden Tabak, und erzählte dann dem jungen, ihm aufmerksam zuhörenden Knaben, neben den nach eigener Phantasie ausgeschmückten Berichten fremder Welttheile, neben den Schilderungen von Seegefechten und Schiffbrüchen, ebenfalls von den Sagen, die diesen Meeren eigenthümlich sind, von der versunkenen Stadt, die tief unten im Wasser liegt und von der man, wenn das Wasser ganz ruhig ist, noch manchmal die Kirchthurmspitze mit der blinkenden Wetterfahne sehen, oder das Läuten der Glocken hören kann, wenn die alten versunkenen Geschlechter da unten in die Kirche gehen; von dem Klabautermann, der auf deutschen Schiffen unten im Raume sitzt und arbeitet und wirthschaftet, und den Schiffer warnt, wenn Gefahr droht, mit dem Stauholz unten wirft, wenn das Schiff im Hafen liegt und bald Ladung bekommt, und bei ihm aushält bis zum letzten, das Fahrzeug aber verläßt, wenn es seinem Untergange nicht mehr entgehen kann.
Carl lauschte ungemein gern diesen kleinen Sagen, die Jahn mit einem gewissen trockenen, ihm besonders eigenen Humor vortrug. Am liebsten hörte er aber doch von den Fahrten in fremden Meeren, und besonders von der Entdeckung neuer Inselgruppen erzählen, von denen Jahn im Stande war, ihm die fabelhaftesten Berichte zu liefern. Auf einer seiner Wallfischfahrten wollte er da vor Jahren mit seinem Schiffe unter Anderem auch in eine Inselgruppe hineingekommen sein, die noch auf keiner Karte angegeben stand. Sie waren mit dem Schiffe damals verschlagen worden und in eine Region gerathen, die von den Capitainen gewöhnlich ängstlich gemieden wird, weil dort stete, heftige und undurchdringliche Nebel herrschen, was das Fahren zwischen den vielen Korallenbänken natürlich ungemein gefährlich machte. Als sie so eines Morgens, mit zwei Leuten vorn auf der Bank und einem im Top des Fockmastes, fortwährend nach etwa drohenden Gefahren auszuschauen, unter ganz dicht gereeften Segeln langsam dahinfuhren, ragten plötzlich, kaum zweihundert Schritt von ihnen entfernt, hohe wundervolle Palmen aus dem Nebel heraus. Die Leute vorn schrieen; der Mann, der am Ruder stand, mußte das Schiff augenblicklich dicht an den Wind drehen, daß es fast still lag, und das Senkblei wurde geworfen, um zu sehen, ob sie und wie tiefen Grund sie hätten. Auf achtzig Faden Ein Faden beträgt sechs englische Fuß oder zwei yards. fanden sie aber keinen Boden, wie das zwischen den oft viele hundert Fuß senkrecht aufschießenden Korallen auch gar nichts Ungewöhnliches ist, und die Strömung fing schon an sie gegen das Land zu setzen, das immer deutlicher und klarer aus dem Nebel hervorkam und jetzt schon so dicht vor ihnen lag, daß man hätte mit einer Büchse nach den nächsten Bäumen schießen können, bis sie das Schiff wieder so weit in ihre Gewalt bringen konnten, langsam am Ufer hinzulaufen, um einen Ankerplatz zu finden.
Dies gelang endlich, der Anker rollte in die Tiefe, und vom Lande ab kamen jetzt eine Anzahl Canoes mit freundlichen, wunderschönen Menschen darin, die grüne Zweige schwangen, und ihnen die herrlichsten, saftigsten Früchte herüberbrachten. Sie trugen dabei schöne goldene Ringe um Hände und Füße und echte Perlen um den Hals, und lachten und sangen und waren guter Dinge, mischten sich auch vertrauungsvoll und freundlich zwischen die Schiffsmannschaft, und schienen kein Arg zu kennen; – doch ans Land wollten sie die Boote nicht lassen: das sei, wie sie ihnen durch Zeichen sagten, wider ihre Gesetze. Nur wenn ein Einzelner mit ihnen kommen wollte, der dürfe sich die Insel besehen und so lange bleiben, als er wünsche, Mehrere aber nicht. Jahn hatte nun gern von der Erlaubniß Gebrauch machen wollen, aber der Capitain war zu ängstlich dazu – er fürchtete, daß doch vielleicht ein Hinterhalt gelegt werden könne, und da er wenig Mannschaft hatte, so mochte er keinen seiner Leute daranwagen. Auf der nächsten Fahrt beschloß er aber mit mehr Menschen zurückzukehren und dann den Versuch zu machen; Gold und Perlen tauschte er indessen ein gegen alte Nägel und Tabak, gegen bunten Kattun, Beile, Sägen und andere Sachen von sehr geringem Werthe.
Die Insulaner sagten ihm dabei, daß dort noch viele solche Inseln umherlägen, fast immer außen von dickem Nebel umgeben, während am Lande bei ihnen das schönste klare Wetter sei, und der Capitain beschloß, jetzt noch eine davon aufzusuchen, wo sie ihm vielleicht mit der Landung keine solchen Schwierigkeiten in den Weg legten. Als sie aber ihren Anker gehoben hatten und ein Stück in den Nebel hineingesegelt waren, kamen sie zwischen lauter nackte Korallenriffe, aus denen sie ihren Weg kaum wieder hinaus finden konnten, und sie mußten zuletzt froh sein, wieder offene See zu erreichen.
Auf der zweiten Reise hatten sie zwei volle Monate damit versäumt, die Inseln wieder zu finden, doch vergebens; sie waren wie in das Meer zurückgesunken, und ihre wirkliche Entdeckung blieb einem spätern Seefahrer vorbehalten.
Carl hatte mit der gespanntesten Aufmerksamkeit diesem Berichte, den Jahn jedenfalls nur eben zu seiner Unterhaltung erfunden, gelauscht, und das Herz schlug ihm ordentlich ängstlich vor Ungeduld und Sehnsucht, dahin aus zu fahren und solche Plätze aufzusuchen in der Welt. Lieber Himmel, täglich fuhren Schiffe weit in die Welt hinein, das Wunderbarste zu sehen und zu erleben, und er, er allein mußte zurückbleiben, und sollte jetzt sogar wieder in das innere Land zurück, um zu schreiben und zu rechnen sein Leben lang.
Als er an diesem Abend mit Jahn nach Hause fuhr, war er so still und traurig geworden, daß es selbst seinem Vater auffiel, und dieser ihn fragte, was er habe. Nur die Mutter meinte, das viele draußen auf dem Wasser Herumfahren schade dem Knaben, er würde sich einmal recht ordentlich erkälten und ernstlich krank werden. Viel besser wäre es, wenn er auf dem festen Lande bliebe; was hätte er denn auch davon, ewig auf dem schaukelnden Salzwasser herumzuschwimmen?
Carl dachte freilich anders, und je mehr die Zeit heranrückte, wo sie wieder an den Aufbruch denken sollten, desto mehr trieb es ihn hinaus, jeden freien Augenblick für seine Lieblingsfahrten zu benutzen, die ihm ja überdies nun so bald ganz und gar genommen werden sollten.
Besonders streng war es ihm übrigens von seinem Vater, der in den letzten Tagen durch ein leichtes Unwohlsein an das Zimmer gebannt worden, untersagt, je allein mit seinem Boote in See hinauszufahren, da er mit Wind und Strömung noch lange nicht so Bescheid wisse, das ohne Gefahr thun zu können. Ein Unglück war dann leicht geschehen, wenn das Geringste nur vorfiel, und wenn auch wirklich nicht, so hätten die Aeltern doch immer Angst und Sorge um ihn gehabt. In des alten Matrosen Gesellschaft, der mit dem Wasser hier genau bekannt war, wußten sie ihn dagegen sicher aufgehoben, und er mochte dann sein Vergnügen haben und draußen herumfahren, so lange es ihm Freude machte.
Carl war seelensgut und seinen Aeltern auch folgsam, aber doch auch etwas leichtsinnig, wenigstens unbedacht, und überließ am liebsten dem Augenblick, für sich zu sorgen; was dann kam, mochte eben kommen. Nichts desto weniger hatte er doch nicht gewagt, des Vaters Gebot zu übertreten, so sehr es ihn auch trieb, seine Kraft einmal allein auf dem Wasser draußen zu versuchen. Jahn war sein steter Gesellschafter und schon fast unzertrennlich von ihm geworden.
Da überraschte ihn sein Vater eines Tages mit der Schreckensnachricht, daß er heute würde zum letzten Male sein Boot benutzen können, da sie mit dem ersten, morgen früh abgehenden Dampfboote wieder nach Hamburg zurückkehren würden. Es sei überhaupt Zeit, daß er eine feste Beschäftigung bekomme, und von der See hätte er doch nun gewiß genug gesehen.
Einem Donnerschlage aus heiterem Himmel gleich traf ihn der Befehl, sich auf den nächsten Morgen reisefertig zu halten, und wie im Traume stieg er an den Strand hinunter, um von seinem Boote, von seinem alten Jahn heute – lieber Gott, vielleicht auf immer – Abschied zu nehmen. Die Knie zitterten ihm ordentlich, als er die Treppe niederstieg, und die großen hellen Thränen standen ihm dabei so voll in den Augen, und quollen ihm immer und immer wieder vor, so oft er sie auch abtrocknete, daß er anfing, sich vor den ihm begegnenden Leuten zu schämen, und sich nun gewaltsam zusammen nahm, wenigstens keine nassen Augen mehr zu haben. Aber recht traurig und betrübt sah er doch dabei aus.
Es war heute noch vor der gewöhnlichen Zeit, zu der er mit Jahn immer hinausfuhr, und er fand Diesen auch nicht an seinem alten Platze. Eine Weile suchte er nun den Strand, an dem sein kleines Boot lag, auf und ab, aber von Jahn war keine Spur zu finden, und einer der anderen Fischer sagte ihm endlich, er glaube, Jahn sei heute Morgen mit zwei anderen Herren in seinem großen Boote weit hinaus in See gefahren, müsse aber jedenfalls bald wieder zurückkehren, da ja Mittagszeit schon vorüber sei.
Carl ging langsam wieder zu der Stelle zurück, auf der sein Boot lag, und sah dann nach, wo Jahn gewöhnlich, ehe sie abfuhren, sein Segel und sein Ruder am Strande aufbewahrte. Diese lagen an ihrer gewöhnlichen Stelle, ein Zeichen, daß der alte Matrose ihre tägliche Fahrt nicht vergessen hatte – aber daß er auch heute gerade so lange blieb! Ein paar Boote waren wol in Sicht, ohne Fernglas konnte er aber nicht unterscheiden, ob sich sein alter Freund auf einem von diesen befand, und er setzte sich indessen, den Kopf in die Hand stützend und traurig hinaus auf die See schauend, in sein Boot, die Rückkehr des Matrosen abzuwarten.
Aber der kam nicht. – Eine volle Stunde mochte er so gesessen haben und die Sonne ging merklich dem Abend zu, als ein anderer Bootsmann, der eben mit einem Kahne gelandet war, und Segel und Ruder auf der Schulter trug, um damit an Land hinaufzugehen, an ihm vorbei kam. Er kannte Karl und blieb neben ihm stehen.
»Nun, junger Herr,« redete er ihn freundlich an, »so allein hier noch auf dem Trockenen? Jahn hat Sie wol heute sitzen lassen?«
»Ich warte schon so lange auf ihn,« sagte Carl – »können Sie nicht mit mir hinausfahren, ihn zu suchen?«
»Ich kann gerade heute nicht,« erwiderte der Mann, »denn ich muß meine Netze heute Abend zurecht machen, weil wir morgen fischen gehen wollen; aber ich müßte mich sehr irren, wenn ich Jahn nicht in dem Boote gesehen hätte, das da draußen, mit dem Segel nieder genommen, auf dem Wasser treibt und ein Netz ausgeworfen hat. Wenn Sie Ihr Boot nähmen und einmal hinüber führen, könnten Sie sich gleich selber überzeugen.«
»Ich darf nicht allein fahren,« sagte Carl.
»Das ist etwas Anderes,« meinte der Mann; »dann müssen Sie freilich warten, bis Jahn zurückkommt; es sieht aber noch nicht so aus, als ob Der so bald da draußen fertig werden würde. Außerdem,« setzte er mit einem Blick nach dem nördlichen Horizont hinzu, »sieht der Himmel da hinten denn auch nicht besonders aus, und es könnte wol sein, daß wir nach Sonnenuntergang ander Wetter kriegten.« Mit freundlichem Gruß rückte er sich dann das Segel und die Ruder auf der Schulter zurecht, und ging langsam seinen Weg entlang.
»Wenn ich nun hinausführe – nur zu dem Boote dorthin, das ich in zehn Minuten erreichen kann,« dachte Carl. »Ist es Jahn, so kommt er mit zu mir ins Boot, und ich kann Abschied von ihm nehmen, und ist er's nicht, dann rudre ich geraden Wegs wieder hieher zurück. Wie oft hab' ich das schon gethan, während Jahn im Boote lag und nach dem Himmel hinauf sah; Gefahr ist ja doch nicht dabei. Aber der Vater« – dachte er dann wieder – »hat es mir so streng verboten.«
Wieder zögerte er – Jahn kam doch vielleicht noch, und er brauchte das bis jetzt so brav gehaltene Gebot nicht am letzten Tage zu übertreten. – Aber Jahn kam nicht; das Boot da hinten lag still und regungslos auf dem Wasser, und jetzt war es ihm fast, als ob Jemand von dort mit einem Tuche herüberwinkte.
Des Vaters Verbot stand dem Knaben noch immer wie ein guter Engel zur Seite, und warnte ihn; – wenn er nun hinauflief und den Vater um Erlaubniß bat? Aber der hielt um diese Zeit immer noch sein Mittagsschläfchen, und die Mutter hätte gewiß nein gesagt – sie war so ängstlich, und dachte sich das Wasser immer so entsetzlich gefährlich, ja, sie hatte im Anfange nicht einmal darein willigen wollen, daß er es selbst in Begleitung Jahn's und ohne Aufsicht des Vaters befuhr, und selbst dann nur gemeint, daß er immer ganz dicht um die Insel herumsegeln sollte, wo er, wenn das Boot umschlug, doch festen Boden und kein tiefes Wasser hatte. Ueberdies konnte er schwimmen wie ein Fisch, wenn ja Etwas vorfiel – aber was sollte vorfallen auf der ruhigen See, auf dem stillen Wasser?
Anstatt sich einfach an das Verbot zu halten, das ihm sein Vater gegeben, der es ja immer so gut mit ihm meinte, und ihm ein unschuldiges, unschädliches Vergnügen noch nie versagt hatte, fing er schon an zu überlegen, daß es doch keine üblen Folgen haben könnte, wenn er es – nur dieses einzige Mal – überträte. Es war ja überdies der letzte Abend, den sie auf Helgoland zubrachten, der letzte Abend an dem er überhaupt hoffen durfte, die See zu befahren, und sollte er nicht einmal Abschied nehmen von den klaren, durchsichtigen Wellen da draußen, die ihn so oft geschaukelt? »Das ist etwas Anderes,« hatte freilich auch der Fischer gemeint, als er ihm gesagt, daß es ihm sein Vater verboten habe; – Dieser war also auch nicht damit einverstanden, daß er allein hinausfuhr; – aber Gefahr konnte nicht dabei sein, sonst würde er es ihm nicht selber angerathen haben, und die dunklen Wolken da hinten im Norden – ei, die schadeten ja Nichts – die lagen schon den ganzen Nachmittag eben so still und regungslos dort am Horizont, und waren noch keine Elle höher gestiegen, so lange er jetzt hier am Wasser saß. Bis die heraufkommen konnten, war er lange dort gewesen, Jahn in sein Boot zu nehmen.
Aber vielleicht kommt er doch noch, sagte er dabei, während er sich jetzt Ruder und Segel in das Boot trug und Alles zurecht machte, dann wenigstens augenblicklich abfahren zu können – vielleicht kommt er doch noch, und stieg dann in das Boot, schob es in tiefes Wasser hinaus und fuhr endlich damit langsam dicht am Strande hinauf. Das hätte ihm sein Vater auch wol erlaubt, denn das hieß eigentlich noch gar nicht fahren – er machte das Boot nur flott.
Wie herrlich es sich aber heute Abend auf dem Wasser segelte! wie sanft und doch so kräftig der leichte Wind war, der das kleine weiße Segel so lustig ausblähte, und die grüne, durchsichtige Fluth den Bug vorn umplätschern ließ! Wie das tanzte und sprang, und mit scharf angespanntem Tuch wie eine Möve über die blitzenden funkelnden Wellen flog! – und heute zum letzten Mal! – Carl hatte noch nie, so oft er schon gefahren, solche Lust an der fröhlichen Fahrt gehabt, wie heute Nachmittag – und Jahn kam noch immer nicht. Er war jetzt um einen Theil der Insel herumgefahren und an die Westseite derselben gekommen, wo ihm das Fischerboot, das er für Jahn's Boot hielt, gerade gegenüber, und wie es ihm vorkam, nur eine ganz kurze Strecke entfernt lag.
»Dort hinüber lauf' ich,« dachte er endlich, »es ist ja das allerletzte Mal, und wenn ich wieder zurückkomme, geh' ich gleich selber zum Vater hinauf, und sage ihm, daß ich sein Verbot heute übertreten habe und weshalb. Er wird es mir gewiß verzeihen.«
Der erste Schritt zum Ungehorsam war überdies schon geschehen, das Verbot war schon übertreten, wie er nur das Boot von der Landung löste, und wir finden nur zu häufig im Leben, daß sich die Folgen meist wie eine Kette um unsere Füße hängen, an die sich Glied nach Glied reiht, bis wir – zu spät – bereuen, und dann wol viel, entsetzlich viel darum geben möchten, eben wieder nur den ersten kleinen Schritt ungeschehen machen zu können.
Carl war einmal unterwegs – der Bug seines kleinen Fahrzeugs drehte sich fast wie von selber nach außen, das Segel flog herum, und hei! wie das durch das Wasser schoß und schäumte, und ihm die kleinen, klaren, spritzenden Perlen ordentlich vorn über den scharf geschnittenen Bug weg hinein ins Boot warf! Dem Fischerkahn rückte er dabei immer näher, wie er die Insel hinter sich ließ, und in wenigen Minuten konnte er ja, wenn er Jahn dort nicht traf, wieder zurück am festen Lande sein. Er brauchte nicht einmal dabei zu rudern, denn die leichte Brise kam gerade von Norden herunter und ließ ihn mit Leichtigkeit hin und zurücksegeln – solch guten Wind hatten sie lange nicht zu ihrer Fahrt gehabt.
Jetzt hatte er das Fischerboot fast erreicht, und hielt zu windwärts daran auf, um sich ohne Schwierigkeit dicht an Bord legen zu können. Er wußte mit dem Boote fast so gut umzugehen wie der alte Jahn, und Der hatte ihn selbst schon oft deshalb gelobt, und dabei gesagt, es sei jammerschade, daß so ein junger flinker Bursch, der sich so anstellig zeige, eine Landratte werden solle, und dem freien Meere dem Rücken wieder zudrehen wolle. Wolle? – Carl seufzte dabei tief auf, denn auf seinen Willen kam es ja gar nicht an. Hatte sein Vater nicht darauf bestanden, daß er erst etwas Ordentliches lernen solle, ehe er in die Welt ginge, weil ihm nachher alle Thüren offen ständen, und, um das gerade zu thun, sollte er jetzt nicht wieder zurück in die dunkle Schreibstube nach Hannover? –
Das kleine Fahrzeug schoß indessen an das Fischerboot hinan, – aber Jahn saß nicht darin – es waren drei fremde Gesichter, Leute von Helgoland zwar, die er aber nicht kannte, und er wollte nach kurzem Gruß sein Boot eben wieder wenden, und über den andern Bug zurück nach der Insel segeln, als Einer der Leute, der ihn wahrscheinlich schon oft mit dem Kameraden zusammengesehen hatte, zu ihm hinüberrief:
»Suchen Sie Jahn, junger Herr?«
»Ja, allerdings – ich glaubte er wäre im Boote.«
»Nein, doch ist er kaum vor einer halben Stunde dort hinüber gehalten,« sagte der Mann wieder; »es war noch Einer von uns bei ihm zum Rudern, und zwei fremde Herren, ein alter und ein junger – da hinten können Sie das Boot noch sehen. Sie wollten, glaub' ich, Seehunde schießen.«
Seehunde schießen – oh! das zu sehen hatte er sich schon lange gewünscht – und das da drüben war gewiß das Boot.
»Das ist das Boot, darauf können Sie sich verlassen.«
»Ja aber, wenn ich wie Sie wäre, führ' ich nicht nach,« sagte einer der anderen Fischer, ein Mann etwa in Jahn's Alter. »Die sind schon tüchtig nach leewärts gesetzt, daß sie nachher richtig aufkreuzen müssen, und da drüben am Himmel sieht die Geschichte auch faul aus. Wenn wir kein Wetter kriegen, giebt's wenigstens mit Sonnenuntergang einen tüchtigen Nebel, und vielleicht wissen Sie doch nicht so recht mit dem kleinen Ding da umzugehen.«
»Ach, Der kann segeln wie ein Alter,« lachte der Erste wieder, »und das kleine Ding liegt so dicht am Wind wie ein Schooner. Wenn Sie sich aber fürchten hinauszufahren, so drehen Sie lieber wieder um.«
Carl wußte nicht, was er thun sollte – dort drüben fuhr sein alter Jahn, und da sollten Seehunde geschossen werden – was hätte er nicht darum gegeben, das zu sehen! und fürchten? wer sagte denn dem alten Fischer, daß er sich fürchtete in die See hinauszufahren? das durften die Leute doch wahrhaftig nicht von ihm glauben, er hätte sich ja sonst vor ihnen schämen müssen. Noch zögerte er einen Augenblick, noch sprach sein Gewissen lauter als die Luft an der fröhlichen Fahrt, aber – es dauerte nicht lange; seinen Bug drehte er dem fernen Boote zu, und hielt, ohne ein Wort weiter zu sagen, dort hinüber.
Er hätte sich sonst vor ihnen schämen müssen, dachte er, aber eine solche falsche Scham hat schon entsetzlich viel Unheil angerichtet. Es ist etwas sehr Schönes und Ehrenwerthes im Charakter eines Knaben, sich nicht zu fürchten, und nicht feige der geringsten Gefahr, die oft nicht einmal eine Gefahr ist, aus dem Wege zu gehen. Der Knabe, der schon in der Jugend so entsetzlich ängstlich und schüchtern ist, bei der geringsten Beleidigung von seines Gleichen nur damit droht, es seinem Vater oder seiner Mutter zu sagen, und sich gar nicht ein klein wenig auf sich selber verlassen kann, der muß recht tüchtig an sich arbeiten, wenn er das sogar später im Mannesalter überwinden will, und für einen Mann giebt es nicht viel häßlichere Dinge, als feige zu sein. Aber gefährlich ist für ihn dabei die falsche Scham, und es gehört schon ein wenig Charakterfestigkeit dazu, derselben immer aus dem Wege zu gehen und die rechte Bahn zum Handeln zu wählen. Die Aeltern sind immer die besten Freunde des Kindes, das sollte dieses nie vergessen. Der Aeltern ganze Sorge und Angst, ihr ganzes Leben ist meist dem Ziele geweiht, ihre Kinder, in denen sie die eigene Jugend wieder aufblühen, in denen sie den Trost und die Freude ihres eigenen Alters sehen, zu braven, tüchtigen, rechtschaffenen Menschen heranzuziehen. Welchen Dank verlangen sie weiter als sie glücklich zu wissen, und wie überreich fühlen sie sich belohnt, wenn sie das erreichen! Sie selber haben dabei die Erfahrung eines ganzen Lebens auf ihrer Seite – das Kind schaut aber erst in die Welt hinein und bedarf noch, wie der junge, ausgepflanzte Baum, der einmal Früchte tragen soll, einen starken Stab, der ihn stützen und halten kann. Ist er einmal stärker und kräftiger und älter geworden, dann steht er auch allein und sicher ohne diesen Schutz; wollte er ihn aber vor der Zeit abwerfen, so wäre er dem Wind und Wetter preisgegeben, und wenn ihn das auch wirklich nicht ganz knickte und tödtete, so würde es ihn doch in vielen Fällen niederbeugen und verkrüppeln, und um den freien schlanken Wuchs, durch den der Saft in alle Pore und Zweige treten kann, wär' es dann geschehen. Wenn deshalb die Aeltern, die der Stab des jungen, schwanken Stammes sind, ein Verbot geben, so thun sie es, weil sie der festen Ueberzeugung sind, daß die Uebertretung desselben dem Kinde schaden würde. Und schadete es ihm wirklich nicht, geschähe es auch, daß sie die Angst und Noth umsonst gehabt, so sollten sie doch wol schon um das Kind verdient haben, daß dieses ihnen folgte, wäre es auch wirklich nur um ihnen Sorge zu ersparen, ihnen keinen Schmerz zu machen. Wer die Kinder deshalb in der Bahn vom rechten Weg verlocken will, ist nicht ihr Freund, und thut er es absichtlich, auch kein guter Mensch, an dessen Urtheil ihnen gewiß nicht so viel gelegen sein sollte, als an dem Bewußtsein, ihren Aeltern Freude gemacht zu haben. Es ist ja doch nur ein ganz kleiner winziger Theil, den sie von ihrer Schuld gegen die Aeltern abtragen können, und das Einzige in der weiten Gotteswelt, durch das sie im Stande sind, denselben ihre Dankbarkeit zu beweisen.
Carl's Leichtsinn machte ihn das aber Alles vergessen, oder ließ ihn vielmehr gar nicht daran denken. Die Leute hier, ihm ganz fremde Menschen, sollten nur nicht glauben, daß er sich vor dem Wasser fürchte, und die falsche Scham artete dabei in einen falschen Ehrgeiz aus, seinen Muth zu zeigen.
In der Verfolgung des fernen Bootes hatte er aber weder darauf geachtet, daß dieses immer mehr mit dem Winde nach leewärts ging, noch daß sich auch wirklich, wie es der alte Schiffer vorhergesagt, ein dünner, feuchter Dunst über das Wasser legte, der ihn allerdings noch das Boot vor sich und die Insel hinter sich deutlich erkennen ließ, der aber auch mit jeder Minute stärker werden konnte, während er selber schon, ohne sonderlich darauf geachtet zu haben, so weit nach Süden gesetzt war, die Insel schon gar nicht mehr mit Segeln allein erreichen zu können. Allerdings hatte er die Ruder im Boote liegen und wußte mit ihnen umzugehen, eine lange Strecke war er aber auch noch nie damit gefahren, denn wenn seine Arme müde wurden, so löste ihn sonst Jahn im Fahren immer ab. Jetzt aber dachte er gar nicht an den Rückweg, nur an das Boot vorn, das aber auch immer ungewisser und dunkler in dem Nebel wurde und auf einmal, als er gerade Etwas an seinem Segel zu thun hatte, das seine Aufmerksamkeit auf einige Minuten in Anspruch nahm, und dann wieder aufschaute – war es ganz verschwunden.
Jetzt überlief ihn doch ein ganz eigenes, wunderliches Gefühl und er sah sich zum ersten Male wieder nach der Insel um, dahin lieber zurückzukehren, ehe er mitten in den Nebel hineinführe. Aber, hilf Himmel! Helgoland war ebenfalls verschwunden – ein dicker Nebel lag auf der ganzen Oberfläche des Meeres, und die weißen trüben Schwaden wälzten sich, Wolken gleich, immer dichter und undurchdringlicher zusammen.
Noch hielt Carl, dem das Herz rasch und ängstlich pochte, unschlüssig was er thun solle, die bisher verfolgte Richtung bei, als scheinbar gar nicht sehr weit von ihm ein Schuß fiel. – Das waren die Seehundsjäger – da war Jahn, und rasch entschlossen lenkte er den Bug seines Bootes der Richtung zu, seinen alten Jahn einzuholen, und in dessen Begleitung, unter dessen Schutz den Heimweg wiederfinden zu können. O, wie bereute er jetzt, nicht gefolgt und vorwitzig und leichtsinnig Etwas unternommen zu haben, was er nicht im Stande war durchzuführen! – was hätte er jetzt darum gegeben, wenn er sicher am Strande von Helgoland gestanden! Daß er aber nun mit allen guten Vorsätzen für die Zukunft sein Gewissen zu beschwichtigen suchte, half ihm Nichts; dadurch konnte er den einmal begangenen Fehler nicht wieder gut machen, und das Einzige, was ihm jetzt zu thun übrig blieb, war, das nächste Boot so rasch als möglich aufzusuchen. So bestürzt fühlte er sich dabei, daß er seine ganze Fassung verlor, und in dem Augenblick wirklich nicht einmal im Stande gewesen wäre, genau zu bestimmen, wo die Insel lag.
Nur die Richtung suchte er noch so genau als möglich zu halten, in der er den Schuß gehört, und als er mit der immer frischer werdenden Brise so weit gekommen war, daß er glauben konnte gehört zu werden, schrie er Jahn's Namen so laut er konnte über das Wasser, und horchte dann aufmerksam und in peinlicher Spannung nach dem geringsten Laut.
Einmal war es ihm fast, als höre er einen hohlen Laut, der gerade so klang, als ob ein Ruder in ein Boot geworfen würde – das aber mußte viel weiter nach Süden hinunter sein, dort konnte das Boot unmöglich liegen, und das Wahrscheinlichste blieb ja immer, daß die Schiffer sich bei dem so rasch eingebrochenen Nebel auch schon auf den Heimweg gemacht, und dann jedenfalls so dicht am Winde lagen als nur irgend möglich, um nicht so weit nach Süden hinunter getrieben zu werden. Nach der Insel mußten sie jedenfalls außerdem wieder aufrudern.
Sein kleines Boot war indessen noch immer in der Richtung fortgelaufen und jetzt schon so weit gekommen, daß er wirklich fürchtete, im Nebel an dem andern Boote vorbeizufahren; er drehte sein Fahrzeug deshalb gerade in den Wind, und rief noch einmal, so laut er nur konnte, sein ahoy-y durch den Nebel hin.
Alles war todtenstill – wie das so dicht und weiß und unheimlich um ihn her lag, wie ein großes, entsetzliches Leichentuch! Das Herz drohte ihm durch sein Klopfen fast die Brust zu zersprengen, der Athem verging ihm, und der Schweiß stand ihm in großen, hellen Tropfen auf der Stirn. Wieder und wieder schrie er dabei jetzt nach allen Richtungen hinaus, um das Boot, das ja doch hierum in der Nähe sein mußte, zu Hülfe zu rufen, und horchte dann in peinlicher Spannung und fieberhafter Aufregung auf eine Antwort.
O, wie bereute er jetzt seinen Ungehorsam! – wie schwur er sich's hoch und theuer zu, wenn ihn Gott nur dieses eine Mal retten, ihm nur dieses eine Mal den begangenen Fehler verzeihen wollte, nie, nie wieder gegen seine Aeltern zu sündigen, und ihnen in Allem treu und brav zu folgen von nun an! Und dann überkam ihn wieder die Angst – es war gar zu still und einsam, zu furchtbar öde auf dem weiten Meere, und das Plätschern der Wellen gegen die Planken, das Rascheln des Windes in dem Segel und den dünnen Tauen klang ihm so todt, so unheimlich. Dabei kam es ihm fast vor, als ob der Wind viel stärker würde, als er bis jetzt gewesen, und ob er für ihn günstiger oder ungünstiger geworden sei, konnte er nicht einmal bestimmen, da er ja keinen Compaß bei sich führte.
Wo um Gottes willen aber war das Boot hingekommen, aus dem er doch kurz vorher hatte schießen hören? es mußte ja doch noch hier in der Nähe sein, und wieder und wieder rief er jetzt nach Jahn, rief um Hülfe in seiner furchtbaren Noth. Umsonst. Es blieb ihm endlich nur der einzige Ausweg, zurück auf Helgoland zuzuhalten, wenn er der Richtung nur einigermaßen folgen konnte. Verfehlte er aber die Insel dann, so lief er hinein in die Nordsee, mußte die Nacht auf dem Wasser bleiben und war, wenn sich ein Sturm erhob, rettungslos verloren.
Noch zögerte er unschlüssig, was er thun sollte, als er plötzlich eine menschliche Stimme zu hören glaubte.
»Ahoy–y!« rief er, so laut er konnte, und horchte dann mit zurückgehaltenem Athem in den Nebel hinein.
»Ahoy–y!« rief es zurück, gar nicht weit von dem Orte, wo er sich befand, und doch klang die Stimme matt und hohl – Gott sei ewig gelobt und gedankt! – dort war Rettung – er selber nicht allein mehr auf der öden Wasserwüste, und an das andere Boot konnte er das seinige dann anhängen, oder ihm wenigstens dicht im Fahrwasser folgen. Die Fischer wußten immer genau, wo sie sich befanden, und er brauchte nicht mehr zu fürchten verschlagen zu werden.
Die Stimme schallte aber gerade mit dem Winde zu ihm her; dorthin zu kommen mußte er also rasch sein Segel niederwerfen und zu den Rudern greifen. Er that das mit vor Eifer zitternden Händen, das rettende Boot nicht wieder zu verlieren, und rief dabei immer fort, damit sie auch dort wußten, wo er wäre, und ihn nicht etwa hier zurückließen. Der Rudernde in einem solchen Boote sitzt mit dem Rücken nach vorn, und hat in jeder Hand ein Ruder – oder einen Riemen, wie die Seeleute die Ruder nennen – und es kam Carl jetzt so vor, er konnte sich nicht darüber täuschen, daß die Stimme immer näher und näher kam; er verstand sogar die Worte schon – »Hol' an Bord! hol' an Bord!« Obgleich er aber fortwährend rechts und links über die Achseln nach vorn schaute, und doch wenigstens funfzig oder sechzig Schritt in den Nebel hinein sehen konnte, war es ihm nicht möglich, ein Segel oder Boot zu erkennen, und doch klang die Stimme jetzt, als ob sie kaum mehr als vier oder fünf Bootslängen von ihm entfernt sein könnte.
»Hol' an Bord!« rief es da wieder, jetzt ganz nahe, und zwar zu windwärts von ihm über den rechten Bug, und als er den Kopf blitzesschnell dorthin drehte, und immer noch vergebens nach dem geblähten Segel eines Fischerkahnes suchte, entdeckte er plötzlich, im Wasser selbst, einen einzelnen schwimmenden Menschen, der den Arm nach ihm ausstreckte und kläglich um Hülfe rief!