Ludwig Ganghofer
Die Martinsklause
Ludwig Ganghofer

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Ludwig Ganghofer

Die Martinsklause

Roman aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts


Erster Band

1

Eine stille Sommernacht war hingegangen über die Berge, und der Tag wollte kommen.

Um die regungslosen Wipfel der alten, schwer mit Moos behangenen Fichten fiel schon ein graues Licht und zitterte durch alle Lücken des steilen Waldes. Einzelne Vogelstimmen ließen sich schüchtern vernehmen. Sonst lautlose Stille. Nur manchmal ein helles Klirren, wenn die beiden Männer, die auf schmalem Wildpfad durch den Wald emporstiegen, mit den gestachelten Bergstöcken die Moosdecke durchbohrten und auf Stein gerieten.

Voran stieg ein Alter mit gebeugtem Rücken und schwerfälligem Schritt; die Beine waren mit Ziegenfell umschnürt, den Körper bedeckte ein Hemd aus grobem Hanftuch mit fransigen Ärmeln, und darüber hing ein rauhhaariger Kittel. Ein Gesicht war kaum zu erkennen; bis tief in die Wangen wucherte der graue struppige Bart, wie Dächlein hingen die weißen Brauen über die Augen herab, und unter der abgegriffenen Lederkappe quollen in dicken Büscheln die schneeigen Haare hervor. Gewand und Arme des Alten waren mit Ruß bestäubt; die Kohlhütte war sein Heim. Das verriet auch der Name, mit dem der hinter ihm Schreitende, ein Mönch im weißen Ordenskleid der Augustiner, ihn anrief: »Kohlmann!«

»Herr?«

»Wie lange dauert der Wald noch?«

»Nimmer lang. Dann kommen die Alben. Und eh die Sonn noch aufgeht, stehen wir droben auf dem Fels, von dem du das ganze Land überschauen kannst, das die GrafengadenerGrafengaden, das heutige Gartenau bei Salzburg, einst Stammsitz der Grafen von Sulzbach. dir geschenkt haben.«

»Nicht mir! Der Kirche!« sagte der Mönch; ein tiefer Atemzug schwellte seine Brust, und weiter holte er mit dem Bergstock aus, als triebe ihn heiße Ungeduld dem Ziel entgegen.

Scharf umrissen hob sich die hohe Gestalt im weißen Habit vom grauen Dämmerlicht des Waldes ab. Die Kutte war mit ledernem Gurt geschürzt und zeigte die nackten Füße mit den eisenbeschlagenen Sandalen; beim Führen des Bergstockes fielen die faltigen Ärmel zurück und entblößten die sonnverbrannten Arme. Das unbedeckte Haupt war nach strenger Regel geschoren; doch war wohl schon manche Woche vergangen, seit die Schere diesen Kopf berührt hatte, denn in dem Ring von Haaren, der vom Nacken aus die Stirn umzog, begannen sich schon wieder schüchterne Locken zu zeigen. Noch lichter als das blonde Haupthaar war der weiche Bart, der die Wangen umkräuselte und in zwei Spitzen auslief. In dem von der Wanderung leicht geröteten Antlitz, aus dem die blauen Augen wie helle Sterne strahlten, vermischte sich der Ernst des gereiften Mannes mit der träumerischen Weichheit eines Knabengesichtes. Auch in der ganzen Erscheinung des Mönches zeigte sich ein gleicher Gegensatz: abgeklärte Ruhe und dennoch treibendes Leben und jugendliche Kraft.

Bei gemächlichem Vorwärtsschreiten, denn der alte Kohlmann hatte bedächtige Füße, ließ der Mönch die Augen rastlos umherschweifen im Zwielicht, das ihm die grünen Zauberhallen des Urwaldes entschleierte, in dem noch der Hall keiner Axt erklungen, kein Baum noch gestürzt war unter Menschenhand. Die riesigen Stämme, die zwischen ihren lebenden Brüdern tot umherlagen, waren vor Alter gestürzt, oder der Sturm hatte sie gebrochen, der Schnee des Winters zu Boden gedrückt. Moos und Schlingwerk überwucherte diese Leichen des Waldes, und aus dem zerfallenden Holze sproßten schon wieder die jungen Stämmlein hervor.

Immer heller wurde der Wald, und über die zerflossenen Wolken, die am Himmel schwammen, fiel eine leuchtende Röte. Der Kohlmann deutete mit dem Bergstock nach einer nahen Lichtung. »Dort liegen die Alben, Herr!«

»Herr und immer Herr!« erwiderte der Mönch mit herzlichem Klang in der Stimme. »Ich bin nicht zu euch gekommen als neuer Herr. Ich will euch sein wie ein Bruder. Nenne mich bei meinem Namen: Eberwein!«

Der Kohlmann blickte sich um und lachte; dann schüttelte er den Kopf und stieg weiter.

»Und dein Name?« fragte der Mönch.

»Eigel heiß ich. Aber die Leut sagen wie du: Kohlmann!«

»Und wie nennen dich dein Weib und deine Kinder?«

»Gar nit!« Der Alte wandte das Gesicht. »Ich hab meiner Lebtag kein Weib und Kind gehabt.« Seine Stimme hatte rauhen Klang. » Muß denn eins Weib und Kind haben? Du hast doch auch kein Weib, Herr, und Kinder, mein' ich, hast du wohl auch nit?«

Eberwein lächelte. »Ich habe tausend Kinder: alle Menschen, die ich liebe.«

»Da hast du aber viel zu schaffen, mit so viel Lieb!« meinte der Alte trocken.

Eine Weile stiegen sie wortlos weiter; dann blieben sie lauschend stehen. Sie hörten das helle Wiehern eines Pferdes und hörten Hufschlag, der wieder verklang. In der Stille des Urwaldes war das wie ein Laut aus einem Märchen. »Ein Pferd in solcher Höhe, in dieser Öde?« fragte Eberwein.

»Es muß von Wazemanns Söhnen einer sein, der ins Gejaid geritten ist.« Die Stimme des Alten dämpfte sich. »Oder es war von König Wutes Helden einer, der vor Tag wieder heimreitet in sein Berghaus.«

Auf Eberweins Stirne zeigte sich eine Furche. »Du redest Torheit, Eigel!«

»Torheit, Herr? Es ist der Untersberg, auf dem wir stehen! Und das weiß doch jedes Kind im Gaden, daß der ganze Berg ein einziges Gehöhl ist, eine Kemenat an der andern, die eine goldig, die ander silberig. Und da drinnen haust mit seinen tausend Helden der König Wute. Der hat nur ein einzig Aug und sitzt an einem steinernen Tisch und kann nit aufstehen, denn sein langer Bart ist zweimal um den Tisch gewachsen. All hundert Jahr schickt er von seinen Helden einen hinauf in die Welt, und wenn der heimkehrt, fragt ihn der König: ›Fliegen die Raben noch allweil um den Berg?‹ Und wenn der Bote sagt: ›Wohl, Herr König!‹, dann seufzet Wute, daß die Berg davon erzittern, und sagt: ›So muß ich noch schlafen hundert Jahr!‹ Dann macht er sein Aug wieder zu, und der lange Bart hebt wieder zu wachsen an.«

»Schweig!« unterbrach ihn Eberwein mit harter Stimme. »Ich will solche Heidenrede nicht hören.«

Der Alte streifte den Mönch mit scheuem Blick. »Es ist doch Wahrheit, was ich red! Ich hab's von meiner Ähnl, und die hat's von ihrem Vater. Und bist du nit selber, auf dem Weg von der Salzburg, über das Walser Feld gewandert? Hast du nit selber den dürren Birnbaum gesehen? Er schaut sich an wie ein toter Baum und hat kein Blattl nimmer und keinen Ast. Aber wie das Feuer im Stein, so steckt noch in ihm das Leben und die Wachskraft, und einmal, wenn's schier keiner nimmer hofft, wird der Baum ausschlagen und Laub treiben. Dann wird der alte Wute aus seinem Schlaf erwachen und wird heraufsteigen aus dem Berg mit seinen tausend Helden und wird auf dem Walser Feld seinen Schild an den Birnbaum hängen. Und dann wird die gute Zeit anheben für uns arme Leut, und keiner mehr wird ein Herr sein und keiner ein Knecht. Und alles, was Leid und Weh heißt, wird weggeblasen sein von der Welt, und jedem wird sein Blüml blühen und sein Glück wachsen.«

Mit hartem Griff umspannte Eberwein den Arm des Alten. »Eigel! Du bist kein Christ!«

Der Kohlmann nickte. »Doch, Herr! Mein Vater ist auch schon einer gewesen. Und wie ich zwanzig Jahr geworden bin, hab ich hinein müssen auf die Salzburg, und da haben sie mir auch das Wasser über den Kopf geschütt.« Er löste seinen Arm und stieg bergan.

Eberwein stand auf seinen Stab gestützt, tiefe Kümmernis in dem Blick, der dem Kohlmann folgte. »Fester sitzen nicht die Wurzeln der Eiche in den Runsen des Gesteins als die alten Mären in dieser Menschen Herzen. Will einer sie roden mit Gewalt, er reißt auch die beste Erde mit und läßt nur kahlen Grund zurück, steinig und unfruchtbar. Und gute Erde muß doch bleiben, soll die Lilie gedeihen an Stelle der Distel!«

»Herr, warum kommst du nit?« rief der Kohlmann von einem Steinwall herab, den er mühsam erklettert hatte.

»Ich komme, guter Eigel!« Und Eberwein folgte rasch.

Eine kurze Strecke noch, dann ging der Wald zu Ende, und sanft geneigtes Almland dehnte sich vor den beiden. Der Morgen hatte seinen violetten Schimmer über allen Grund gegossen. Saftig wucherte das Gras, doch nirgends weidete ein Rind, die Stimme keines Hirten klang – und es war doch Almenzeit! Inmitten des Hanges lag ein wüster Haufe halbverkohlten Gebälks, und weit draußen im Almfeld stand ein Rudel Hochwild.

»Wir müssen eilen, Herr, die Sonn will steigen!« mahnte der Alte. »Und wir haben noch ein hartes Stückl Weg bis dort hinauf. Schau nur!« Er deutete mit dem Bergstock nach einer steilen Felszinne, die sich mit silberigem Grau in die rotschimmernden Lüfte hob.

Sie wanderten und stiegen.

Als Eberwein, seinem Führer voraneilend, den Fuß auf die Zinne der kahlen Felsen setzte, tauchte über den Kamm der östlichen Berge die Sonne empor, groß und strahlend, alle Spitzen der Berge überflutend wie mit glühendem Erz. Von Glanz umwoben, stand Eberwein auf seinen Stab gestützt, und im frisch ziehenden Morgenwinde flatterten die Falten seines priesterlichen Kleides.

Vor seinen Füßen senkte sich der Fels in schwindelnde Tiefe und verlor sich in dunklen Fichtenwäldern, die alle Rippen und Rinnen der Berghänge umschlangen wie ein grünes Gewand. Je tiefer der Wald sich senkte, desto häufiger mischte sich zwischen die finstere Farbe der Nadelbäume das lichte Grün der Buchen, und wo es zu siegen begann, dehnte sich in Schönheit, überschleiert vom ziehenden Morgennebel, ein stundenweites kesselförmiges Tal, dessen schmälere Seitentäler nach allen Richtungen griffen wie die gespreizten Finger einer riesigen Hand. Weiß blinkten die schäumenden Bäche, und aus versteckten Bergwinkeln lugten stille Seespiegel empor wie große blaue Augen, die im Erwachen den Tag bestaunen. Und zwischen Wald und Matten, spärlich und weit zerstreut, winzig klein und im Morgenschatten nur schwer erkennbar, zeigten sich dunkle Gevierte: die braunen Moosdächer menschlicher Wohnungen. Das mußten armselige Hütten sein, und dennoch winkte jedes dieser Dächer herauf zur starren Bergeshöhe wie ein freundlicher Gruß des Lebens. Und rings umher, das weite Tal im Kreis umspannend, hoben sich die grauen Felsen steil und ragend, bald eine gezahnte Wand, bald eine plumpe Kuppe, bald eine scharfe Zinne, und hinter den Bergen wieder Berge, einer höher als der andere, ein steinernes Volk mit tausend Häuptern, die einen behangen mit grünem Schmuck, die anderen wie vor Alter weiß. Und mitten unter ihnen, alle anderen überragend, erhob sich ein gewaltiger Riese, steil aufgetürmt zur Pyramide, von der Spitze bis herunter zum grünen Wald von Eis und Schnee umgossen, wie blankes Silber leuchtend im Glanz der Morgensonne.

Aus Eberweins Händen sank der Stab, und seine Arme hoben sich zum Himmel. »Herr, wen du lieb hast, den lässest du fallen in dieses Land! Hier laß mich leben und schaffen in deinem Dienst! Und wenn mein Werk gelang, hier laß mich sterben!« Er ließ die Arme sinken, atmete tief, drückte die zitternden Fäuste auf seine schwellende Brust, und wieder trank er mit leuchtendem Blick die Schönheit des ihm zu Füßen gebreiteten Landes – seines Landes, zu dessen Fürst und Hirten er berufen war.

Fürst dieses herrlichen Landes!

Das hätte der vierzehnjährige Knabe, der vor zwanzig Jahren auf den Almgehängen des Karwendel die Geißen hütete, auch im Traume nicht geahnt, daß ihn der versteckte Wildpfad, auf dem er einen verirrten Mönch zu Tal geleitete, bis zu solcher Stelle führen würde. Der Verirrte, das war Herr Gosbert gewesen, der Abt zu Scharnitz, ein freundlicher Greis; auf der Suche nach heilsamen Kräutern hatte er Weg und Richtung verloren und war in pfadloses Gestein geraten. Da hörte er die singende Stimme des Geißbuben, der in der brütenden Sonnenhitze auf einem Felsblock hockte, halbnackt, mit gebräunter Haut, das Gesicht umwuchert von einer Wirrnis blonder Locken, mit kurzem Messer an einer Zirbenwurzel schnitzend. Als der Bub den Mönch erblickte, erschrak er, daß ihm Holz und Messer aus den Händen fiel. Kaum aber hörte er, daß Herr Gosbert einen Führer nötig hätte, da lächelte er und nickte: »Komm nur, Herr, ich führ dich heim!«

»Weißt du denn auch den Weg zum Kloster?«

»Ich komm doch all Jahr zweimal dran vorbei, wann ich auftreib zur Alben und wann ich heimtreib!«

»Heim? Wohin?«

»Hinüber ins Partnachgau, zum Wertofels. Dort bin ich daheim.«

So plauderten sie weiter, während sie niederstiegen durch den dunklen Bergwald. Der Abend dämmerte schon, als sie das Kloster erreichten, und der Geißbub mußte nachten im heiligen Haus. Er durfte im Refektorium an der Tafel des Abtes sitzen, der an dem heiteren, aufgeweckten Buben seine Freude fand. Lachend füllte Herr Gosbert den hölzernen Teller des Knaben, und da aß der Bub und aß, bis ihm die Schweißtröpflein auf die Stirn traten – er getraute sich nicht aufzuhören, weil immer noch etwas auf dem Teller lag. Nach dem Mahle schwatzten die Mönche mit dem Buben. »Wie heißt du?« fragten sie.

»Eberwein.«

Da lachten sie. »›Freund des Ebers‹! Der muß gut stehen mit den wilden Sauen! Einen schönen Namen hat dein Vater für dich ausgesucht.«

Er schaute sie mit großen Augen an. »Ich hab keinen Vater.«

»Keinen Vater? Wem gehörst du dann? Deiner Mutter, gelt?«

Er schüttelte den Kopf. »Dem Wertofelser Burgherrn bin ich hörig. Mutter hab ich keine.«

Nun lachten sie wieder. »Schauet den Buben an! Der hat nit Vater und Mutter und ist doch zur Welt gekommen. Wie ist das zugegangen?«

»Ich weiß schon, die Diemud hat mir's gesagt.«

»Die Diemud? So? Und wer ist denn das?«

»Die Alberin.«

»Und was hat sie gesagt?«

»Sie hat gesagt, die Hulfrau hätt mich aufgefischt in ihrem Kindelteich und hätt mich auf der Straß verloren, bevor sie zu dem Haus gekommen ist, in das sie mich tragen hat wollen.«

Da machten die einen ernste Gesichter und schüttelten die Köpfe; die andern aber lachten, und während Herr Gosbert schweigend aufhorchte, fragten sie: »Wer hat dich gefunden?«

»Der alte Ostalar vom Eibensee, der Ferchenfischer. Auf der Romstraß hat er mich gefunden, die bei der Partenkirch vorbeigeht, mitten drin im Buchwald, als ein winzigs Kindl. Und eine Wildsau ist über mir gestanden, und derweil ich allweil geschrien hab, hat sie mich umgekugelt mit dem Rüssel. Aber wie sie den Ostalar gesehen hat, ist sie davon gelaufen, und er hat mich aufgehoben und hinaufgetragen in den Wertofelser Burgstall. Dort hat er alles erzählt, wie's gewesen ist, und drum haben sie mich Eberwein getauft. Und so bin ich halt aufgewachsen.«

»Bei der Diemud?« fragte lachend einer der Brüder.

»Nein, Herr, bei den Geißen im Stall.«

»Ohne Vater, ohne Mutter!« flüsterte Pater Azzo, ein greiser Mönch, und streifte zärtlich mit der zitternden Hand über den Scheitel des Knaben. Der Bub wurde still und machte scheue Augen. Aber Herr Gosbert faßte ihn bei der Hand und zog ihn an sich. »Nicht ohne Vater! Nein, Eberwein, einen Vater hast auch du. Oder kennst du ihn nicht? Schau hinauf zu ihm!« Und Herr Gosbert deutete zur Höhe.

Eberwein hob die Augen, starrte das mit Schnitzereien verzierte Gebälk der Decke an und fragte: »Hockt er da drin im Holz, oder ist über der Decken noch eine Stub, wo er hauset?«

Ein Gelächter erhob sich, daß es einen Hall gab an den Wänden. Sogar Herr Gosbert schmunzelte; und als es wieder stille geworden war, fragte er: »Sag, Eberwein, was meinst du wohl, daß aus dir noch werden soll?«

Da leuchtete das Gesicht des Buben. »Zwei Jahr noch muß ich die Geißen hüten, aber dann, Herr, wenn ich noch gewachsen bin um eine Spann und so starke Arm hab, daß ich den NäbigerFischspeer mit Widerhaken, dessen Schaft zugleich zum Vorwärtstreiben des Floßes diente. werfen und die Langwaad ziehen kann, dann will mich der alte Ostalar in die Lehr nehmen, und ich soll ein Fischer werden.«

»Ja, Eberwein, ein Fischer sollst du werden!« Herr Gosbert erhob sich und legte die Hand auf des Knaben Schulter. »Aber nicht ein Fischer, der nach Hecht und Ferchen geht, sondern einer, der Seelen fischt. Sag, Eberwein, gefällt es dir im Kloster? Möchtest du nicht bleiben bei uns?«

Der Bub machte verdutzte Augen; dann aber streifte er mit flinkem Blick den Tisch, auf dem noch die Reste des Mahles standen. Jeden Tag essen wie die Klosterleut, warum hätt ihm das nicht gefallen sollen?

Lärmend umdrängten ihn die Mönche, und Herr Gosbert wiederholte seine Frage: »Möchtest du nicht bleiben bei uns?«

Da drückte der Bub das Kinn auf die Brust und stotterte: »Wohl, Herr, ich möcht schon, wenn ich dürft!«

»Dein Wille ist dein Recht! So bleib und trage das Kleid der Kirche, das dich löset von aller Knechtschaft.« Herr Gosbert wandte sich zu einem der Mönche: »Reich mir einen Denar!« Der Mönch nestelte einen ledernen Beutel von der Kuttenschnur und reichte dem Abt eine Münze. Schweigend standen die andern umher. »So viel ist deine Knechtschaft wert!« sagte Herr Gosbert und legte den Denar in Eberweins offene Hand. Dunkle Röte überfloß das Gesicht des Buben; doch als er die Finger schließen wollte, schlug ihm Herr Gosbert die Münze aus der Hand, daß sie bis an die Decke flog, klirrend niederfiel und über die Dielen in einen Winkel rollte. »Nimmer hörig bist du, von dir abgefallen ist die Knechtschaft, Eberwein Frymann sollst du heißen von Stund an und ein Sohn des Klosters sein!«

Der Knabe wußte nicht, wie ihm geschah. Herr Gosbert zog ihn an sich und küßte ihn auf die Stirn. »Multis itineribus fata decurrunt, te in viam salutis dominus inducat!« Dann winkte er jenen greisen Mönch herbei. »Nimm den Knaben, Azzo, ich geb ihn in deine Hut, denn ich hab es wohl gesehen: dein erster Blick für ihn war Liebe. Nimm ihn und schaff ihm ein Lager in deiner Zelle! Scher ihm die Locken und gib ihm ein Scholarenkleid!«

Pater Azzo schlang den Arm um den Knaben und zog ihn zur Türe. »Komm, Büebli, ich will dir ein Vater sein, ein guter. Sollst dir keinen besseren wünschen!«

Eberwein ließ sich führen; er schien von allem, was mit ihm geschah, nur das eine zu begreifen, daß er im Kloster bleiben sollte, und das schien ihm Freude zu machen, denn er lächelte. Doch als er die Tür erreichte, wandte er sich um und stammelte: »Herr! Wenn ich bleib, wer soll denn morgen meine Geißen betreuen?«

Herr Gosbert lächelte. »Sei ohne Sorge, vor Tag noch schick ich einen Hüter hinauf.«

Eberwein besann sich, dann sagte er: »Aber gelt, Herr, du mußt ihm einreden, daß er nit unmütig tut mit ihnen. Ich hab nie hüten mögen mit Stecken und Geißel, sie hören all auf gute Wort.«

Freundlich nickte Herr Gosbert. »Das will ich ihm sagen.«

»Und wenn er hinaufkommt, soll er das Messer suchen, das ich hab liegen lassen, und der Diemud soll er sagen, daß ich sie grüßen tu, und sie soll mich bald heimsuchen!«

Da lachten die Mönche wieder; auch Pater Azzo schmunzelte, während er den Knaben mit sich fortzog. An der Hand führte er ihn durch eine dunkle Halle. Sie betraten eine kleine kahle Zelle; von der Decke nieder hing eine irdene Ampel, deren winziges Licht eine matte Helle über die Wände zittern ließ.

Pater Azzo hieß den Knaben auf das Strohbett niedersitzen und holte die Schere. Als die erste Locke fiel, und das kalte Eisen Eberweins Stirn berührte, überlief den Knaben ein Schauer. Zitternd sprang er auf und rannte zur Türe; dort blieb er stehen und blickte scheu zurück.

»Was hast du, Büebli? Komm doch!«

»Muß das sein, Herr?«

»Freilich, das muß sein.«

Da kehrte Eberwein zögernd zurück, setzte sich wieder und hielt geduldig still. Pater Azzo schor ihm das Haupt. Das war eine schwere Arbeit. Und während die Schere knirschte und die blonden Locken fielen, kollerten dicke Zähren über die Wangen des Knaben.

Zwanzig Jahre waren vergangen seit jenem Abend. Aus dem Geißbuben, der nicht Vater noch Mutter hatte, war ein Priester geworden, dessen frommer Eifer und hohes Wissen gerühmt wurden, dessen Name hellen Klang hatte zu Tegernsee und Buren, zu Ammergau und Altomünster, zu Seon und Raitenbuch, in allen Klöstern der bayerischen Lande, sogar am Hofe des Fürsten. Als Herzog Welf in schwerer Krankheit lag, wurde Eberwein zu ihm berufen als Beichtiger und Tröster; doch als der Herzog genas und den jungen Priester, dem er Freund geworden, mit Ehren und Würden überschütten wollte, bat Eberwein: »Lasset mich ziehen, Herr! Ich tauge nicht zu Hofe. Ich bin geboren zu Arbeit und Werk. Mich sehnt nach Kampf und Schaffen, ich will pflügen und säen auf Gottes weitem Feld.«

Wie rasch nun hatte dieser Wunsch sich erfüllt! Vom Hofe war Eberwein nach Raitenbuch gezogen und der eifrigste Förderer des jung entstandenen Klosters geworden. Da kam die Botschaft, daß Gräfin Adelheid von Sulzbach, auf dem Sterbebett ein Gelübde ihrer Mutter erfüllend, ein großes Land, das in stundenweiter Ferne von der Salzburg tief in den Bergen lag, dem Orden des heiligen Augustinus als »Seelengerät« zur Gründung eines neuen Klosters gewidmet hätte: den Berchtesgaden. Die Brüder zu Raitenbuch hatten diesen Namen noch nie gehört, niemand wußte von diesem Lande. Als die Brüder Umfrage hielten, erfuhren sie: das sei eine wilde und rauhe Gegend, von finsteren, pfadlosen Wäldern bedeckt, umschlossen von riesigen Bergen; wohl bringe der Sommer schöne Zeiten über das Tal, doch unerträglich sei der Winter mit seinen Stürmen, seinem grimmigen Frost und seinem alles erstickenden Schnee. Die wilden Tiere, Wölfe, Bären, Sauen und Luchse seien hier so zahlreich, wie im ebenen Land die Ziegen und Schafe; und bewohnt sei das unwirtliche Land nur von ein paar hundert Menschen, armseligen Hirten, Jägern und Fischern, die im zähen Kampfe mit der rauhen Natur ein kümmerliches Leben fristeten, halb noch versunken in der Nacht des Heidentums; über diese Menschen herrsche mit grausamer Strenge ein Ministeriale der Grafen von Sulzbach, Herr Waze vom Falkenstein, der zu der Botschaft, daß die seinem freien Schalten überlassene Landmark an das Kloster gefallen wäre, hellauf gelacht hätte: »Sie sollen nur kommen, die Kutten, und sollen mir nehmen, was mein ist!«

Mit Kopfschütteln hörten die Brüder zu Raitenbuch diese Nachricht. Solch ein Land für die Kirche zu gewinnen, für Ordnung und Gesetz? Da galt es, ein schweres Werk zu bestehen. Und sie wußten zur Lösung solcher Aufgabe keinen Besseren zu wählen als Pater Eberwein, der sich, seit er die Weihen trug, als ein Hirte nach jenem Wort des Knaben erwiesen: »Ich hab nie hüten mögen mit Stecken und Geißel, sie hören all auf gute Wort!« In stolzer Freude hatte er die schwierige Sendung übernommen, hatte mit treibendem Eifer alle Vorbereitungen für die Ausfahrt getroffen. Drei Männer wurden ihm als Geleit gegeben, Pater Waldram, ein blasser stiller Mönch, den sie um seiner finstern Strenge willen im Kloster gerne loswurden, und zwei Laienbrüder, Schweiker, der aus Buren stammte, und Wampo von Tegernsee.

Am Morgen nach Mariä Himmelfahrt brachen sie auf. Rasch ging die Reise vonstatten. Die letzte Nacht verbrachten sie in der Salzburg. Eine Stunde vor Mitternacht verließ Eberwein die Burg und wanderte in der Sternenhelle über das Walser Feld, um in Begleitung des alten Führers, den man aus dem Berchtesgaden für ihn herbeigerufen hatte, den Untersberg zu ersteigen und von hoher Felsenwarte das Land zu überblicken, dessen Schicksal in seine Hände gegeben war. Er hatte sein Ziel erreicht.

Da stand er nun, umflossen vom Schimmer der Morgensonne, im tiefsten Herzen ergriffen von aller Schönheit, die ihm zu Füßen lag. Und während er ausblickte über Höhen und Tiefen, klang von irgendwo, weit aus dem Tal herauf, der vom Wind getragene Laut einer Menschenstimme, ganz leise nur, fast wie das Bimmeln eines von der Herde verirrten Glöckleins. In tiefer Erregung streckte Eberwein die Hände gegen das Tal, in das schon die volle Sonne fiel. »Ich will sie locken, ich will sie rufen! Ich will sie hüten in Treu und Liebe!«

Verwundert blickte der alte Kohlmann, der sich vorsichtig auf der schmalen Felszinne niedergekauert hatte, an der hohen Gestalt des Mönches empor. »Was sagst du? Ich hab dich nit verstanden.« Eberwein hörte nicht. »Oder hast du gar nit mit mir geredet?«

Da erwachte Eberwein und ließ sich an Eigels Seite nieder.

»Schau, Herr, alles, was da drunten liegt, Berg und Tal,« sagte der Kohlmann, »das alles gehört zum Berchtesgaden. Alles dein Land! Schau, da drüben, der erste hohe Berg auf der Linkseit, den heißen sie den Göhl. Drunten am Bergfuß – siehst du die vier Hütten? – da hauset der Vorderecker mit Vieh und Weib und Kind. Der ist ein Freier, kein Gescherter. Wohl, Herr, schier alle Bauern im Gaden sind freie Leut von alters her. Aber Herr Waze macht's ihnen sauer, das Freisein! Schau nur, da drüben, nit weit vom Vorderecker, da hauset der Greinwalder. Dem sein Vater hätt einmal fronen sollen, wie Herr Waze die Bärengruben hat schaufeln lassen; aber er hat nit fort können von Haus vor lauter Arbeit, und da ist er trotzig worden und hat gesagt: ›Ich brauch nit fronen, ich bin ein Freier!‹ Da hat Herr Waze einen jungen Fichtenbaum von seinen Knechten herunterbiegen lassen mit aller Gewalt, die Äst haben sie abgehauen, haben den Greinwalder an den Gipfel gebunden und haben den Baum wieder aufschnellen lassen. Und wie der arme Teufel droben gehangen hat in der Luft, hat Herr Waze zu ihm hinausgeschrien: ›So, jetzt laß dir wohl sein in der Freiheit!‹ Tag und Nacht hat er hängen müssen, und am andern Morgen, wie ihn Herr Waze ledig gemacht hat, da hat der Greinwalder gern geschaufelt, recht gern!«

»Eigel!« Eberwein faßte den Arm des Kohlmanns und dunkle Zornröte flammte in seinem Gesicht.

»Wohl, Herr! Solche Sachen sind ihm all Tag eingefallen, und seit Herr Waze alt geworden ist, treiben es seine sieben Buben noch ärger. Aber daß ich weiter zeig: schau, gleich hinter dem Göhl, der ander hohe Berg, den heißen sie das Brett, weil er so eben ist in der Höh. Und der nächst, der mit dem spitzigen Grind, heißt der Jennar. Hinter dem werden die Berg eben, und da liegen die schönsten Alben bis weit hinaus. Von allen die beste, die heißet Regenalb. Und ganz dort hinten, schau, wo die Berg den weiten Bogen machen und so gäh herunterfallen in den tiefen Kessel, da liegt der Schönsee. Den mußt du bald heimsuchen. So was hast du deiner Lebtag nit gesehen. Wer den Schönsee zum erstenmal sieht, dem verschlagt's die Red vor lauter Schauen. Und dort, wo die Ache aus dem See herauslauft wie ein silberigs Bandl, dort hauset der junge Sigenot vom Schönsee, der Fischer, mit seiner alten Mutter Mathilt und seiner Schwester Edelrot. Der sitzt auf einem Freigut, das nit zinset noch steuert, und seit die Leut denken, gehört zu seinem Haus die Fischenz über Bach und See. Sein Vater hat Gelfrat geheißen. Der ist im Schönsee versunken. Die Leut sagen, eine Elbißdirn hätt ihn hinuntergezogen. Aber der Sigenot mag solche Red nit leiden, und es sagt's ihm auch keiner ins Gesicht. Nit aus Furcht, Herr, sondern weil sie ihn liebhaben, und weil ihn keiner bekümmern will. Er hat den Leuten schon viel Guts getan und hat schon manchem geholfen, der bei Waze in Buß gefallen. Das ist der einzig im Gaden, an den sich die Wazemannsbuben nit antrauen. Er steht aber auch da wie ein Baum, der kein Ducken und Zucken kennt, wenn das Wetter kracht.«

»Sigenot heißt er?« fragte Eberwein, als wollte er diesen Namen seinem Gedächtnis einprägen.

»Wohl, Herr! Sigenot! Aber daß ich zeig: schau, nit weit vom Fischer, da hauset der Marderecker. Dann kommt ein Fichtenwald, da drin sitzt der Untersteiner. Und wo die Ache wieder herauslauft aus dem Wald, da steht ein Hüttl um das ander. Siehst du das größte unter ihnen, das mit dem weiten Hag? Da hauset der alte Schönauer. Der ist Richter im Gaden, und seine Nachbarsleut, der Kaganhart und der Köppelecker, das sind die Schöffen. Die rufen in Zeiten der Not das Thing ein auf dem Totenmann – da drüben auf dem niedrigen Waldberg, siehst du ihn? – und sprechen Recht und Urtel. Für die Katz!« Der Kohlmann lachte zornig. »Das einzig Recht im Gaden ist allweil nur, was dem Wazemann und seinen Buben taugt.«

»Das soll sich wenden!« sagte Eberwein mit ruhigem Wort. »Zeige mir Wazes Haus!«

»Schau: aus dem Schönsee steigt ein endsmächtiger Berg auf, der größte von allen, der mit dem weißen Schneekittel! König Eismann heißen ihn die Leut oder Wazemanns Berg, weil dort Herr Waze am liebsten aufs Gejaid ausgeht, und weil er bei Leib und Leben ein Verbot getan hat, daß kein Bauer einen Fuß auf den Berg setzen soll und das Wild stören. Wo der Berg aus dem See steigt, schiebt sich aus dem Buchwald eine Nas heraus, die heißt der Falkenstein. Da schaut ein spitziges Dach und ein Mauerturm über die Buchengipfel. Das ist Wazemanns Haus.«

Eberwein erhob sich und deckte, in die Ferne spähend, die Hand über die Augen. »Wenn meine Klause steht, soll der Weg zu diesem Haus der erste sein, den ich suche.« Er bückte sich und nahm den Bergstock auf. »Komm, Eigel, wir gehen zu Tal!«

Als sie, von der schroffen Zinne niedersteigend, um die Felswand bogen, öffnete sich vor ihnen ein weiter Ausblick gegen Westen.

»Alles noch dein Land!« sagte der Kohlmann, mit dem Bergstock deutend. »Schau, neben dem König Eismann, da liegt ein langes Tal und in dem Tal ein See, der größte von allen. Den heißen die Leut den Windachersee, denn aus dem See fließt ein wildes Wasser und brauset durch eine tiefe Schlucht, und da drinnen wehet allweil ein Wind so kalt wie Eis. Und über dem Tal drüben – siehst du die zwei hohen Berg? Die heißen der Steinberg und der Schneekalter. Und hinter denen liegt wieder ein Tal und wieder ein See. Der hat keinen Namen, die Leut sagen nur: ›der hinter See‹. Die Ache, die aus ihm herauslauft, das ist ein böses Wasser! Wenn Wetter losbrechen, und viel Regen fällt, treibt der Bach allen Rams mit her, der von den Bergen herunterbröselt. Davon heißt das Tal: die Ramsau. Wohl, Herr, und in dem Tal, da hausen die besten Christenleut. Freilich, die haben gut fromm sein, bei denen sitzt ein Pfarrherr. Hiltischalk heißt er.«

»Ein Leutpriester in der Ramsau?« rief Eberwein, freudig betroffen von dieser Nachricht.

»Jung ist er nimmer, aber ein guter, freundlicher Mann. Und alle Leut haben ihn gern.« Eigel verstummte und hob lauschend den Kopf. Auch Eberwein horchte auf. »Was war das?« fragte er. Es hatte geklungen wie der jauchzende Aufschrei einer weiblichen Stimme.

Sie spähten umher. »Dort, Herr, schau!« stammelte der Kohlmann und deutete nach den dichten Krummföhrenbüschen, die zwischen der kahlen Felswand und dem tiefer liegenden Almfeld den Berghang bedeckten. Ein mächtiger Bartgeier schwebte langsam über die Büsche hin; das zappelnde Gemskitz, das er in den Fängen hielt und hinwegschleifte über die schwankenden Äste, erschwerte seinen Flug. Doch mit jedem Schwingenschlag strebte er höher und gewann schon die freie Luft. Da tauchte unter den Büschen am Saum des Almfeldes eine Reiterin auf; rötliches Haar umflatterte den Nacken; das jagende Roß schien nur ihrem Rufe zu gehorchen, denn sie führte keinen Zügel, sondern hielt in erhobenen Armen den gespannten Bogen mit aufgelegtem Pfeil. Nun plötzlich stand das Roß, einen Augenblick erschien die Gestalt des jungen schönen Weibes regungslos, wie aus Erz gegossen. Dann schwirrte mit hellem Klang die Bogensehne.

Der Geier machte eine jähe Schwenkung im Flug und ließ die Beute fallen; laut klagend raffte das gestürzte Tierchen sich auf, taumelte hin und her und verkroch sich zwischen die Büsche; der Geier schwankte in der Luft, er mußte tödlich getroffen sein; mit aller Kraft noch kämpfte er gegen den Sturz, doch immer matter wurden seine Schwingen, immer tiefer ging sein Flug. Nun verschwand er im schrägen Niedergleiten hinter einer Wölbung des Almfeldes. Hinter ihm her, mit jauchzendem Schrei und wehendem Haar, jagte die Reiterin mit so ungestümer Hast, daß es Sprung um Sprung den Anschein hatte, als müßte das Roß sich überstürzen auf dem steinigen Hang. Aus den Büschen kamen zwei gefleckte Bracken hervorgeschossen und suchten mit heiserem Gekläff den Weg, auf dem ihre Herrin verschwunden war.

Eberwein strich mit der Hand über die Augen. Wie ein toller Spuk war das wildschöne Bild dieser seltsamen Jagd an ihm vorübergeflogen. »Eigel! Wer war dieses Weib?«

»Die rote Recka war es, Wazemanns Tochter. Sieben Söhn hat er und diese einzige Dirn. Aber die Leut sagen, sie wär kein richtiges Menschenkind. Ihr Vater ist freilich ein Mensch. Und was für einer! Aber ihre Mutter wär eine Alfin gewesen! Ich glaub's auch. Denn die Dirn hat Feuer und Luft im Blut. Wie verwachsen ist sie mit ihrem Roß. Für die ist kein Wald zu schiech und kein Berg zu hoch, überall kommt sie hin, als hätt sie Flügel am Leib wie eine Walmaid.«

Eberwein schüttelte seufzend den Kopf. »Wute und Elbißdirn, Walmaid und Alfin. Fast hab ich noch kein ander Wort von dir gehört. Eigel, Eigel, mit deinem Christentum ist es schlecht bestellt.«

»Wohl, Herr, da kannst du recht haben!« meinte der Kohlmann kleinlaut. »Aber wo soll ich ein besseres hernehmen? In die Ramsau ist mir der Weg zu weit, und was einer im Gaden von Wazemann und seinen Buben lernt, das ist alles eher, nur kein Christentum. Aber komm, Herr! Schau, wie hoch schon die Sonn steht! Wir müssen uns tummeln, daß wir rechterzeit wieder hinunterkommen ins Tal!«

Eigel bahnte den Weg durch die dichten Föhrenbüsche, und Eberwein folgte ihm. Als sie das offene Almfeld erreichten und den Überblick über den weiten Hang gewannen, blieb Eberwein stehen und spähte umher. »Ich sehe sie nicht mehr. Sie muß den Wald schon erreicht haben.«

»Wen meinst du? Ach so, die Rote!« Der Kohlmann lachte. »Herr, nimm dich in acht vor der! Und wenn sie dir wieder begegnet, dann schau dich nit um nach ihr!«

Eberwein furchte die Brauen, und fester schloß sich seine Hand um den Stab. »Ich wollte, sie träte mir noch heut in den Weg. Ich hätte Lust, ihr eine Botschaft aufzutragen an ihren Vater.«

Eine tiefe Mulde nahm die Wanderer auf. Als sie wieder den höheren Grund erreichten, lag jener Haufe verkohlten Gebälks vor ihnen. »Eigel! Was ist hier geschehen?«

»Da hat der Gernreuter, der drunten beim Albenbach hauset, seine Albhütt stehen gehabt. Aber die Wazemannsbuben haben gemeint, daß dem Gernreuter sein Vieh den Hirschen zu viel Gras wegfrißt, und drum haben sie den roten Hahn auf das Hüttl gesetzt. Im letzten Sommer war's. Drei Stückl Vieh und dem Gernreuter sein Weib, die heroben gesennet hat, sind mitverbronnen.«

Eberwein stand mit erblaßtem Gesicht. »Und das habt ihr geschehen lassen, ihr im Gaden! Und da es geschehen war, habt ihr nicht Klage geführt?«

»Wohl, Herr! Der Gernreuter hat geklagt. Und auf dem Jahrthing zu Grafengaden hat der Sulzbacher Herr das Urtel gesprochen. Herr Waze hat Wergeld zahlen müssen für das Weib. Und alles ist gut gewesen!« Die Augen des Kohlmanns funkelten. »Und weißt du, Herr, was die Leut sagen? Sie sagen, es wär gar nit hergegangen um das Gras für die Hirschen und Gemsen. Es wär eine Rach gewesen an dem Weib. Bei der sind die Wazemannsbuben an die Unrechte gekommen. Den einen hat sie mit der Faust ins Gesicht geschlagen, und den andern hat sie über die Hausgräd hinuntergeworfen, daß er das blaue Mal im Gesicht drei Wochen lang herumgetragen hat. Wären nur alle, wie die gewesen ist! Dann hätt das schieche Treiben im Gaden bald ein End. Aber so! Kein Weib ist sicher. Jede Mutter, die ein Dirndl hat, das sich sauber anschaut, muß zittern vor jeder Stund. Und jeder Vater, dem ein Kindl im Wiegbett schreit, muß sich kratzen hinterm Ohr. Sieben Buben und eine einzige Dirn, mehr wirst du nit finden in Wazemanns Haus. Aber geh herum im Gaden: an Wazemannskinder kannst du hinlaufen auf jedem Steig und Steg!«

Eberwein faßte den Arm des Kohlmanns und schüttelte ihn. »Eigel! Kann es Wahrheit sein, was ich höre?«

»Wahrheit, Herr? Als ob ich's nit erfahren hätt an mir selber! Weit über die dreißig Jahr mag's her sein, da hab ich – hab ich eine Dirn gekannt.« Die Stimme des Kohlmanns schwankte. »Ein Gesichtl hat sie gehabt so warm und lichtscheinig wie Rötelstein, wenn die Sonn drauf liegt. Und sauber gewachsen, wie ein junges Bäuml, und Haar wie der Hanf so goldig. Und hast du ihr in die Augen geschaut, so hast du gemeint, du schaust ins blaue Himmelreich. Und so gut ist das Dirndl gewesen, so brav und gradschlächtig! Und ihre Lieb zu mir ist ihr Um und Auf gewesen. Auf Sonnwend, Herr, da hab ich ihr zum Herdverspruch den beinernen Armreif angelegt, den meine Mutter getragen hat. Und die ander Woch drauf hätten wir heuern sollen. Ein paar Tag ehnder bin ich hinaufgestiegen auf den Göhl und hab ihr ein Kränzl heruntergeholt aus Edelweiß. Es ist schon auf den Abend zugegangen, wie ich heimgekommen bin und hab's ihr bringen wollen. Aber die Salmued – so hat sie geheißen, Herr – die Salmued ist nit daheim gewesen. Ihre Mutter und ich, wir haben gewartet und gewartet, es ist Nacht worden, und eine Stund um die ander haben wir hingepaßt. Am End ist mir die Angst gekommen, und ich bin umgelaufen und hab angefragt in jedem Nachbarhaus. Die ganze Nacht bin ich auf den Füßen gewesen und schier die Seel aus dem Leib hab ich mir herausgelaufen. Von meiner Salmued aber hab ich nichts gesehen und gehört.«

»Doch als es Tag wurde, kam sie?« fragte Eberwein mit bebender Stimme.

Heiser lachte der Kohlmann. »Wie's Tag worden ist, bin ich gegen den Untersteiner Wald gelaufen, weil ich schon gefürchtet hab, die Salmued könnt in der Finsternis in eine von Wazemanns Bärengruben gefallen sein. Auf einmal, wie ich hinlauf zum Achensteg, kommt Herr Waze dahergeritten. Und wie er an mir vorbeireitet, da sieht er mich, und da zuckt ein Lachen über sein Gesicht. Mit der Faust hat er dem Roß eins auf den Hals gehauen, daß es einen Sprung getan hat und davongeschossen ist, als wär Feuer hinter ihm. Da hat's mir durch die Seel geschrien: wenn du die Salmued finden willst, so mußt du suchen in Wazemanns Haus! In einem Sauser bin ich durch den Wald aus und hinauf zum Falkensteiner Weg. Das Brückl war ausgezogen und das Tor versperrt. Aber wie ein Zeck hab ich mich angehängt an die Mauer und bin hinaufgekommen. Und droben, was ich schreien hab können, hab ich geschrien: ›Salmued! Salmued!‹ Vier Knecht sind gegen mich hergelaufen, aber aus dem Haus hab ich einen Schrei gehört, und wie ich aufschau, seh ich im Dachfenster der Salmued ihr Gesicht. Die Arm hab ich noch in die Höh gestreckt, und da hat mich einer von Wazes Knechten mit dem Speerholz vor die Brust gestoßen, daß ich rücklings hinuntergefallen bin über die Mauer. Der Gelfrat, Sigenots Vater, hat mich gefunden und hat mir das Blut abgewaschen. Und seit derselben Stund hab ich von der Salmued kein Wörtl nimmer ghört und hab sie meiner Lebtag mit keinem Blick mehr gesehen.« Der Kohlmann lachte. »Sie wird halt sein, wo dem Gernreuter sein Weib hin hat müssen!« Er blickte nach einer fernen Berghöhe, und sein heiseres Lachen verlor sich in Murmeln. »Frau Friderun, mein' ich, kennt den Weg, den die Salmued gegangen ist!«

Eberwein hörte die letzten Worte nicht. Er stand hochaufgerichtet, und seine flammenden Augen spähten über das sonnige Tal und suchten in der von Schatten umsponnenen Ferne den Falkenstein und Wazemanns Haus. Er hob die Faust, und der zurückfallende Ärmel entblößte den nervigen Arm. »Herr Waze! Wir wollen rechten miteinander! Komm, Eigel, führ mich zu Tal!«

Dem Alten voran eilte Eberwein den Hang hinunter. Der Kohlmann holte ihn ein und schüttelte den Kopf. »Nit so tummeln, Herr! Auf Bergweg gehören langsame Füß, und ›Zeit lassen!‹ grüßen bei uns die Leut, wenn's einer gar so nötig hat. Überlauf dich nit, sonst geht dir vor der Zeit der Schnaufer aus.«

Eberwein mäßigte die Hast seines Ganges. »Dank, Alter, für diesen Rat! Auf den Wegen, die meiner warten, ist mir eines vor allem nötig: Geduld und Ruhe! Komm.«

Sie schritten weiter.


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