Ludwig Ganghofer
Die Martinsklause
Ludwig Ganghofer

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15

Die Sonne stand in Mittagshöhe, als Herr Waze mit seinem Geleit sich dem Ende des Windacher Seetals näherte. Vor der wachsenden Wärme war der Schnee über den Berghang zurückgewichen; nur die Streifen einzelner Lawinen reichten durch die Gräben nieder bis zum Seeufer, mit so festliegendem Schnee, daß die Hufe der Rosse über ihn wegschritten wie über harten Grund. Nur kümmerlicher Baumwuchs deckte das steinige, von Schluchten durchrissene Gehäng. Dennoch bot das öde Felstal einen freundlichen Anblick; die Sonne übergoß es mit ihrem Glanz, leuchtend spiegelte der regungslose See den Silberglanz der beschneiten Höhen und das Blau des Himmels.

Lautlose Ruhe. Hoch im Gewände war das Poltern der fallenden Steine verstummt, und nirgends verriet eine aufstäubende Schneewolke den Sturz einer Lawine. War der Aufruhr, der die Natur befallen hatte, zum Schweigen gebracht? Oder sammelten die dunklen Gewalten Kraft und Atem zu neuer Empörung?

Wie eine dumpfe Stimme, fern aus dem Tal herauf, klang in die Stille das seltsame Rauschen der Windach. Herr Waze und seine Söhne, die unter lachenden Reden auf schmalem Pfad am Seeufer dahinritten, achteten der Mahnung nicht, die hinter ihnen tönte. Nur die Knechte, die, dem Zug der Rosse folgend, die ungestümen Hunde an den Riemen führten, blieben zuweilen stehen, blickten lauschend nach rückwärts und schüttelten die Köpfe.

Als der See zu Ende ging, stiegen die Reiter aus dem Sattel. Zwei Knechte übernahmen die Hunde, denen die ledernen Zwingen um die Schnauzen gelegt wurden; und während die beiden anderen Knechte zur Bewachung der Pferde zurückblieben, begann Herr Waze mit seinem Geleit den Anstieg über den waldigen Hang.

Ungewöhnliches Leben zeigte sich im Bergwald; Vögel huschten ruhelos umher, und häufig war flüchtendes Rotwild zu gewahren. Nicht die bergwärts Steigenden schreckten das Wild aus seiner Ruhe; es kam von der Höhe und suchte das Tal. Auch der Wald hatte ein so verändertes Gesicht, daß Herr Waze meinte: »Da hat der Regen bös gehaust!« Lärchen und Fichten, in ihrem Wurzelhalt gelockert, standen schief durcheinander; lange Risse gingen durch die Moosdecke; große Steine waren aus der Erde herausgedrückt wie Kerne aus der Frucht; ein leises Ächzen ließ sich manchmal vernehmen, als würden straff gespannte Wurzeln langsam abgedreht, und ein übler Geruch wie von faulem Wasser stieg aus allen Erdschrunden.

»Noch ein Regentag wie der gestrige, und der Fetzen Wald da bricht hinunter!« Mehr schloß Herr Waze nicht aus den Zeichen, die er gewahrte. Noch minder hatten seine Söhne ein Auge dafür. Wenn unter einem von ihnen die Moosdecke brach, dann lachten die anderen und sprangen zur Seite.

Als der Wald ein Ende nahm und die verschneiten Halden begannen, hörten die Steigenden leisen Steinfall aus der Höhe. Über weißem Grat erschien ein Rudel Gemsen. Schwarz hoben sich die zierlichen Gestalten der Tiere vom Schneegrund ab. Immer neue Köpfe tauchten über den Grat empor. Eine Weile standen die Gemsen regungslos und äugten gegen die höheren Wände des König Eismann. Dann plötzlich begannen sie talwärts zu flüchten in gedrängter Schar. Gleich einer schwarzbraunen, ins Gleiten geratenen Erdscholle kam das Rudel über den steilen Schneehang heruntergefahren. Die Hunde, die das Wild erspäht hatten, zerrten an den Riemen und winselten unter dem Leder, das ihre Schnauzen schloß. Mitten auf dem Hang hielten die Gemsen inne und äugten auf den Trupp der Leute nieder. Dann stoben sie, das Tal auf geradem Wege suchend, nah an Wazemann und seinen Leuten vorüber, als wäre in ihnen nicht die Angst vor Menschen und Hunden, sondern andere Furcht. Herr Waze schüttelte den Kopf. »Das versteh ich nit.«

Henning lachte. »Hinter dem Eismann hausen Leut und schüren Feuer in der Ödhütt. Und du verstehst nit, was die Gemsen laufen macht?«

»Ich seh den Otloh!« fiel Rimiger ein. »Dort oben hockt er und späht über den Schneegrat nach der Ödhütt!«

»Hinauf!« Ansteigend stieß Herr Waze den Eisenstachel des Grießbeils auf eine Felsplatte; sie brach entzwei und die Splitter stoben auseinander, als hätte ein Zauber den festen Stein in sprödes Glas verwandelt. Das gewahrten die Knechte, die hinter dem Spisar die winselnden Hunde führten. Einer von ihnen stieß mit dem Schuh an eine Scholle des zerborstenen Gesteins, und da flogen ihm die Splitter bis an die Brust empor und ins Gesicht. »He, du,« rief er seinen Gesellen an, »schau nur, was für ein närrischer Stein das ist!« Er wollte zu Boden greifen. Die Hunde rissen ihn vorwärts. Unter der Stelle, die der Knecht verlassen hatte, ließ sich ein mattes Knirschen vernehmen. Langsam hoben sich die Brocken des zertrümmerten Steines aus dem Grund hervor, es bildete sich im Boden ein Riß, der schleichend in die Breite wuchs, und ein schwarzer Erdwulst legte sich wie zäher Teig über den Schnee heraus.

Herr Waze und seine Söhne stiegen höher und höher. Sie wunderten sich, daß Otloh so regungslos dort oben saß. »Der Bub muß heißes Blut haben,« meinte Sindel, »sonst möcht er sich rühren im Schnee.«

Rimiger sagte: »Er wird die Hütte nit aus den Augen lassen!«

»Jetzt laufen sie uns nimmer davon!« lachte Henning. »Schauet nur: der Rauch steigt aus dem Albental über den Grat herauf! Sie kochen ihr Mahl.«

»Die Supp soll ihnen versalzen werden!« Zu kurzer Rast auf das Grießbeil sich stützend, spähte Herr Waze nach der kleinern bläulichen Wolke, die sich über den weißen Grat emporkräuselte in die sonnigen Lüfte. –

Hinter jenem Grat, auf dessen Höhe Otloh so regungslos die Wache hielt, senkte sich der überschneite Steingrund zu einer weiten Mulde. Ehe Herr Waze, um seinem Fahlwild Ruhe und Äsung zu sichern, die Gehänge des König Eismann mit seinem Bann umhegte, hatte dieses Bergtal als die beste Albe des Gadens und der Ramsau gegolten. Aus jener Zeit noch stammte die Hütte, die sich inmitten des kesselförmigen Tales erhob.

Der Schnee, der über das Dach gefallen, war geschmolzen und durch die Balken quoll der Rauch des Feuers, das auf der Herdstatt brannte. Sein Schein beleuchtete ein stilles Glück. Rötlis geschickte Hände hatten dem unwirtlichen Raum ein freundliches Ansehen verliehen. Kein Span und keine Heuflocke lag verstreut, und jedem Stücklein Gerät und Gewand, das man aus dem Tal heraufgetragen, war an der Balkenmauer seine Stelle angewiesen.

Während Ruedlieb die zerhackten Latschenäste, die er unter dem Schnee hervorgezogen, neben dem Feuer übereinanderschichtete, damit sie trocknen und besser brennen möchten, stand Rötli vor dem Herd, das Gesicht vom Feuerschein überstrahlt, und behütete als junges Hausmütterchen die Pfanne. Ihre Achtsamkeit wurde oft gestört. Ehe sie schmollen konnte, schloß ihr ein warmer Mund die Lippen.

Einmal seufzte Rötli aus tiefem Herzen.

»Schätzl, was ist dir?« fragte Ruedlieb und strich mit der Hand über ihr Braunhaar.

Sie hob die feuchten Augen. »Was meinst du, wie es meiner Mutter geht und dem Bruder?«

»Gut! Wie denn anders? Dein Bruder steht wie ein Baum, an den sich die Maulwürf nit antrauen. Uns hat er in sichere Hut geschickt. Sich selber weiß er zu wahren.«

»Aber wenn die Wazemannsleut –« Rötli redete nicht weiter. Welche Sorge wäre im Herzen einer Liebenden so groß, daß der heiße Kuß des Geliebten sie nicht zu geschweigen vermöchte!

Der Trost, den Ruedlieb spendete, hatte so lange Dauer, daß der Brei in der Pfanne verdächtig zu duften begann. Erschrocken stammelte Rötli: »So, jetzt hätt ich schier unser Mahl verbrennen lassen! Geh, ruf den Vater, daß wir mahlzeiten!«

Ruedlieb sprang zur Tür und sah in lachender Freude auf sein junges Weib.

Draußen vor der Schwelle saß der Richtmann auf einem Steinblock. Er hatte die Hütte verlassen, um das Glück seiner Kinder nicht durch den Anblick der Sorge zu bekümmern, die aus seinen vergrämten Zügen redete. Die ganze Nacht hatte er kein Auge geschlossen, nur immer dem Murren der Lawinen gelauscht und dem Gerassel der Steine, die von den Wänden niedergingen und ihren Weg an der Hütte vorübernahmen. Auch sonst noch hatte er in der unheimlichen Nacht Geräusche und Stimmen vernommen, die er nicht zu deuten wußte, und die ihn mit Angst erfüllten.

Nun saß er seit Stunden einsam vor der Hütte und spähte empor zum steilen Gipfel des König Eismann. Tiefe Windstille war in der Mulde um die Hütte her. Dort oben aber mußte Sturmwind herrschen. Vom Gipfel des Berges hoben sich zwei silberweiße, langgezogene Schneewolken in die blauen Lüfte, schlängelten sich und griffen durcheinander, als wären dem Bergriesen die steinernen Arme lebendig geworden.

Da klang von der Hüttentür die Stimme Ruedliebs: »Komm, Vater! Das Rötli hat aufgekocht, wir wollen Mahlzeit halten!«

Der Schönauer winkte dem Sohn. Als Ruedlieb kam, faßte ihn der Vater bei der Hand. »Ich hab vor dem lieben Kind nit reden mögen. Jetzt hör mich an, Liebli: wir müssen fort in der Nacht! Der Berg ist nimmer sicher.«

Ruedlieb erschrak. »Meinst du, Herr Waze hätt erfahren –?«

Der Richtmann schüttelte den Kopf. »Ich fürcht den Berg.«

»Die Stein und Lahnen?« Ruedlieb lächelte. »Schau doch auf! Es ist wieder sonnscheinige Zeit, und der Schnee liegt fest.«

»Ich kenn die Berg, Liebli, ich bin älter als du. Aber ich mein', es müßt was kommen, was ich selber noch nie gesehen hab. Alles ist lebig in der Rund. Und zur Nachtzeit hab ich die Steinalfen schreien hören. Mir grauset, Bub! Der Bidem steckt im Berg wie die Schermaus unter dem Traidfeld. Wir müssen fort. Die Nacht ist lang und reicht wohl aus, daß wir durch die Ramsau flüchten und das Haller Tal gewinnen.«

Aus der Hütte klang Rötlis Stimme: »So kommet doch!« Mit einem Sprung war Ruedlieb bei der Türe. Als der Richtmann ihm folgen wollte, hörte er von der Höhe des weißen Grates einen Laut. Betroffen lauschte er. War's eine menschliche Stimme gewesen? Oder der winselnde Laut eines Hundes? »Ich muß es wissen!« Mit der einen Hand fühlte er, ob er das Messer am Gürtel trüge, mit der anderen faßte er einen schweren Latschenast, der vor der Hütte lag, und eilte gegen den Hang.

»Vater! Komm doch!« mahnte die Stimme Ruedliebs.

»Esset nur derweil! Mir schmeckt der Brei so lieber, wenn er verkühlt hat.« Die Worte des Richtmanns klangen rauh. Durch den klebrigen Schnee begann er emporzuwaten. Als er nach schwerer Mühe den Grat erreichte, stand er wie versteinert. Auf blutgetränktem Schnee lag mit zerschmettertem Haupt eine Leiche, deren starre Totenhand noch den Eibenbogen umklammert hielt: Otloh, Wazemanns Jüngster. Ein stürzender Fels, der eine tiefe Furche durch den Schnee gerissen, war über ihn weggegangen. Der Richtmann begriff nicht, was er sah, und griff sich an die Stirne. Da hörte er über den Grat herüber die Stimmen der Wazemannsleute und das Gewinsel der Hunde; einen Schritt noch tat er; dann sah er sie kommen. Auf die Weite eines Pfeilwurfs waren sie unter ihm. Sie hatten ihn schon erblickt und auch erkannt. Das verriet ihm ihr Geschrei und der Pfeilschaft, der vor seinen Füßen im Schnee versank. Einen Augenblick stand er ratlos mit verzerrtem Gesicht. Dann faßte er die Leiche und gab ihr einen Stoß, daß sie über den steilen Hang hinunter und den Emporsteigenden entgegenrollte, von Schnee überwirbelt, umprasselt von nachstürzendem Geröll.

Er sprang zurück, und das Messer aus der Scheide reißend, schickte er einen gellenden Notschrei hinunter in das stille Bergtal. Der hallende Ruf weckte das Echo an allen Wänden. Es rieselte der Schnee, Steine rollten, und überall in den Felsen schrie es, als wären zwanzig Stimmen lebendig geworden in der Öde.

Ruedlieb und Edelrot kamen aus der Hütte gesprungen. Auf der weißen Höhe sahen sie den Vater stehen und wußten nicht, was sie denken sollten.

Da schrillte der Ruf des Richtmanns: »Laufet! Hinter mir die Wazemannsleut!«

Rötli erblaßte; auch aus Ruedliebs Wangen jagte der Schreck alles Blut; seine Hand griff nach dem Messer. Gestalten tauchten über den Grat empor: Herr Waze, Henning, Rimiger und Sindel, und hinter ihnen die Knechte mit den Hunden. Zitternd klammerte sich Edelrot an Ruedliebs Brust. »Der Unfürm! Und seine Hund!«

»Laß ihn kommen!« Ruedlieb richtete sich auf. »Dir geschieht nit wie dem Rösli, aus deren Blut die Albenros gewachsen. Leben sollst du, oder ich sterb mit dir!« Ein paar Schritte riß er die Wankende durch den Schnee mit sich fort, dann stand er wieder und schrie: »Vater! Komm!«

Der Richtmann hörte den Ruf seines Buben, doch wie angewurzelt stand er, in der Linken den Latschenast, in der Rechten das blanke Messer zum Wurf bereit, die brennenden Augen nach der Höhe gerichtet. Den Söhnen und Knechten voran überklomm Herr Waze den verschneiten Grat. Sein Gewand und seine Hände waren rot vom Blute Otlohs, dessen rollende Leiche er aufgefangen. Er hatte den Hut verloren, und seine dünnen Haarsträhne klebten an dem schweißtriefenden Gesicht. Seine Züge waren entstellt und glichen der Fratze eines verwundeten Raubtiers, das sich zum Sprunge duckt. Heiser kreischte seine Stimme: »Faßt ihn! Ich will ihn haben! Lebendig!«

Rimiger und Sindel sprangen über den Schneehang nieder und auf den Richtmann zu. Henning hob den Bogen und spannte die Sehne. Da flog das Messer des Richtmanns, und mit lautem Wehschrei ließ Henning die Waffe sinken. Das Messer hatte seinen Arm durchbohrt.

»Die Hund von den Riemen!« brüllte Herr Waze. »Die Hund über ihn!«

Die Knechte lösten die Fesseln. Gleich einem Bündel abgeschnellter Pfeile schossen die heulenden Rüden talwärts.

Da rann unter dumpfem Knirschen ein Zittern durch den Felsgrund. Das verschneite Steinfeld hob sich langsam, wie die Brust eines atmenden Riesen. Rings auf dem weiten Berghang stäubten kleine Schneewolken auf, und durch die Lüfte ging ein Murren. Wie fernes Echo klang es und dennoch wie ein naher Laut, dicht vor den Ohren der Lauschenden.

Herr Waze auf dem Grat, Rimiger und Sindel, Henning mit dem blutenden Arm, die beiden Knechte, die verstummten Hunde und der Richtmann, der sich schon zur Flucht gewendet hatte – alle standen wie gelähmt auf der Scholle, die sie trug. Hinter dem Grat hatte Eilbert, der die Leiche Otlohs in den Armen gehalten, den blutigen Körper fallen lassen, und die beiden Brüder, die vor dem Erschlagenen auf den Knien im Schnee gelegen, waren aufgesprungen mit bleichen Gesichtern. Irrenden Blickes starrten sie umher. Alle fühlten die Nähe einer dunklen grauenhaften Gefahr. Von welcher Seite drohte sie? In den Lüften oder im Grund der Felsen? In der Höhe oder im Tal?

Von Hennings Lippen löste sich der erste Laut. Als hätte dieses kreischende Lallen der Todesfurcht die anderen aus ihrer Betäubung aufgeschreckt, so erhob sich plötzlich ein wirres Angstgeschrei in die von dumpfem Gesumm erfüllten Lüfte.

Von Wand zu Wand hin rollte das Echo dieser Stimmen.

Ein verworrener Laut des Widerhalles drang hinunter in die Bergschlucht, durch welche Sigenot und Recka den Weg zur Ödhütte suchten, erschöpft, bis über die Hüften mit Schnee behangen. Aufhorchend faßte Wazes Tochter den Arm des Fischers. »Ich höre Stimmen. Sie schreien um Hilf!«

Sigenot riß das Beil aus dem Gürtel und lauschte; er hörte nur ein leises Murren in ferner Höhe und schüttelte den Kopf. »Hinter dem Eismann geht eine Lahn!« Wieder begann er zu klimmen und schwang sich von Stein zu Stein. Nun machte die Bergschlucht eine Wendung, und zwischen halb verdorrten Zirben fand Sigenot leichteren Pfad. Doch plötzlich stockten seine Schritte. Er sah vor sich den Absturz einer Felskluft, die an den steilen Wänden finstere Höhlen bildete und die Bergschlucht quer durchriß, zu steil für den Niederstieg, zu breit für jeden Sprung. Es war nicht das erstemal, daß Sigenot auf diesem Weg zum König Eismann emporstieg; doch diese Spalte kannte er nicht; ihre Wände waren gelb wie frisch gebrochenes Gestein. Als verließe ihn beim Anblick dieser Schranke die letzte Kraft, so stützte er sich an den Stamm einer Zirbe.

Recka holte ihn ein. »Was stehst du?«

»Unser Weg hat ein End. Der Bidem hat eine Fragel vor uns aufgerissen.«

»Schlag die Zirbe nieder, sie schafft uns einen Steg!«

Noch hatte Recka nicht ausgesprochen, da schwang der Fischer schon das Beil, und alle Kraft schien ihm wiedergekehrt. Recka watete zur Höhle, die sich neben der Zirbe in die Felswand senkte, und ließ sich auf einen Steinblock fallen. In nassen Strähnen hing ihr das gelöste Haar um die Wangen, ihre Brust wogte unter schweren Atemzügen, und zitternd lagen ihr die Hände im Schoß.

Sigenot führte Schlag auf Schlag. Jeder Hieb machte den Stamm der Zirbe erbeben und widerhallte an den Wänden. Dumpfe Geräusche quollen von der Höhe des Königs Eismann nieder, Steine fielen, und über alle Felsen rieselte und glitt der Schnee, als wären die steilen Gehänge belebt von tausend weißen, winzigen Tierchen.

Recka griff nach ihrem Bogen. Als sie gewahrte, daß die Sehne sich von der Feuchtigkeit des Schnees gelockert hatte, legte sie, um den Strang zu spannen, eine Schlinge über die Bogenkerbe; dann nahm sie den Köcher in ihren Schoß. Ein leises Ächzen ging unter Sigenots Schlägen durch den erzitternden Baum, und Recka hob die Augen. »Der Gipfel neigt sich schon. Schlag zu!« Sie ließ die Pfeile halb aus dem Köcher gleiten. »Einen hab ich verloren im Schnee. Aber wenn es zum Ärgsten kommen soll – sieben Schäft noch hat mein Köcher. Sie reichen.«

»Recka!« Der Schwung des Beiles stockte in Sigenots Händen.

»Schlag zu! Deine Schwester in Not! Der Baum muß fallen.« Wieder krachten die Schläge, und schon begann der Wipfel zu schwanken. Reckas Augen flammten. »Zeit meines Lebens haben sie Schmach und Ekel um mich her gehäuft, daß mir zumut war in ihrem Haus wie dem kranken Falken im Geiernest. Und nach solchem Leben diese letzte Stund! Sie haben mich geschlagen und beschimpft wie der Bauer im Metrausch seine Magd.« Aufspringend schüttelte sie das Haar in den Nacken. »Ich bin gelöst von ihrem Haus. Mir sind nur noch zwei Ding im Leben heilig: meine Mutter, die mir lieb gewesen, und die Treu für deine Schwester, die mir hold geworden.« Da verstummte der Beilschlag, und ächzend neigte sich die Zirbe. Reckas Blick begegnete den Augen Sigenots. »Für deine Schwester will ich stehen und frag nit, wider wen! Ich tu, was ich muß. Und sollt ich drum im Leben auch nimmer Herd und Heimat haben!«

Unter dem stürzenden Baum hinweg war Sigenot auf Recka zugesprungen. »Nimmer Herd und Heimat?« Fast versagte ihm die Stimme. »So magst du reden, derweil ich leb?« Er streckte die Arme. Zitternd stand die Tochter Wazes, und über ihr bleiches Antlitz fiel es wie Sonnenglanz. So haucht der junge Morgen nach langer Nacht die weißen Berge an mit leuchtender Glut. Aug in Auge standen sie, und mehr als Sprache hätte reden können, sagte der stumme Blick, der den Inhalt zweier Leben erschöpfte. Wie Feuer zu Feuer fliegt, so trieb es die beiden zueinander. Hatte Sigenot die Geliebte an sich gerissen? Hatte Recka sich an seine Brust geworfen? Sie hingen aneinander wie in jener Sturmnacht auf dem See, und in dürstendem Kusse fanden sich ihre Lippen.

Krachend fiel die Zirbe und warf ihren Stamm und ihr Gezweige über die gähnende Kluft.

War das dumpfe Brausen, das durch die Lüfte ging, ein Echo ihres Falles? Hatte ihr Sturz die schlafenden Riesen im Gestein geweckt und sie gelöst aus tausendjährigem Bann? Wie das Rauschen eines nahenden Sturmes quoll es nieder aus unsichtbarer Höhe und wuchs zu mächtigem Gerassel.

Recka und Sigenot erwachten aus dem Taumel ihres Glücks. Es zitterte die Erde unter ihren Füßen, ein sausender Luftstrom peitschte ihnen Gewand und Haar, ächzend bogen sich die hundertjährigen Zirben, und brüllende Stimmen füllten die Bergschlucht. Reckas Augen glitten zur Höhe. Sie sah das Verderben über die Felsen niederstürmen: ein weißes Riesengewölk, von braunem Rauch umflattert. Aus ihrer Kehle löste sich ein Schrei, und die Angst des Todes sprach aus ihren Zügen; doch nicht das eigene Leben war es, um das sie bangte.

»Recka!« stammelte Sigenot und wollte die Geliebte decken mit dem eigenen Leib. Sie schlug ihm die Fäuste gegen die Brust. Den einzigen Schutz erkennend, auf den in dieser stürzenden Not noch eine Hoffnung zu setzen war, stieß sie den geliebten Mann mit wilder Kraft dem Berghang zu, daß er rücklings in die Höhle taumelte. Unter frohem Aufschrei wollte sie ihm folgen. Da fiel die weiße Sturzflut auf sie nieder, und die Steine prasselten.

Sigenot hatte sich aufgerafft. Einen Schritt noch tat er. Wie durch weiße fließende Schleier sah er Reckas Haupt, ihr wehendes Rothaar, hörte aus allem Donner und Toben noch ihren jauchzenden Schrei: »Ich liebe dich!« Dann brach es vor ihm nieder mit schwarzer Nacht.

Die stürzenden Massen erfüllten die ganze Breite der Schlucht.

Von allen Wänden lösten sich neue Lawinen.

Und in der höchsten Höhe begann ein Grauenhaftes: der König Eismann, der Unbewegliche seit Jahrtausenden, fing zu laufen und zu springen an.

Hoch über dem Almental, dessen Hütte Herr Waze und seine Söhne, der Richtmann und die Knechte in jagender Flucht zu erreichen suchten, geriet der ganze Berghang in rinnende Bewegung. Aus den aufdampfenden Schneewolken flogen braune Punkte hervor, erst wie springende Kiesel erscheinend, schon im nächsten Augenblick wie mächtige Felsblöcke; in weitem Bogen wurden sie über steile Wände hinausgeworfen oder liefen wie kreisende Scheiben mit Windesschnelle über die Gehänge, um in tausend Splitter auseinanderzufahren.

Die Kräfte der Fliehenden gingen zu Ende, und schon rollte die dunkel sich färbende Lawinenwolke gegen das Almental. Unter Heulen und Gewinsel suchten die vom Schreck betäubten Hunde Schutz bei den Menschen, fuhren den Fliehenden zwischen die Füße und brachten sie zu Fall.

Knatternd fiel ein Regen von Steinen über den Grat, und lauter noch als das Kreischen der Angst erhob sich das Wehgeschrei der vom Steinschlag Getroffenen. Wen nicht eine springende Scholle zu Boden warf, der stürzte, weil ihm der beißende Staub die Augen erblinden machte. Keiner hörte den Jammerlaut, der neben oder hinter ihm erscholl, halb erstickt von dem die Lüfte erfüllenden Toben. Keiner dachte des anderen, jeder nur an das eigene Leben. Der Bruder kannte nicht mehr den Bruder, der Sohn den Vater nicht, und für die Knechte gab es keinen Herrn.

Immer dichter fielen die Steine, und die Stimmen der brechenden Felsen verschmolzen sich zu schwebendem Gedröhn.

Allen Fliehenden voran war der Richtmann schon der Hütte nah gekommen, als eine springende Scholle seinen Schenkel traf. Stöhnend brach er zu Boden. Er wußte, daß er verloren war. Und wie nach einem bösen Sturmtag unter dem Gewölk noch eine letzte schöne Röte der sinkenden Sonne schimmert, so sah der Sterbende vor seinen Augen, was seinem Leben teuer gewesen. »Liebli, mein Bub! Mein Haus und Herd!«

Da tönte eine keuchende Stimme an des Richtmanns Ohr. »Der Heilige hinter mir! Und sie lassen mich allein! Die Söhn den Vater! Die verfluchte Brut!« Mit heiserem Schrei erlosch die Stimme, und durch den Schleier des wirbelnden Staubes, durch den Hagel der Steine sah der Richtmann einen Klumpen Leben sich nähern. Mühsam hob er sich auf das unverletzte Knie und faßte die schwere Scholle, die ihn getroffen. »Helfet, helfet!« klang es in winselnder Angst. »Du gütiger Himmelsherr, schau nieder auf meine Reu und hab Erbarmen! Du starker Heiliger, nimm den Gaden, mein Roß und meinen Weißfalk! Ich gelob's! Bei meiner Seligkeit! Ich laß dein Kloster bauen aus festem Stein –« Der Jammernde stürzte, rollte vor des Richtmanns Füße und versuchte sich wieder aufzurichten. »Hilf mir! Hilf! Ich zahl mit Gold und Spangen –«

»Ich tu's umsonst!« Die Faust des Richtmanns mit der schweren Scholle fiel. Ein gurgelnder Laut, ein starrer Blick noch in das Gesicht des Bauern, und Herr Waze überschlug sich auf dem steilen Hang.

Mit Getöse stürzten die dichten Massen des niederfahrenden Gesteins über den Grat einher, und eine mächtige Staubwolke, dem Sturz der Felsen vorangleitend, verhüllte den Todeskampf der wenigen, die noch lebten. Schon sausten die ersten Blöcke gegen die Hütte im Tal und brachen die Balken. Springende Steine sangen an dem flüchtenden Paar vorüber, das mit letzter Kraft durch den Schnee sich weiterkämpfte. Von Grauen befallen, hatte Ruedlieb die Geliebte mit sich fortgerissen, des Weges nicht achtend, den er nahm. Nun stand er am Rande der steilen Felswand, die sich niedersenkte zum Windachersee. Vor ihm der Abgrund, hinter ihm der stürzende Tod. »Jetzt holt der Bid, was ihm verfallen ist!« Er drückte das Gesicht auf Rötlis Haar und schloß die Augen, den Tod erwartend, der unter Donner und Tosen geritten kam.

Wie ein grauenvolles Ungeheuer schoß die schwarze Wolke über den Hang herunter. Aus ihrem Dunkel wurden mächtige Blöcke hervorgewirbelt wie Asche aus einem Schlot. Und ihr voran, gleich dem Brausen eines gewaltigen Sturmes, jagte die vom Sturz der Felsen angestaute Luft. Der sausende Windstrom faßte das Dach der halb zertrümmerten Hütte und fegte die Balken davon wie leichte Schindeln; die im Schnee versunkenen Latschenbüsche blies er von der Erde weg, und als er die beiden Menschen erreichte, die sich stumm umschlungen hielten, wehte er sie wie kleine Blumen über den Abgrund in die Luft hinaus, daß ihnen Atem und Bewußtsein schwanden.

Unter dem donnernden Widerhall, der über alle Wände rollte, stürzten die Massen der zu Geröll zerschmetterten Felsen in den Windachersee, dessen aufgewühlte Fluten haushoch über die Ufer schwankten. Mit dröhnendem Klang zerbarst die Felswand über den Schluchten der Windach, und der aus seiner tausendjährigen Haft befreite See ergoß sich mit tosendem Rauschen über das Tal.

Eberwein und Eigel, die schon dem Ausfluß der Windach nahe waren, sahen die Felswand auseinanderfallen und das Wasser kommen. Der donnernde Lärm, der aus der fernen Höhe an ihr Ohr geklungen, hatte sie mit Entsetzen erfüllt und ihre Sinne fast betäubt. Sie dachten erst der eigenen Rettung, als die niederbrausenden Fluten schon die Schlucht der Windach füllten und brüllend näherschossen. »Wahr dich, Herr!« stammelte Eigel, faßte den Arm des Mönches und riß ihn gegen den Berghang. Keuchend klommen sie zwischen den Bäumen empor, um dem Weg der fallenden Gewässer zu entrinnen. Da wich unter einem Tritt des Kohlmanns die Moosdecke. Er stürzte und kam auf dem vom Regen durchweichten Hang ins Gleiten.

»Barmherziger Gott!« schrie Eberwein und sprang, der eigenen Gefahr nicht achtend, auf den Stürzenden zu. Schon brauste die Flut heran. Eine Welle faßte den Greis und schleuderte ihn an einen Baum. Lautlos kollerte Eigel über das Netz der Wurzeln. Ehe das schießende Wasser ihn verschlingen konnte, hielt ihn Eberwein umklammert. Von einer springenden Welle übergossen, gewann er mit seiner Last den sicheren Grund. Da sah er, daß er einen Sterbenden gerettet hatte. Von Eigels Schläfe sickerte das Blut in dicken Tropfen durch die grauen Haare. Das Gesicht des Greises war aschfarben, doch ein Lächeln glitt über den weißbärtigen Mund. So sah er zu Eberwein auf, als wollte er sagen: »Was liegt an mir! Du lebst und ich bin zufrieden.«

Keines Wortes mächtig, zerrte Eberwein aus seiner Kutte eine Schnur hervor, an der ein Kreuzlein hing. Das wollte er dem Sterbenden zum Kusse bieten. Da lief ein Zittern über die Glieder des Greises. Er kämpfte, als möchte er sprechen, und faßte gierig – nicht das Kreuz – sondern die seltsame Reliquie, die mit dem heiligen Zeichen an die gleiche Schnur gebunden war: die Hälfte eines entzweigesprungenen Beinreifs, braun vor Alter, mit halbverwischten Runenzeichen. »Salmued!« Das Brausen der talwärts stürzenden Gewässer verschlang den Laut. Eigels knöcherne Finger, die den Reif umklammert hielten, zuckten wie im Krampf. Seine Glieder streckten sich. Ein umflorter Blick noch suchte die Augen des Mönches, und flüsternd hauchte der erbleichende Mund: »Die gute Zeit –«

Eberwein verstand den letzten Seufzer dieses erlöschenden Lebens nicht. Er sah die Augen des Greises brechen und küßte die kalte Stirne. Als er beten wollte, versagten ihm die Worte. Tosend rauschten zu seinen Füßen in wachsendem Schwall die entfesselten Fluten vorüber, den Wald und die Felsen brechend, die Zerstörung niederwälzend auf bewohnte Stätten. Vor Eberweins irrendem Blick erschien das Tal der Ramsau. Er sah die einsame Kirche, das verödete Pfarrhaus, die stillen Hütten und ihre Menschen. Er sah die Dächer stürzen und hörte das Angstgeschrei der bedrohten Geschöpfe. Grauen befiel ihn, und aus der Tiefe seines gemarterten Herzens rang sich der bange Aufschrei: »Gott der Liebe! Wo bist du?«

Nur der Donner über den Bergen, nur das Rauschen und Toben der stürzenden Fluten gab ihm Antwort. – –

Und wie von den bleichen Lippen des Mönches, so flog in dieser Stunde der Vernichtung auch aus der Seele eines anderen ein Schrei zum Himmel.

Hinter dem König Eismann, in der schwarzen Finsternis der verschütteten Höhle, taumelte Sigenot zwischen den zitternden Felsen umher und schrie: »Du Starker du! Ich hab gehalten zu dir! Jetzt mußt du dich erweisen! Tu mir den Weg auf! Laß mich zu ihr!« Seine schreiende Stimme erlosch im dumpfen Donner, der ihn umrollte. Verzweifelt riß er mit den Händen am Gestein und zerrte an dem wirren, von Schnee und Geröll zerdrückten Astwerk, das den Ausgang der Höhle verschloß. Der Steingrund unter seinen Füßen begann sich zu bewegen gleich einer Wiege. Aus der Tiefe des Berges kam ein Klang, der mit Messerschärfe in Sigenots Ohren schnitt. Jähe Helle fuhr ihm in die Augen, und langsam wichen vor ihm die Felsen auseinander wie die Flügel eines Tores. Aufschreiend tat er einen Sprung ins Freie. Bevor er wußte, wo er stand und wohin er sich wenden sollte, verging ihm Hören und Sehen. Unter betäubendem Lärm umhüllte ihn eine braune Wolke, brennender Staubsand quoll ihm in Mund und Nase, und wie Feuer war es ihm vor den Augen. Eine kalte Welle hob ihn empor, spülte ihn aufwärts gegen die höhere Schlucht, und während er zwischen Gestein und Schnee bewußtlos lag, fuhr ein Riß, bei dem die Schlucht durchquerenden Spalt beginnend, über die kahlen Felsen hinauf, und die vom Stock des Berges losgetrennte Steinwand neigte sich vornüber.

Donnernd stürzten die gewaltigen Massen über den Schönsee.

Ihr Fall zerteilte die Flut. Zwei weiße Wassermauern hoben sich turmhoch auseinander, und während die eine in den Kessel der Berge rollte, wälzte sich die andere gegen das Tal der Ache. Mit Brausen wuchs die laufende Mauer um so höher, je mehr das Seetal sich verengte. Auf ihrem Wege spülte die riesige Welle den Wald vom Berghang weg wie einen Haufen Späne.

Im Fischerhause hatten sie den Donner des fallenden Gesteins vernommen. Sie sahen über dem Kessel des Weitsees eine Wolke dampfen und hörten das Rauschen des kommenden Wassers. Ein sausender Wind, weißen Schaum in die Lüfte peitschend, flog über den See einher, und die rollende Wassermauer tauchte um die Falkenwand, auf der einen Seite den Bergwald mit Fluten überschüttend, auf der anderen ihre Springwellen emporschleudernd bis zu der um Wazemanns Haus gezogenen Ringmauer.

Das Geschrei der Mägde und die heulenden Stimmen der gefangenen Raubtiere tönten vom Falkenstein herunter, während Heilwig und Kaganhart über die Lände gegen den Berghang flüchteten. Wicho stürzte ins Haus. »Mutter Mahtilt!« Er wollte sie umschlingen. Sie wehrte sich und lachte, mit beiden Händen sich anklammernd an die Lehnen ihres Sessels. Gewaltsam riß er sie empor, und während er keuchend mit seiner Last die Türe suchte, streckte Mutter Mahtilt unter gellendem Gelächter die Hände nach dem Herd. Wicho erreichte die Hofreut. Da wälzte sich über die Lände, doppelt so hoch als der Hügel mit dem Haus des Fischers, der brausende Wasserberg heran, mächtige Felsblöcke wie leichte Kiesel vor sich herschwemmend und einen Wust von gebrochenen Bäumen ausschleudernd nach allen Seiten.

Wichos Kraft versagte. Zitternd klammerte er die Arme um die Mutter seines Herrn, während in das Brausen der stürzenden Flut das Gebrüll der Rinder sich mischte. Kalkige Blässe deckte das Gesicht des Knechtes, doch über Mutter Mahtilts Züge ging es wie ein Leuchten. Sie hob die Arme und schrie mit heller Stimme: »Gelfrat!« Die Nähe des Todes hatte ihre stumme Zunge gelöst. Noch einmal rief sie den Namen des geliebten Mannes, den ihr der See genommen, und streckte die Hände den anrauschenden Wellen entgegen. Brausend stürzte sich die Wassermauer über den Hügel hin. Ein Krachen und Dröhnen von brechendem Gebälk. Und die tobende Flut verschlang, was Sigenots Hag umschlossen hatte.

Immer weiter wälzte sich die zerstörende Riesenwelle. Ihr Rauschen quoll über das Tal hinaus und fand das Ohr der Menschen, die in Schreck aus ihren Hütten rannten. Tal auf und nieder flog das Gespenst der Furcht und faßte alle Gemüter. An den Wänden des Untersberges erwachte ein summendes Echo, während vom König Eismann ein dumpfes Brummen, bald stockend, bald wieder anschwellend, bis zum Lokiwald durch die Lüfte quoll.

Bruder Wampo sprang aus der Klause, und Schweiker, das Beil in der Hand, kam aus dem Wald gelaufen. »Mensch?« fragte Wampo. »Hörst du das?« Er verstummte, weil Pater Waldram aus der Kirche trat, gegürtet und mit dem Stab in der Hand. Sein Gesicht war wie das Antlitz eines Toten, doch seine Augen brannten; was aus ihnen leuchtete, war wie das lodernde Feuer im Blick des Kriegers, der den Ruf zur Schlacht vernommen. Erschrocken fragte der Bruder: »Herr, wohin?«

»Wohin die Stimme Gottes ruft! Leget ihr anderen die Hände in den Schoß und sehet zu, wie des Herren Zorn die Berge stürzt! Ich folge seinem Ruf, denn meine Stunde kam.« Ausholend mit dem Stabe, schritt er dahin, vom Sonnenglanz des sinkenden Tages umwoben.

Die Brüder standen schweigend, einer suchte den Blick des andern. Als Waldram unter den Bäumen verschwunden war, stammelte Bruder Wampo: »Er könnt einem Angst machen!« Ein Schauer rüttelte ihn. Wieder lauschte er dem fernen Murren, spähte gegen den Schönsee und kreischte: »Gottes Wunder! Zu Wazemanns Bannberg schau hinauf! Der Heidenkönig Eismann ist christlich worden und schlagt ein Kreuz!«

Auf den silberweißen, in Sonne glänzenden Schneegehängen der steilen Bergspitze erschienen zwei dunkle, schräg sich kreuzende Striche. Noch ein Augenblick der Ruhe. Und vor den entsetzten Sinnen der beiden Brüder vollzog sich ein Zerstörungswerk, gewaltig und furchtbar. Immer dunkler und breiter wurden auf dem Schnee des König Eismann die quer durcheinanderlaufenden Rinnen. Während über ihnen der Gipfel des Berges noch sein unverändertes Bild bewahrte, überwälzte sich unterhalb dieser gleitenden Risse der Schnee auf weite Flächen, und aus dem zerfetzten weißen Kleide tauchte die nackte graue Brust des steinernen Riesen hervor. Ganze Gehänge drehten sich und wurden verschoben, es begann ein Sinken der Flächen mit allem, was sie trugen, immer tiefer und weiter griff die gleitende Bewegung und erfaßte unter den kahlen Schneegefilden schon den Saum des Waldes. Viele Tausende von Bäumen, winzig anzusehen in der Ferne, begannen von der Stelle zu rücken. Schneller und schneller, gleich einer Herde hüpfender Schafe, bewegte sich der Wald; einzelne Bäume wurden, als gaukelnde Federn erscheinend, in die Lüfte geblasen. Dann sanken alle Stämme in einen grauen Wust zusammen wie Ähren unter einem Windstoß. Zwischen den gleitenden Flächen hatte sich in steiler Höhe noch ein mächtiger Fetzen Wald erhalten; plötzlich erhob er sich, wie von der Erde emporgeschnellt, und flog mit aufrechtstehenden Bäumen im Bogen durch die Luft, so daß man unter ihm hinweg einen sonnigen Hang gewahren konnte. Niederstürzend fuhr die riesige Scholle in braune Trümmer auseinander, die Bäume verschwanden, blitzende Wassergüsse erschienen zwischen den gleitenden Massen und tauchten wieder unter. Pfeilschnell schossen die schwärzlich sich färbenden Schuttströme über den tieferen Wald und griffen nach allen Seiten auseinander wie die gespreizten Finger einer Hand.

Noch stand der schlanke, weißblinkende Zinnenstock des Berget. Der Losbruch der tieferen Gehänge hatte seine Wände unterhöhlt. Jetzt neigte sich der erschütterte Riese. Zugleich auf allen Seiten begann ein Spalten und Auseinanderklaffen, ein Brechen und Stürzen des gewaltigen Felsenhauptes. Die finsteren Mächte, die jahrtausendelang in diesem Gestein geschlummert hatten, waren zum Leben erwacht und verbündeten sich zu einer unerhörten Tat. Mit rasender Schnelle stürmten sie dem Tal entgegen. Das stürzende Gewänd mit seinen brechenden Eisfeldern entschleierte das geheimnisvolle Herz des Berges, und an Stelle der verschwundenen Zinne erschienen neue, kleinere Felsgestalten – als hätte der greise Ahn den Platz geräumt für seine aus dem Schoß der Riesin Vernichtung gezeugten Kinder.

Nur wenige Augenblicke, und auf dem weiten Unterstock des fallenden Berges waren lange Täler zugeschüttet und über ihnen neue Felsenhügel aufgeworfen, über deren Rücken die stürmende Todesjagd hinunter ging in die Täler. Die ganze Höhe war verwandelt in ein wirbelndes Chaos, und immer trüber verhüllte sich der rasende Wechsel der schaudervollen Bilder. Wie auf einer Brandstatt der aus Tür und Fensterhöhlen strömende Rauch zu dicker Schwade über dem Dach sich sammelt, so flossen die von den auseinanderfahrenden Trümmerströmen aufdampfenden Staubwirbel zu einer ungeheuren Wolke ineinander, deren züngelnde Ränder im Schein der Sonne mit Flammenröte sich färbten, während den finsteren Kern des rollenden Ungetüms ein fahles Leuchten durchlief wie von zuckenden Blitzen.

Nun kam es über den weiten Gaden zum Lokiwald gezogen: erst wie ein dumpfes Tönen nur, darauf ein Ächzen und Knirschen, ein Knattern und Gerassel, das zu rauschendem Krachen wuchs, zu dröhnendem Donner. Unter dem Sturmwind, der einherflog über den Gaden, beugten sich die Wälder, und der jagende Wind trug aus dem Tal das Angstgeschrei der Menschen bis zur Klause. Schweiker und Wampo, die betend auf den Knien lagen, mit erhobenen Händen, vernahmen aus dem Tal eine Männerstimme wie das Gebrüll eines Stieres: »Es kommt der Berg! Laufet! Laufet! Es kommt der Berg!« Die Brüder sprangen auf, betäubt und wie von Sinnen. Brausend fiel die Sturmwelle über den Lokiwald, und seine Stämme wogten durcheinander. Kreischende Vögel gaukelten in der Luft, der Sturm zersprengte ihre Schar und peitschte sie in das wogende Gezweig; ein Habicht wurde gegen die Wand der Klause geschleudert und fiel mit gebrochenen Schwingen zu Boden. Brüllend wuchs die Macht des Sturmes und das Dröhnen in den Lüften. Ein flüchtendes Rudel Hochwild raste über die Lichtung, und einzelne Tiere überschlugen sich. Mit Heulen und Sausen prallte der Luftstrom gegen die Wände des Untersberges, wurde zurückgeworfen, überfiel den Wald und mähte unter krachendem Geschmetter die mächtigen Stämme, wie ein Sensenschlag den Klee. Die Brüder wurden zu Boden geschleudert und rollten über das Moos und durch die Pfützen. Das Dach des Kirchleins hob sich in die Lüfte, und im berstenden Türmlein wimmerte die Glocke während des Fluges. Ein jäher Stoß durchzuckte die Erde, ein Zittern und Schüttern befiel den Grund, und von überall, von den Wänden des Untersberges wie von den Höhen rings umher, ertönte das Gerassel stürzender Felsen.

»Das Jüngste Gericht! Das End der Welt! Guter Herr, sei gnädig dem armen Sünder!« lallte Bruder Wampo und drückte das Gesicht ins schlammige Moos.

Schweiker hatte sich erhoben. Seine verstörten Augen suchten die Gehänge des Göhl. Eine Staubwolke sah er niedergleiten über die Wände, und ihre Straße ging den Halden zu. »Hinzula!« Wie ein Hirsch, der schon den Pfeil des Jägers im Herzen fühlt, sprang Schweiker über die Lichtung hin, dem gebrochenen Wald entgegen.

»Bruder, Bruder, verlaß mich nit! Wir wollen selbander zum Himmel fahren!« kreischte Wampo. Er raffte sich auf und begann mit schlotternden Knien die Flucht, Gebete lallend und strauchelnd bei jedem Sprung.


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