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Ein grauer, von Schleiern umwobener Abend.
In einem der hölzernen Wächtertürmchen, die über Wazemanns Mauer emporstiegen, stand Henning bei seinem vertrauten Knechte. Sie redeten mit gedämpften Stimmen.
»Weißt du das gewiß, daß er seit Tagen nit mehr ausgefahren ist zur Fischweid?«
»Herr, das schwör ich. Der See liegt offen unter mir. Ich hätt ihn sehen müssen, wenn er gefahren wär.«
»Er braucht aber Fisch!« Henning lachte. »Die Leut, die er gesammelt hat in seinem Hag, wollen zu beißen haben. Bei Taglicht hält er das Tor geschlossen, so muß er fahren in der Nacht und fischen bei der Fackel. Schleich dich hinunter, bevor es dunkel wird, und steig auf einen Baum! Merkst du, daß er die Netz zur Ausfahrt richtet, so komm gelaufen. Und eh du gehst, sprich mit deinen Kammergesellen Zacho und Heripot, versprich ihnen, was du willst!«
Ein Blick des Knechtes machte ihn verstummen; unter dem Wächterhäuschen ließ sich ein Schritt vernehmen; Henning lachte spöttisch. Mit lauter Stimme begann er von dem bösen Wetter zu reden, das die schweren Wolken erwarten ließen. Dann flüsterte er: »Tu, wie ich dir gesagt hab!« und verließ das Wächterhäuschen.
Sein Bruder Eilbert stand vor ihm. »So? Grob Wetter wird kommen? Meinst du?«
»Ich denk!«
»Dann bleib in deiner Kammer heut nacht. Sonst könnt dir das Wetter in die Knochen fahren!« Eilbert wandte sich und ging dem Hause zu.
Henning ballte die Fäuste. Sein Zorn verrauchte schnell. Und lächelnd eilte er dem Bruder nach. »Laß reden mit dir! Ich merk, du hast gelauscht. Gut also! Dir sticht die Dirn in die Augen, mir auch. Müssen wir deshalb gegen einander stehen? Laß uns zusammenhalten als Brüder! Wir wollen die Dirn ausspielen. Willst du?«
Eilbert besann sich. »Gut, ich stell das Brett auf. Komm!« Er stieg über die Freitreppe und hoffte zu gewinnen, weil er der bessere Spieler war. Doch Henning war der bessere Trinker; er ging in den Unterbau des Hauses und befahl der alten Ulla: »Bring einen Krug vom schwersten Met hinauf in meine Kammer!«
Während die beiden Brüder vor dem Brettspiel saßen und bei jedem Stein, der geschlagen wurde, der Schwester Sigenots die Minne tranken, stieg Hennings Knecht über den Felsenpfad hinunter zum Ufer. Als er sich in die Nähe des Fischerhages schlich, sah er Rötli auf dem Lugaus sitzen.
In Sehnsucht spähte sie gegen den Achensteg, denn sie wußte, daß Ruedlieb kommen würde. Wicho und der Altsenn waren vor kurzer Weile aus dem Lokiwald heimgekehrt; unter den Halden der Schönau war Ruedlieb auf den Knecht des Fischers zugesprungen; und bei der Heimkehr hatte Wicho dem Mädchen, das er mit Sigenot auf dem Lugaus gefunden, die Botschaft zugeflüstert: »Am Abend kommt dein Bub, sein Vater mit ihm.« Und Sigenot hatte die Schwester an sich gezogen, hatte zärtlich ihr Haar gestreichelt. »Freu dich nur! Hast ja gehört: er kommt mit seinem Vater. Der Richtmann und ich, wir wollen heut vergessen, daß ein jeder von uns auf anderen Wegen geht, und treulich wollen wir raiten um euer Glück.«
Nun harrte sie ihres Buben. Bei aller Sehnsucht war das Wiedersehen nicht ihre tiefste Freude; sie konnte kaum den Augenblick erwarten, daß sie dem Buben sagen durfte: »Du sollst nit sterben müssen! Leben sollst du! Es gibt keinen Bid. Das hat ein Gottesmann gesagt, der alles weiß. Und schreckt dich der böse Feind, ich weiß ein Mittel wider ihn, da muß er weichen.« Das Gesicht bekreuzigend, stammelte sie das Stoßgebetlein, das Bruder Wampo ihr vorgesprochen. Da klang, weit über die Ache her, der frohe Jauchzer,. mit dem ihr Ruedlieb sein Kommen meldete. Rötli, weil ihr der Weg zum Tor zu weit und das Tor geschlossen war – sprang vom hohen Hag auf den Weg hinunter. Bei der Ache kam sie an dem Busch vorüber, hinter welchem Hennings Knecht verborgen lag. Der machte große Augen: »Die Dirn allein? Bessere Stund kann nimmer kommen.« Im Schatten der Bäume glitt er am Weg entlang und schlich hinter Edelrot über den Achensteg. Wo die Wege sich teilten, holte er sie ein und schlug die Hände um ihre Kehle. Unter gellendem Aufschrei stürzte Edelrot zu Boden. Der Knecht zerrte die lederne Kappe vom Kopf und schloß mit ihr den schreienden Mund. »Komm nur, ich trag dich, daß dir die Füßlen nit müd werden.« Da sanken ihm die Arme. Und während Rötli sich mit halb erloschenen Sinnen vom Boden aufraffte, taumelte der Knecht und rollte lautlos über den Weg. Ein dicker Blutstrom quoll ihm aus der Schulter.
Edelrot sah ihren Buben vor sich stehen; sein Gesicht war bleich; er hielt das Messer in der Hand und starrte nieder auf den entseelten Knecht.
»Ruedlieb!«
Ein Zittern befiel ihn beim Klang ihrer Stimme.
Der Schönauer kam. »Bub! Um aller guten Mächt willen! Was hast du getan?«
»Was ich tun hab müssen. Hast du nit selber gesagt: wenn's zum Ärgsten kommt, so greif zum Messer und stoß zu! Was könnt ärger sein, als was dem Rötli geblüht hat?«
»Bub! Du hast den Tod über dich gerufen.«
»Tod oder Leben. Von denen da droben soll mir keiner an das Rötli rühren.« Das Messer fiel aus Ruedliebs Hand. Er faßte das Haupt des Mädchens, bog es zurück, um ihre Augen zu sehen, und sagte: »Liebe Dirn! Jetzt hab ich dir die Blutblumen ins Haar gelegt. Der Bid hat schnelle Füß.« Sie schüttelte den Kopf und rührte die Lippen, doch die Sprache versagte ihr.
»Fort! Schau, daß du mit ihr den Hag gewinnst!« keuchte der Richtmann und drängte die beiden der Ache zu.
Eines das andere umschlingend, überschritten sie im Zwielicht des Abends den rauschenden Bach; unter den Bäumen sahen sie nicht, daß ein junger Bauer ihnen entgegenkam, hörten nicht, daß er zu ihnen redete. Es war der Hanetzer, der mit halb geheilter Wunde von den Almen kam. Lachend sah er den beiden nach. »Die hat das Liebesglück blind und taub gemacht!« Er wanderte zur Ache; unter den letzten Bäumen stockte ihm der Schritt. Drüben am anderen Ufer schleifte der Richtmann einen stillen Mann zur Böschung und ließ ihn niederrollen in die schießenden Wellen. Das gelbe Wams des Knechtes leuchtete noch aus dem Wasserschaum; dann verschwand es. Der Schönauer sprang zum Seeufer, warf sich auf die Knie und stieß die blutigen Hände in den Wasserschwall. Mühsam erhob er sich und mußte, als er den Steg überschritt, das Geländer fassen. Beim ersten Schritt ans Ufer machte der Schreck ihn erstarren – der Hanetzer stand vor ihm.
»Du, Richtmann?«
»Wohl. Guten Weg zum Abend!« Der Schönauer wollte vorübergehen.
Der andere vertrat ihm den Weg. »Einer, der beim Thing gewesen, hat mich merken lassen, du wärst für die Wazemannsleut. Mir scheint, du hast dich anders besonnen. Oder hast du aus lauter Freundschaft einem von denen da droben zur letzten Ruh verholfen?«
Der Schönauer streckte die Hände nach dem Mund des Bauern. »Schweig!«
»So? Jetzt soll ich Maul und Wort halten? Aber ich bin keiner von den Wortfesten. Hast mich ja nit zum Thing gerufen!« Lachend schritt der Hanetzer über den Steg und war im Dunkel des Abends verschwunden.
Um die gleiche Zeit trat Sigenot mit dem Jungsenn aus dem Fischerhause und öffnete das Hagtor. »Jetzt geh und tu dich nit fürchten. Einer geht mit dir, bei dem die Hilf ist. Einen weiten Weg mußt du laufen, und tief wird der Schnee schon auf den Bergen liegen, bis du heimkehrst. Aber denk: an deinen Füßen hängt unser Wohl und Weh. Und zeig, daß du der Bub bist, für den ich dich gehalten hab.«
»Da wird nichts fehlen.«
Der Fischer faßte die Hand des Burschen und trat mit ihm vor das Kreuz. »Mein guter Herre, du mein Gott! Tu mir den Buben hüten!«
Scheu zog der junge Senn das Lederkäpplein von seinem Flachshaar und hob die Augen zum Kreuz; dann schied er von seinem Herrn mit wortlosem Händedruck.
Sigenot wollte in den Hag zurückkehren. Da sah er die Schwester mit Ruedlieb von der Ache kommen. »Schau, nit erwarten hat sie's können! Die Lieb geht durchs verschlossene Tor und springt über jeden Hag.« Er ging dem Paar entgegen und streckte die Hände. Bevor er reden konnte, kam der Schönauer keuchend unter den Bäumen hervorgesprungen, drängte sie alle in den Hag, warf das Tor zu und legte den Balken ein.
Nun hörte Sigenot, was geschehen war. Er schlang den Arm um die Schwester und sagte zum Richtmann: »Schilt nit wider deinen Buben! Ich steh zu ihm. Wär ich an seiner Stell gewesen, mein Messer wär rot geworden wie das seinige. Laß das Klagen, Richtmann! Alle Klag lauft hinter dem Unheil her. Wir müssen den Vorsprung haben mit der Hilf.« Laut rief er: »Wicho!«
Der Knecht kam von der Scheune gelaufen. »Was gibt's?«
»Wachsende Not! Führ die Kinder in deine Kammer! Die Mutter soll nichts erfahren, eh wir nit wissen, was geschehen muß. Dann hol den Kohlmann aus der Stub und komm mit ihm zur Tenn!«
Eine Weile später saßen die vier Männer in der Scheune, bei geschlossenem Tor, durch dessen Fugen noch ein matter Dämmerschein des Abends flimmerte. Wicho hielt die Butterlampe auf dem Schoß und wahrte mit hohler Hand das kleine Flackerlicht, dessen Helle über die bleichen Gesichter zuckte. Der Richtmann erzählte, wie alles gekommen. Schweigend hörten sie ihn an. Als der Schönauer von der Begegnung mit dem Hanetzer sprach, fiel Wicho ein: »Das ist von allem das leidigste. Den kenn ich. Laßt ihm Herr Waze nur einen einzigen Käs von der Steuer nach, so wird er das Maul nit halten und verkauft uns alle.«
»Und den Kerl hab ich so gut verbinden müssen, daß er heut schon wieder lauft!« schalt der Kohlmann. »Aber jetzt? Was tun? Morgen wird Herr Waze den Knecht vermissen, und die Hatz geht an. Wo wird sie ein End haben?«
»Wo mein Elend anfangt!« sagte der Richtmann. »Man wird den Blutbann werfen auf mein Haus. Wie soll ihm mein Bub entrinnen!«
Sigenot legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sei guten Muts! Ich führ ihn zu unserem Herrn hinaus in den Lokwald.«
Der Richtmann schüttelte den Kopf. »Der Weg ist meinem Buben verlegt. Ich hab geschworen im Thing.«
Die Scheune widerhallte von Eigels zornigem Gelächter. »Merkst du's jetzt am eigenen Löffel, was du für eine Supp hast kochen helfen auf dem Totenmann?«
»Ich hab getan, was ich tun hab müssen. Jeder kennt nur die Stund, in der man schnauft, keiner mißt den Tag, den die Mutter Nacht im Schoß tragt. Tu das Gute, tu das Schlechte, geh zur Rechten, geh zur Linken – keiner weiß, wo der Weg ihn hinführt. Alles kommt, wie's mag.« Der Richtmann preßte das Gesicht in die Hände. »Gobl! Ich fürcht, ich muß noch sitzen unter deinem Apfelbaum!«
»So denk ich nit,« sagte der Fischer, »aber laß uns sinnen auf Hilf. Dein Bub muß fort, und du mit ihm.«
»Fort? Mein Haus verlassen?«
»Laß dein Haus fahren, halt deinen Buben fest!«
Der Richtmann nickte. »Fort? Wohin? Überall wird er ihn finden.«
»So birg ihn, wo er ihn am letzten sucht: auf Wazemanns Bannberg! Droben wird Schnee fallen in der heutigen Nacht. Da hat's mit dem Gejaid ein End. In der verlassenen Albhütt hinter dem Eismann habt ihr ein gutes Weilen. Holz zum Feuer steht nit weit. Zehrung laß ich euch tragen in jeder vierten Nacht. Hätt ich die Mutter nit, ich selber ging mit euch.«
Die Männer fanden, daß es von allem Rat der beste wäre. »Jetzt harret,« sagte Sigenot, »bis ich mit der Mutter geredet hab. Ich mein', das Rötli wird den Buben allein nit ziehen lassen. Feste Lieb hat feste Ketten.« Er drückte die Fäuste auf seine Brust und verließ die Scheune.
Graue Nacht lag über dem Hag, und ein kalter Wind kam von den Bergen niedergezogen. Während Sigenot dem Haus entgegenschritt, blickte er der Richtung zu, die der junge Senn genommen. »Lauf, Bub, lauf!« –
Finster ragte in der Ferne der Untersberg, und wie ein schwarzer See lag ihm der Lokiwald zu Füßen. Ans der offenen Tür der Klause strahlte der Herdschein über die Lichtung. Bruder Wampo schaffte beim Feuer, neben dem die über Stangen gespreizte Wolfshaut zum Trocknen aufgestellt war. Schweiker saß in einem Winkel, die Hände im Schoß. Als er bei seiner Rückkehr Eberwein in der Klause gefunden, war er vor ihm niedergefallen und hatte den Saum seines Gewandes geküßt. »Herr! Ich hab dich schlecht gesucht!« Dann war kein Wort mehr über seine Lippen gekommen. Auch Waldrams Heimkehr riß ihn nicht aus seinem schweigsamen Brüten.
Der Pater sah übel aus, kaum trugen ihn die Füße noch, sein Gesicht und seine Hände bluteten, und in Fetzen hing die Kutte von ihm nieder. Als Eberwein, der den hinkenden Knaben auf dem eigenen Lager gebettet hatte, aus seiner Zelle trat, eilte er erschrocken auf Waldram zu. Der Mönch streckte den dürren Stecken vor und rief mit erloschener Stimme: »Du lebst noch? Meineidiger! Der du dem Himmel die Treue brachst!« Wortlos kehrte Eberwein in seine Zelle zurück. Dann rief ihn die schreiende Stimme Bruder Wampos; als er dem Rufe folgte, fand er Waldram in der Kirche bewußtlos zu Füßen des Kreuzes hingestreckt. Sie trugen ihn zu seinem Lager, und Eberwein wusch ihm das Blut vom Gesicht.
Die Nacht wurde finster. Aus Waldrams Zelle klangen manchmal die lallenden Worte, mit denen der unruhig Schlummernde in Traum und Fieber redete. Eine Kienfackel erleuchtete die Zelle Eberweins; Huze lag, die gefalteten Hände unter der Wange, und sah mit glänzenden Augen auf den Mönch, der bei der Fackel auf niederem Holzpflock saß, das Schreibrohr in der Hand, ein Pergamentblatt auf dem Schoß. Eberwein schrieb die Botschaft an den Bayernherzog, die der Jungsenn tragen sollte. Häufig stockte ihm die gleitende Feder. Drückende Schwere lag auf seinem Herzen, doppelt drückend, da ihm der Trost versagt war, seine Sorge auszusprechen. Wenn er die Brüder nicht entmutigen wollte, mußte er verschweigen, was ihm in Wazemanns Haus geschehen war. Ohne zu wissen, wie auf dem Totenmann das Thing gesprochen, ahnte er, daß nur die Furcht vor Waze alle Tore vor ihm schloß und alle Ohren taub machte für den Hall der Glocke. Böse Tage sah er kommen für seine junge Klause. Unter dem Druck dieser Sorge hatte er sich entschlossen, die Hilfe seines herzoglichen Freundes anzurufen. Er schrieb – und zögerte wieder. Und sah das stille Pfarrhaus in der Ramsau. Er hatte das Wort nicht einlösen können, das er gegeben, und er wußte: Waldram hatte, als die Brüder nach dem Vermißten suchten, die Richtung gegen die Ramsau genommen! Eine quälende Ahnung beschlich ihn. Hätte ihn nicht die Pflicht in der Klause festgehalten, er hätte in finsterer Nacht den Stab gefaßt und wäre ausgezogen, um die Wunde zu schließen, die er wider Willen einem frommen, gottesfreudigen Glück geschlagen. Hier hielt ihn eine Pflicht, dort zog ihn eine andere! Welche mußte ihm heiliger sein? Ein quälendes Bild stieg auf: Hiltischalk und Hiltidiu standen vor ihm, mit verschlungenen Händen, mit stummen Lippen und redenden Augen. Und ein anderes Bild erschien: in weißem Mantel und mit wehendem Rothaar. Ob er auch die Hände vor die Augen schlug, er konnte dieses Bild nicht scheuchen.
Erschrocken richtete sich Huze vom Lager auf. »Guter Herr, was ist dir?« Eberwein ging auf den Knaben zu und umschlang ihn.
Bruder Wampo trat in die Zelle. »Herr, ein Bursch ist draußen, den der Fischer geschickt hat.«
»Laß ihn warten beim Feuer!« Aufatmend strich Eberwein mit der Hand über das struppige Haar des Knaben. »Du sollst schlafen, Huze!«
»Ich hab dich angeschaut. Jetzt mach ich die Augen zu.« Der Bube streckte sich und schloß die Lider. Und Eberwein begann zu schreiben.
In der Herdstube saß der Jungsenn neben dem Feuer; er hörte nicht, was Bruder Wampo leise schwatzte; seine Gedanken waren im Fischerhaus, an der Stätte, die er so bald nicht wiedersehen sollte. Dort saßen sie wohl beim Herdschein um den steinernen Tisch, mit ernsten Reden und freundlichem Zutrunk?
So meinte der junge Senn; die Wirklichkeit hatte ein anderes Gesicht.
Wohl erfüllte die flackernde Herdflamme die Halle mit ihrem zuckenden Licht, und ernste Worte wurden gesprochen; aber niemand dachte des abendlichen Umtrunks. Wicho, Hilmtrud und Kaganhart standen vor dem Steintisch und beluden zwei Kraxen mit Kleidungsstücken, mit Gerät und Zehrung. Eigel stand bei der offenen Tür und lauschte hinaus in die Nacht, während der Richtmann wortlos auf dem Herdrand saß. Mutter Mahtilt ruhte wie versteinert in ihrem Lehnstuhl, die Hände im Schoß; mit Sorge hingen ihre Augen an Rötli, die schluchzend den Verlobten umfangen hielt. Sigenot legte die Hand auf ihre Schulter: »Hör mich an, Schwester! Mit Weinen ist nichts getan. Jetzt mußt du reden. Der Bub steht unter Blutschuld aus Lieb zu dir. Soll er allein ziehen? Oder willst du stehen bei ihm und aushalten an seiner Seit in Gefahr und Not?«
»Allweil! Und nimmer lassen von ihm!«
»So geh, Bub,« Sigenots Stimme schwankte, »bitt die Mutter um ihr Kind!«
Der Richtmann erhob sich, und während die andern herbeitraten, knieten Ruedlieb und Rötli vor Mutter Mahtilt nieder. Lallend umschlang sie die Kinder und neigte das Gesicht auf ihre Häupter; nach einer stummen Weile richtete sie sich auf, streifte einen silbernen Reif von ihrem Finger und reichte ihn dem Buben. Der Richtmann zog das Messer und gab es in die Hand des Sohnes. Auf die blanke Klinge legte Ruedlieb den Reif und bot ihn seiner Braut: »So nimm von meiner Lieb und Treu den Reif als Pfand; den sollst du tragen an deiner lieben Hand. Fest und ohne End, wie der Reif gewunden, ist Treu an Treu in guter Eh gebunden. Fest muß sie halten in Glück und Freuden, hundertmal fester noch in Not und Leiden. Des müssen wir gedenken in aller Zeit: Treu haben wir gelobt über scharfer Schneid!«
Während Ruedlieb sprach, hob Mutter Mahtilt eine Staude aus dem Herdwinkel, streifte das dürre Laub ins Feuer, brach zwei Stäbe von der Gerte und warf sie auf die Steine; Seite an Seite kamen sie zu liegen, nach dem Herd gerichtet. Ein frohes Lächeln glitt über den Mund der stummen Mutter – freundlich hatten die Lose für ihres Kindes Glück gesprochen. Sigenot hob die Schwester von der Erde. »Deine Mutter hat nimmer Sprach, dein Vater weilet, ich weiß nit, wo. So muß dir der Bruder das letzte Heimwort sagen. Bist eine brave Tochter und Magd gewesen. Sei kein schlechtes Weib! Ich muß dir eine trübe Hochzeit rüsten, kann dir kein Veiglein ins Haar legen, Blutblumen müssen dein Kränzl sein. Ich kann dir die Kunkel nit wickeln mit rotem Band, und du hast keinen lustigen Brautlauf in lichter Sonn, über Halden und Blumenklee. Dein Brautlauf geht in der Nacht über Blut und Not, über Stein und Tiefen. Aber rechte Lieb hat einen Schein in aller Finsternis, und feste Treu macht Weg und Gruben eben. Komm, Bub, und nimm dein Bräutl! Viel nimmst du uns weg. Aber eins versprich mir! Kommt wieder sonnscheinige Zeit, daß ihr heimkehren dürft, so geh in der ersten Stund mit deinem Weib hinaus zum Lokstein, daß der gute Herr eure Händ ineinanderlegt.«
»Wohl!« Mehr brachte Ruedlieb nicht aus der Kehle.
»Jetzt geht miteinander! Einer, der von allen der Stärkste ist, wird schauen auf euch!«
Unter Tränen warf sich Rötli an der Mutter Hals. Der Richtmann legte die Hände auf die Schultern seines Buben, sah ihm in die Augen und rüttelte ihn; sprechen konnte er nicht. Dann kamen die anderen und drückten Ruedliebs Hand. Sigenot löste die Schwester aus den Armen der Mutter und führte sie zur Türe. »Wicho! Schwing der Haustochter den Herdbrand!«
Mit feierlichem Ernst zog der Knecht ein flackerndes Scheit aus dem Feuer und trug es vor der scheidenden Braut hinaus in die Nacht. Prasselnd loderte die Flamme im Wind. Dreimal umschritt der Knecht die Braut, den Brand über ihrem Haupte schwingend, dann warf er das brennende Scheit auf ihren Weg. Edelrot faßte Ruedliebs Hand und stieß den Brand mit dem Fuß beiseite: sie war gelöst vom elterlichen Herd.
Sigenot brachte den beiden die Grießbeile, die sie nötig hatten auf ihrem Weg, und öffnete vor ihnen das Hagtor. Der Richtmann und Wicho folgten mit den beladenen Kraxen.
»Gib mir dein Messer und nimm das meine,« sagte der Richtmann zum Fischer, »zeig es meinen Leuten, und sie hören auf dein Wort.« Sie tauschten die Messer.
»Bruder!« stammelte Edelrot.
Er küßte ihre Wange. »Jetzt muß geschieden sein!« Ruhig trat er in die Hofreut zurück und schloß das Tor.
Schluchzend warf sich Edelrot gegen die Bohlen; Ruedlieb umschlang sie, und zitternd hing sie an ihm, der sie unter zärtlichem Stammeln hinauszog auf den finsteren Weg.
Der Richtmann stand noch und starrte über den schwarzen See zur Höhe der Falkenwand.
An Wazemanns Haus leuchteten alle Fenster. Die Hunde rumorten, und Stimmenlärm klang aus der Halle.
Herr Waze saß bei der Tafel, fünf seiner Söhne um ihn her; er trug noch die kalte Binde um den Kopf, hatte aber das Grausen vor dem Met schon überwunden. »Wo bleiben die beiden Buben?« schrie er in Ungeduld. »Ich hab zu reden mit euch. Wir müssen beschließen, was morgen geschehen soll. Sie sollen kommen. Wo sind sie?«
»Noch allweil sitzen sie über dem Spielbrett,« lachte Rimiger, »einer rauschiger als der andere.«
»Hol sie! Und wenn sie nit kommen wollen –«
Da klang Geschrei aus der Kammer, das Klappern des fallenden Spielbretts und das Poltern eines umgeworfenen Sessels. Henning taumelte in den Saal, und Eilbert stürzte hinter ihm her. Lärmend warfen sich die andern zwischen die beiden. »Laßt mich!« lallte Eilbert. »Ich muß ihm an den Hals! Er hat betrogen im Spiel, hat mir den Becher gereicht und hat mit dem Ellbogen einen Stein geschoben.«
»Das lügst du!« kreischte Henning. »Komm nur, ich will dir das Hirndach dreschen!«
Mit Mühe konnten die Brüder die Berauschten voneinander halten. Recka war auf der Schwelle ihrer Kammer erschienen, hatte sich wieder abgewandt und die Türe zugeworfen. In keifendem Zorne schalt Herr Waze auf die Betrunkenen los.
»Laß ihnen den Pfaffen herausholen!« lachte Rimiger. »Der soll ihnen eine Predigt halten über Bruderlieb und Ehrlichkeit!«
Gelächter erhob sich, und Herr Waze nickte. »Recht hast du, Bub! So hat der Pfaff doch einen Zweck.« Er löste den Schlüssel von seinem Gürtel. »Hol ihn, und will er mucksen, so fahr ihm an die Rippen.«
Rimiger und Otloh eilten davon, während Herr Waze wieder sein Schelten begann. Die Stimme wurde ihm heiser, stöhnend griff er nach seinem Kopf, trat zur Tafel und hob die Bitsche. Da stürzte Otloh in den Saal: »Vater! Die Tür war gut verschlossen, aber das Loch ist leer.«
Herr Waze spuckte den Trunk wieder aus, den er genommen hatte, und starrte den Boten an. Dann schüttelte er den Kopf, riß eine flackernde Kerze vom Lichtreif und sprang zur Türe. Wie ein Rudel Wölfe rannten die Söhne hinter ihm her, auch Henning und Eilbert, als wären sie jählings nüchtern geworden. Sie erreichten den Kellerbau. In der offenen Tür des Bußloches stand Rimiger und stotterte: »Der Pfaff und der Bub, all beid sind fort, wie durch die Wänd geflogen!«
Herr Waze stieß ihn beiseite und leuchtete in den Raum; er sah nur die kahlen Wände und das faule Stroh. »Sein Heiliger,« lallte er, »sein Heiliger hat ihm geholfen!« Das Wunder machte ihn zittern.
Ein dumpfes Rauschen ging um das Haus. War es ein Windstoß, oder war es der Regen, der zu fallen begann? Über Tal und See, über alle Berge fiel es nieder durch die Nacht in unsichtbaren Strömen. Ein rauher Wind, bald stockend, bald wieder im Wirbel jagend, peitschte den Regen. –
Auf einem Karrenweg, der über die Halden der Schönau führte, wanderten die vier Menschen, die das Fischerhaus verlassen hatten. Wicho schritt voran; Ruedlieb hatte sein Lodenwams abgenommen und um Rötlis Schultern geschlungen; sie schien den Regen nicht zu fühlen; im Schreiten lag sie an Ruedlieb angeschmiegt, der sie stützte bei jeder rauhen Stelle des Weges. Der Schönauer war zurückgeblieben; durch die Finsternis spähte er über die schwarzen Halden hinunter nach seinem Hag. Der Regen schlug ihm ins Gesicht, und seufzend wandte er sich ab. »Mein liebes Haus, schier muß ich fürchten, ich seh dich nimmer.«
Als sie den Schapbacher Forst erreichten, zündete Wicho die Fackel an, die er mitgenommen. Nun hatten sie ein besseres Wandern; doch häufig mußten sie durch Bäche waten, die den Pfad überschwemmten. Der Weg begann zu steigen, und eine Stunde ging es bergan. Von den Almen hörten sie das Gebrüll der Rinder. »Droben muß der Schnee schon fallen,« meinte der Schönauer, »die Küh begehren auf.«
»Wohl,« nickte Wicho, »morgen wird mancher an den Heimtrieb denken.«
Schweigend stiegen sie weiter. Durch ein langes Waldtal ging der Weg, dann quer über einen steilen Berghang. Da hörten sie aus den Lüften einen seltsamen Klang, mächtig und doch wie klagend – als wäre eine baumdicke Saite gesprungen. Lauschend standen sie still; sie hörten nichts mehr; nur der Regen plätscherte, und rauschend fuhr der Wind durch die Wipfel der Bäume.
»Was muß das gewesen sein?« fragte Wicho. Und der Schönauer sagte: »Ich mein', es hat ein Berg geschrien. Das hab ich einmal gehört als Bub. Selbigsmal hat sich über dem Göhl eine Fragel aufgetan, und eine ganze Wand ist niedergegangen über die schönsten Alben.«
Sie stiegen weiter. Nach einer Weile senkte sich der Pfad und führte hinunter in das stundenlange Tal, zwischen dessen Felswänden der Windacher See gebettet lag. In murrendem Wellengange schwankte das dunkle Wasser. Mit schneidender Kälte blies der Wind, und die Nacht wurde grau, denn Flocken mischten sich in den fallenden Regen.
Zwei Stunden dauerte die Wanderung am See entlang. Als der Pfad über Steingeländ emporführte, begann der Grund unter den Füßen der Wandernden sich licht zu färben, und bald umhüllte sie gleich einem Schleier das Gewirbel der weißen Flocken.