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Wie Carl Hollberg den Robinson Crusoe las, und nun selber ein Robinson werden wollte.
Herr Hollberg war ein wohlhabender Kaufmann in H–heim, einer ziemlich bedeutenden Stadt in Norddeutschland, und hatte seinen Sohn Carl zur Handlung bestimmt, damit er einmal später in sein Geschäft eintreten, und wenn er selber sterben sollte, das Ganze übernehmen könne. Carl dagegen wollte ein Seefahrer werden.
Sein erstes Buch, das er in die Hände bekommen und ordentlich verstand, war der Robinson Crusoe gewesen, und von der Zeit an dachte und träumte er gar Nichts weiter, als selber auch einmal hinauszufahren auf das blaue Wasser, hinaus in das weite Meer, dann mit dem Schiff zu scheitern und an eine eben solche einsame Insel, mit den dazu gehörigen benachbarten Menschenfressern und wilden Ziegen, Papageien, Austern, Goldklumpen und was Alles dazu gehörte, verschlagen zu werden. Von der ganzen Schiffsmannschaft durfte auch wirklich weiter Niemand gerettet werden als nur er – die Geschichte wäre sonst lange nicht romantisch genug geworden – und es konnte ihn Nichts mehr ärgern, als wenn er hörte oder las, daß wieder eine neue, bis dahin noch unbekannte Insel im Weltmeere entdeckt wäre. Verlor er doch mit jedem solchen Punkte, der einmal bekannt war, und von Fischern besucht wurde, wieder eine Möglichkeit, selber der glückliche Finder zu werden, und sein Robinson-Crusoe-Leben dort auszuführen.
Manchen meiner jungen Leser geht es wohl eben so wie Carl Hollberg, und wie elend würden sie sich fühlen, wenn Glück oder Unglück ihren Lieblingswunsch erfüllte. So ist aber der Mensch; was er hat, lernt er nicht eher schätzen, bis er es verliert, und was ihm fern und für den Augenblick unerreichbar liegt, das malt sich seine Einbildungskraft mit den buntesten, schimmerndsten Farben und Lichtern aus. Wohnen wir im Thale unten, so möchten wir den Berg ersteigen, der, eben nur unserem Auge erreichbar, mit seinem Gipfel in die Wolken greift, und sind wir mit Mühe und Noth und saurem Schweiß hinauf geklettert, dann – ja dann sehen wir, daß es da oben auch wohl vielleicht recht schön und herrlich ist, aber – wir möchten doch sobald wie möglich wieder ins Thal hinab.
Eine wunderbare Wanderlust scheint überhaupt, besonders in den letzten Jahren, das ganze Menschengeschlecht erfaßt zu haben. Fremde Länder und Welttheile sind uns durch Reisebeschreibungen und die neuen Erfindungen rascheren Verkehrs näher gerückt und wir mit ihnen mehr vertraut geworden, als dies in früheren Zeiten wol der Fall war. Die Wanderlust steckt dabei Vielen in den Gliedern, auch aus anderen Gründen, als nur, weil unsere Phantasie mit uns durchgegangen ist.
Und können wir etwa nicht fort? – hindert uns irgend Etwas, dem Triebe zu folgen, der uns den Ranzen schnüren und der alten trauten Heimath den Rücken kehren heißt? Der Mensch ist eines der wenigen Geschöpfe unseres Erdballes, das überall gedeiht, und sich jeder Zone, mit mehr oder weniger Schwierigkeit, anpassen kann, während die Thiere und Pflanzen der heißen Zone im Norden sterben und eingehen, oder wenigstens durch künstliche Wärme vor den Einflüssen des ihnen feindlichen Klima's geschützt werden müssen, wie auch umgekehrt die Thiere und Pflanzen des hohen Nordens nicht unter der tropischen Sonne fortbestehen können.
Der Mensch kennt kein solches Hinderniß; die Natur hat ihm scheinbar überallhin die Schranken geöffnet. Er darf gehen, wohin er will, ohne für seine Gesundheit, oder wenigstens für sein Leben fürchten zu müssen, und sollte man nun da nicht glauben, daß im Laufe der Zeit, bei all' den bunten Träumen, die sich die Menschen bilden, das ganze Geschlecht nach den Punkten unseres Erdballes hinüberziehen müßte, die das mildeste Klima, den besten Boden, die freundlichste Lage haben? ist es denkbar, daß mit dieser Möglichkeit vor sich, und mit der mit jedem Jahre wachsenden Leichtigkeit der Verbindungswege ganze Nationen noch oben im hohen Norden bleiben würden, wo sie neun Monate im Jahr in Schnee und Eis fast wie begraben liegen und von eklem Thran und faulen Fischen leben müssen? oder andere in heißen, trockenen Steppen, mit ewigem Wassermangel kämpfend, ihren Platz behaupten würden, den sie bald mit Leichtigkeit gegen ein benachbartes Land vertauschen können, das im Vergleich mit dem ihrigen ein Paradies genannt werden dürfte?
Und doch bleiben sie – der Samojede und Eskimo, der Kamtschatkale und Lappe im Norden, die täglich im Sommer auf dem gefährlichen Fischfang ihr Leben wagen, eben nur um leben zu können, der Beduine in seiner heißen Wüste, der Kirgise wie der Araber in ihren Steppen, der Indianer auf der Korallenbank im Ocean, von Kokosmilch und Fischen lebend, der arme Senne auf hoher dürftiger Alpe, wie der halbverhungerte Spitzenklöppler in unseren deutschen Gebirgen – sie Alle bleiben und hängen, je dürftiger der Fleck ist, den sie ihr Vaterland nennen, nur mit so größerer, mit so hartnäckigerer Liebe daran. Ja, wirft Schicksal oder Zufall einen oder den anderen von ihnen mitten hinein in die ihm fremde Welt, und hätte der Himmel dort seine schönsten, reichsten Gaben ausgeschüttet, er bleibt nicht dort – es treibt ihn wieder fort, und die eigene Heimath, so ärmlich, so elend sie sein mag, ist ihm nie so freundlich, nie so seine ganze Seele haltend erschienen, als von dem Augenblick an, wo er sie meiden mußte.
Liegt das in der Luft? – liegt es im Wasser? liegt's in den fremden Nahrungsmitteln etwa? – in Klima oder Oertlichkeit, daß uns der fremde Dunstkreis nicht behagt – daß wir uns da nicht wohl fühlen? Es ist mehr als das – es ist das Herz, das mit den tausend und tausend feinen, unsichtbaren und doch so starken Fäden im heimischen Boden haftet und nicht loslassen will und mag. Das Herz, das treue, hartnäckige Ding, das seine Wurzeln in eine Eisspalte, in dürren Sandboden schlägt, aber, wo es einmal gefaßt hat, wo es den Platz einmal sein Vaterland nennt, ihn nicht verlassen will, so arm, so dürr er ist.
Man hat Versuche selbst mit den armen Eskimos gemacht, und sie einen Winter durch nach England geführt, wo sie ein milderes Klima und reichliche gute Nahrungsmittel fanden; aber, lieber Gott, eine Weile hielten sie das aus, einen oder zwei Monate, so lange der Reiz der Neuheit dauerte, dann fing es an, in ihren Herzen zu bohren und zu arbeiten. Die Heimath spiegelte sich darin ab, und ob auch nur als nacktes, ödes Schneegefild; unter dem Schnee aber, tief und warm in die Erde hineingegraben, liegt ihre Hütte; die Ihrigen hocken dort um das Feuer her, schlafen oder plaudern die lange, lange Winternacht hindurch, und denken an die fernen Familienglieder, die ihrem Bande entrissen wurden, und die wol jetzt die Heimath und die Freunde in dem neuen fremden, glücklichen Leben ganz vergessen haben.
Vergessen? guter Gott, das Herz bricht ihnen schon fast vor Weh und Sehnsucht, und mit dem ersten Schiffe, das dort hinauf wieder die Bahn sucht, jauchzen sie dem so schwer vermißten Vaterlande aufs Neue entgegen.
Das ist das Band, mit dem Gott die Menschen an die Scholle kettet, aus der sie geboren wurden, und wenn wir's mit Gewalt zerreißen müssen, wenn wir fortgetrieben werden von der Stelle, wo unsere Wiege gestanden, dann heilen die Wunden allerdings wieder, unser Körper gewöhnt sich zuletzt an das fremde Klima, an die fremden Nahrungsmittel, an Wasser und Luft, unser Auge an die fremden Berge, unser Ohr an die Klänge der fremden Sprache, aber das Herz blutet nach, noch viele, viele Jahre lang, und ein Lied von daheim, der leiseste Anklang aus dem Vaterlande, jagt uns nicht selten die Thränen in's Auge, und wirft unsere schon ganz sicher geglaubte Festigkeit mit einem Stoß über den Haufen.
Aber trotzdem lebt und arbeitet auch der Drang in unserem Inneren, hinaus zu kommen und die Welt zu sehen. Es ist der Trieb nach vorwärts, den uns die Natur, neben der Liebe zum Vaterlande, in's Herz gelegt, und was das im Inneren der Erde kochende Feuer dem ganzen Weltkörper, was der Saft der Pflanze, was das Licht allen organischen Wesen ist, das ist dieser Trieb auch der Menschenbrust, der sie nicht schläfrig und faul in sich selber zusammensinken läßt, wie stehendes Wasser, der sie mit einer Ahnung dessen erfüllt, was um sie her lebt und wirkt und treibt und schafft, und sie daran will Antheil nehmen lassen. Nur nicht ausarten darf das – nicht über die Stränge schlagen; der Sporn ist ganz gut für den Reiter, aber das Pferd darf nicht mit ihm durchgehen wollen, sonst greift das Herz geschwind und kräftig in die Zügel und ruft »Halt! bis hieher und nicht weiter!«
Eintragen sollen wir wie die Bienen von nah und fern, was uns die Welt, was uns Gottes Vaterhuld so Schönes und Herrliches bietet überall, aber das Vaterland soll die Zelle sein, in die wir es zurücktragen, für die wir schaffen und arbeiten, und wie wir Gott und Vater und Mutter und Bruder und Schwester lieben, so lieben wir um deretwillen schon den kleinen trauten Fleck, der ihnen, der uns gehört, und der Allmächtige hat es ja weise und freundlich so eingerichtet, daß uns dort der Himmel am blausten scheint, die Blumen am schönsten blühen und duften, und keine Quelle in der weiten, weiten Welt so lieb und herzig rieselt, als die daheim, an der wir unsere ersten Blüthen gepflückt, keine Bäume uns so still und heilig rauschen, als die, in deren Schatten wir zuerst geruht, und die des Kindes Träume schützten.
Carl, noch ein junger Bursche, dachte und fühlte allerdings nicht so; ihm war es noch nirgends so langweilig vorgekommen, als gerade zu Hause; die alte, ehrwürdige Linde vor der Thür, in deren Schatten seine Familie im Sommer ihren Kaffee trank, rauschte ihm, mit den Palmen im Kopfe, gar so entsetzlich eintönig das ganze Jahr hindurch, ob sie mit Blättern und Blüthen bedeckt war, oder die nackten Zweige gegen den düster umzogenen Winterhimmel ausstreckte. Wilde Ziegen gab es auch daheim nicht; die hatten sämmtlich Halsbänder um, oder gehörten doch wenigstens schon Jemandem, und als er sich einmal trotzdem eine fing und sie zu Hause zum Gepäcktragen abrichten wollte, zeigte sich das dumme Thier nicht allein entsetzlich unanstellig und störrisch, sondern der rechtmäßige Besitzer kam auch sogar noch an demselben Abend, wurde grob, und nahm sie wieder mit sich fort.
Und nun gar die Indianer – ein paar Bauerjungen in der Nachbarschaft wollte er sich dazu einexerciren, als er aber den einen Freitag nannte, glaubte Der, es wäre geschimpft, wurde ärgerlich, rief, daß er weder Freitag, noch Sonnabend, sondern Hans hieße, zog sich die dicke Pelzmütze, die er auch im Sommer trug, über die Ohren, und lief davon. – Es war mit den Bengeln Nichts anzufangen.
Im Garten richtete er sich allerdings eine kleine Insel her, machte sich einen Sonnenschirm aus Tabaksblättern, und baute sich in der Ecke der Gartenmauer, wo eine niedere Aussicht über das benachbarte Feld aufgeführt war, eine Burg; aber sein Vater weigerte sich, ihm die Austern dazu zu liefern. Auch der Pudel, der seinem Bruder gehörte, und den er sich nach und nach wenigstens zur Ziege abrichten wollte, spielte im Anfange wol mit, und es schien fast als ob ihm die Sache selber Spaß machte; als er aber ein paar Mal Steine schleppen mußte, die Kokosnüsse bedeuten sollten, da blieb er auch aus, und wenn ihn Carl rief, lief er ein Stück in den Garten hinein, um ein paar Beete herum, setzte sich dann ruhig mitten aus den Kiesweg und sah aufmerksam zu. Die Sache gefiel ihm vielleicht, aber er wollte nur nicht selber mehr mitthun.
Das war höchst ärgerlich, und jeder Andere hätte das Robinsonspielen vielleicht in Verzweiflung aufgegeben. Carl aber war unermüdlich, und dachte bei sich: »Die Sache ist sehr einfach – die Ziegen, die Robinson nicht fangen konnte, schoß er;« und gesagt, gethan. Vor allen Dingen machte er sich einen Bogen aus zähem Eschenholz, und bat den Tischler, daß er ihn ein wenig ab und glatt hobelte, dann spannte er sich eine Schnur darauf, schnitzte sich Pfeile, ohne Spitze natürlich, aus Haselschößlingen, und ging auf die Jagd.
Nestor, so hieß der Pudel, unterhielt sich vortrefflich dabei. Als Carl anfing nach ihm zu schießen, ihn aber nicht traf, und die Pfeile an ihm vorbei in den Buchsbaum hinein oder in die Spargel- und Gemüsebeete fuhren, bellte er, sprang hinterher und apportirte sie. So blieb die Sache aber nur kurze Zeit; Carl lernte den Bogen besser führen, übte sich erst eine Weile nach einem Baume und dann nach einem Steine, und als er sein Ziel auf funfzehn und zwanzig Schritt sicher treffen konnte, überraschte er Nestor eines Tages mit einem Kernschuß mitten auf den Leib. Nestor wußte allerdings im Anfange nicht wie ihm geschah, heulte, machte einen Sprung zur Seite, und blieb wieder sitzen; der zweite Pfeil traf ihn aber mitten auf die Brust, der dritte gerade hinter's Ohr, und nun nahm er auf einmal den Schwanz zwischen die Beine und kratzte aus, als ob er um sein Leben liefe.
Von dem Tage an begann eine wirkliche Jagd, denn Nestor kam dem Knaben nicht mehr auf fünfzig Schritt in die Nähe, so daß dieser anfing, sich in den Hinterhalt zu legen, bald hinter die Bäume, bald hinter den Brunnen, bald hinter einen Busch im Garten, bald oben an die Treppe, bald hinter die Hausthür, und Nestor war seines Lebens nicht mehr sicher. Wohin er ging, brannten ihm die allerdings stumpfen, aber nichts desto weniger recht derb auftreffenden Pfeile des neuen Robinson auf die Wolle, und der arme Hund wurde zuletzt ganz scheu und mißtrauisch gegen Alles im Hause. Keine Schieblade konnte mehr in seiner Gegenwart aufgezogen werden, ohne daß er seinen plötzlich daraus vorspringenden Verfolger dahinter vermuthet hätte; ein Stock fiel um, und er nahm den Schwanz zwischen die Beine, und floh die Nähe des ungewöhnlichen Geräusches, um sich erst nachher zu überzeugen, ob es ihn bedroht habe oder nicht. In Schußnähe kam er aber gar nicht mehr.
Den Hühnern und Gänsen und besonders den Katzen ging es indessen nicht viel besser, und die Mutter, wie überhaupt die ganze Familie, mußte sich zuletzt dazwischenlegen, dieser Metzelei Einhalt zu thun.
Der Glaser war der einzige Mensch, der Nutzen davon zog, denn außerdem, daß Carl selber zwei Scheiben eingeschossen hatte, war die Katze so scheu geworden, daß sie, sobald er nur ins Zimmer trat, eine Fensterscheibe als gar kein Hinderniß mehr betrachtete, und wie der Blitz dagegen und hindurch sprang, daß die Scherben lustig hinterher klirrten.
Carl wurde mit den Jahren älter und verständiger, schloß Frieden mit Nestor, der aber nie wieder so recht volles Vertrauen zu ihm faßte, und schoß weder Hunde noch Katzen mehr, spielte auch nicht mehr im Garten in Wirklichkeit Robinson. Aber im Geiste arbeitete es doch bei ihm fort, und es gab nichts auf der Welt, was ihm lieber gewesen wäre, als Reisebeschreibungen aus fremdern Ländern zu lesen. Er verschlang förmlich La Vaillants Jagdabenteuer in Afrika und Cook's und Kotzebue's Reisen in der Südsee, und wenn ihm sein Vater auch vorstellte, daß er später als Kaufmann Reisen, und große Reisen unternehmen und mit diesen seine Geschäfte verbinden könne, so genügte ihm das doch lange nicht. Auf wüsten Inseln ließen sich keine Geschäfte machen; das war auch gar nicht nöthig, denn die Indianer hatten weiter nichts als Tauschhandel, Elephantenzähne und Schildkrötenschalen statt Banknoten und Goldstaub, Früchte und Muscheln als kleinere Münze. Dazu bedurfte es keiner Geschäftsreisen, denn das konnte er Alles auf seiner geträumten und immer wieder ersehnten Weltfahrt abmachen, und nachher? – dann kehrte er mit den gefundenen und eingesammelten Schätzen als reicher Nabob, wie derart reiche Menschen in Indien genannt werden, zurück, und wie die Leute dann schauen würden, wenn er mit seinen schwarzen oder braunen Dienern hinter sich durch die Straßen schritt, konnte er sich jetzt gar nicht oft und lebendig genug ausmalen.
Dabei lernte er aber sehr fleißig in der Schule, und da ihm Alles sehr leicht wurde, machte er rasche und schöne Fortschritte. Die Lehrer gaben ihm das beste Zeugniß, und sein Vater hoffte, daß sich mit der Zeit wol diese kindische und noch ganz unbestimmte Lust, nur eben hinein in die Welt zu laufen und dem Zufall das Weitere zu überlassen, schon wieder verlieren würde. Lernte er das Geschäftsleben nur erst einmal kennen und fand er Freude daran, dann gab sich das Andere von selbst.
So war Carl vierzehn Jahre alt und confirmirt worden, und sollte zu Johanni in das Geschäft eines Freundes in Hannover kommen, die Handlung richtig und ordentlich zu erlernen. Da zum ersten Male trat ihm der Ernst des Lebens entgegen und erschreckte ihn. Der Augenblick war dicht vor der Thür, in dem er im Begriff stand, das väterliche Haus zu verlassen; aber nicht seinen romantischen Plänen nachzujagen, sondern in ein trockenes, ernstes, geregeltes und ihm streng vorgezeichnetes Leben einzutreten, das lange, lange Jahre durch dauern mußte, ehe er nur daran denken konnte, den Fuß wieder hinaus ins Freie zu setzen – und würde er das aushalten? Allerlei verzweifelte Pläne gingen ihm dabei im Kopfe herum; er wollte fortlaufen, mitten hinein in die Welt, gleichviel wohin; – aber wie war das möglich? Im vorigen Jahre hatte er eine kleine Fußreise in das nächste Gebirge gemacht, und in jedem Hause, wo er aß oder übernachtete, Geld bezahlen müssen; ohne Geld hätte er deshalb keine Tagereise weit kommen können. – Und dann die Aeltern zu Hause – wie würden sie sich gegrämt und um ihn gesorgt haben! wie hätte die Mutter geweint, die ihn so liebte, und Alles, Alles für ihn that, was in ihren Kräften stand, so lange er zurückdenken konnte – und viel länger wol. Der Muth fehlte ihm nicht etwa, einen derartig leichtsinnigen Schritt zu thun, dessen Folgen er gar nicht übersehen konnte; aber den Aeltern solchen Schmerz zu bereiten, wenn er selbst allem Andern hätte trotzen wollen, vermochte er nicht, und es blieb ihm zuletzt Nichts übrig, als sich in das zu fügen, was er nicht mehr ändern konnte.
Herr Hollberg hatte sich indessen vorgenommen, Carl selber nach Hannover zu bringen und seine Frau dorthin mitzunehmen, wo sie dann erst eine kleine Vergnügungstour nach Helgoland machen und Carl auf der Rückfahrt in Hannover im Geschäft seines Freundes zurücklassen wollten. Ein um das andere Jahr würden sie ihn dann besuchen, und die Zwischenjahre sollte Carl, wenn er sich brav hielte, die Erlaubniß bekommen, auf acht Tage in das väterliche Haus zurückzukehren.
Nach Helgoland – das war wenigstens ein Stück von der See, was er da zu sehen bekam, und Carl war außer sich vor Freuden; er vergaß fast, daß es ihm blos gezeigt werden sollte, und daß er nicht daran denken durfte, den Schauplatz seiner geträumten Thaten wirklich zu betreten.
So rückte die Zeit und der Tag der Abreise heran; Carl hatte sich erst davor gefürchtet, weil das Geschäftshaus mit seiner langweiligen Schreibstube so dicht dahinter stand; jetzt war aber diese durch Helgoland und durch die, wenn auch nur ganz kurze Seefahrt weit in den Hintergrund gerückt, und er konnte die Zeit kaum erwarten, wo der Wagen vorfahren und mit ihnen zum Thore hinausrasseln würde – in die Welt.
Auch der Augenblick kam endlich; wir Menschen thun meist sehr Unrecht daran, ungeduldig ein ferne Zeit herbei zu sehnen. Wir bedenken dabei gewöhnlich gar nicht, daß mit derselben auch ein großer Theil unseres Lebens verflogen und nie mehr zurückzubringen ist, die Welt aber dabei ihre ewige Bahn still und erbarmungslos fortrollt. Das Leben des Menschen ist wie ein weites, unabsehbares Hügelland, von dem wir nur immer den ersten, dicht vor uns liegenden Hügel erkennen, und nun streben und arbeiten und uns abmühen aus Leibeskräften, ihn hinanzuklimmen. Wir meinen, von da oben aus müßten wir einen freien, weiten Ueberblick auf das ganze andere Land, auf unsere ganze künftige Bahn gewinnen; haben wir den aber endlich erreicht, sind wir oben, dann sehen wir, enttäuscht, nur einen andern Hügel vor uns, eben wie der erste war, ohne Weg und Steg, über den wir uns auf's Neue die Bahn suchen müssen. So geht das fort, Hügel auf und ab, immer neue Hoffnung, immer auf's Neue enttäuscht, und doch nicht verzagend, doch nicht ermüdend, bis wir in einem der Thäler, immer noch wieder mit einem solchen Hügel vor uns, der uns die weitere Aussicht birgt, unser stilles Grab finden, und von anderen Wanderern und Reisegefährten hineingelegt werden, von der langen, mühseligen Pilgerschaft auszuruhen. – Nur Gott allein schaut von oben hernieder aus unsere Bahn, und kennt die Wege, die wir wandeln. – –