Ludwig Ganghofer
Die Martinsklause
Ludwig Ganghofer

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9

»Vater, was ist denn?« fragte Ruedlieb, als der Schönauer zur Hausbank gesprungen kam.

»Schnell, Bub, schnell, nimm die Krax und hinein mit ihr ins Haus!«

»Warum? Was ist denn los?«

Der Schönauer konnte nicht mehr Antwort geben; Herr Waze kam schon in den Hof geritten. Die beiden Hunde sprangen auf und stürzten dem Reiter mit heiserem Gekläff entgegen. Das Pferd scheute, doch mit einem kräftigen Ruck des Zügels bändigte Herr Waze das Tier. »Die Hund weg!« rief er. »Oder ich schick ihnen einen Fraß, den sie schlecht verdauen.«

Mit einem finsteren Blick auf den Reiter kam Ruedlieb herbei, faßte die Hunde am zottigen Fell, schob sie in das Haus und schloß die Tür.

»Nichts für ungut, Herr,« sagte der Bauer, »sie hüten das Haus.«

»Vor mir?« Herr Waze lachte. »Das wirst du ihnen abgewöhnen. Sie sollen wissen, wer der Herr ist, und sollen wedeln, wenn ich komm!« Er stieg vom Pferd und winkte dem Buben. »Halt mir das Roß!« Ruedlieb zögerte; ein Blick seines Vaters hieß ihn der Weisung folgen. Herr Waze schüttelte die Beine, als wären sie ihm eingeschlafen beim Ritt, und zog das Wams herunter. »Ich hab mit dir zu reden, Schönauer.«

»Wollen wir hinein in die Stub, Herr?«

»Nein, ich kann den Schmalzgeruch nit leiden.« Er deutete auf die alten Eichen, die in einer Ecke des Gartens standen. »Wir wollen uns dort in den Schatten setzen.« Herr Waze durchschritt den Hof; da sah er auf der Hausbank die Kraxe stehen; er kniff die Augen ein und zog die Finger durch den Bart. »Bauer! Wohin soll die Krax?«

»Der Bub hätt auftragen sollen.«

»Auf die Alben?« Herr Waze schaute den Schönauer an, dann wieder die Kraxe. »Met und Honig, Fleisch und Wecken? Das stimmt. Seit wann aber tragen die Bauern den Käs auf die Alben hinauf, statt herunter?«

Der Schönauer blickte an Herrn Waze vorbei, als er sagte: »Ein paar schlechte Laib, Herr. Ich schick sie wieder hinauf, für die Albleut sind sie noch gut genug. Zum Zinsen brauch ich bessere.«

»Hast recht, Bauer!« lächelte Herr Waze. »Mach's nur am Käs wieder gut, was du am Met verfehlt hast.«

»Ich, Herr? Am Met?«

»Ja. Schlechten Met hast du gesteuert an Sonnwend.«

»Herr, ich hab den besten gegeben.«

»Schon gut!« Herr Waze wandte sich ab und ging mit raschen Schritten auf Ruedlieb zu, der das ungeduldige Pferd im Hof hin und her führte. »Bub? Für wen gehört die Krax?«

»Für die Gottesleut, die gestern gekommen sind!« gab Ruedlieb zur Antwort; dann sah er erst, daß der Vater hinter Wazes Rücken hinauf deutete gegen die Alben.

»So? Für die Gottesleut?« Herr Waze wandte sich zum Schönauer. »Also, Richtmann, komm, jetzt wollen wir reden miteinander!« Er ging auf die Eichen zu und setzte sich auf die Steinbank. »Wie ich gemerkt hab, weißt du schon, daß sie gekommen sind.« Dem Schönauer versagte die Stimme; er nickte nur. »Und wie mir scheint, meinst du, sie wären die Herren im Land, denen man zinsen und steuern muß?« Herrn Wazes Augen funkelten bei dieser Frage. Der Bauer rührte wortlos die Lippen. »Red!« Das Wort klang wie ein Hammerschlag auf Stein. »Red! Sind sie die Herren?«

»Ich weiß nit, Herr Waze.«

»So? Dann sag ich dir: es kann schon sein, daß sie die Herren sind. Es könnt sogar sein, daß sie es beweisen können mit Pergamenten. Und wenn sie die Herren sind, so muß ihnen der Freibauer zinsen und steuern, und jeder Hörige muß fronen beim Klausenbau. Gelt?«

»Wohl, Herr Waze!« stammelte der Schönauer, seinen Gast mit scheuen Augen musternd.

»Gut! So wirst du auch wissen, was geschehen muß. Und vergiß nur nit, daß ich selber das gesagt hab!« Herr Waze schob die Hände hinter das Schwertgehäng und streckte die Beine. »Aber die Gottesmänner haben gute Herzen. Wenn ich ihnen sag: die Hörigen haben harte Zeit und viel zu schaffen – ich mein', da drücken sie ein Aug zu und lassen es gut sein mit der Fron. Meinst du nit auch?«

»Wohl, Herr Waze.«

»Da müßt sich also von den Hörigen keiner anbieten zur Fron, eh ihn die Klosterleut nit rufen.«

Der Schönauer fragte zögernd: »Soll ich das den Leuten bekannt geben?«

Herr Waze zog verwundert die Brauen in die Höhe. »Bin ich der Richtmann oder du? Wie weiß ich, was du als Richtmann tun sollst?« Der Bauer atmete schwer und strich mit langsamer Hand das Haar in die Stirn. Herr Waze sah ihn mit kleinen Augen an und lächelte. Ein raschelnder Windhauch strich durch die sonnigen Eichenwipfel, und flatternd fiel ein welkendes Blatt zur Erde. »Und was meinst du, Richtmann? Wie sollen es die Freibauern halten mit dem Zinsen und Steuern?«

Der Schönauer besann sich. »Ich mein' halt, so, wie's allweil gewesen ist. Wir tragen Zins und Steuer dem Spisar hin. Und der seid Ihr, Herr Waze!«

»Der bleib ich auch. An Sonnwend ist Zahltag gewesen für die erste Halbscheid der Steuer. Die ander Hälft ist fällig auf Neujahr. Sechs Mond lang braucht kein Freibauer ein Brösel Steuer geben. Das ist Gesetz und Recht. Und die Klosterleut haben gute Herzen. Die verlangen nit mehr, als was Recht und Brauch ist. Meinst du nit auch?«

»Wohl, Herr Waze! Zwischen heut und Neujahr soll kein Bauer zinsen, kein Brösel Käs, kein Körndl Traid und keinen Tropfen Met.«

Herr Waze schüttelte den Kopf. »Bauer! Bauer! Du hast ein hartes Herz.«

»Wieso, Herr?« fragte der Schönauer mit einer Stimme, als läge eine würgende Hand an seiner Kehle.

»Denk nur, was für gute Männer die Gottesleut sind! Die werden umgehen im Tal, von Hag zu Hag, und werden die traurigen Leut trösten, werden die Kinder hätscheln, und werden sitzen bei den Siechen. Für solche Liebtat müßt man wohl ein übriges tun, und müßt ihnen diemal, außerhalb der Steuerzeit, eine Krax voll Zeug schicken. So eine, wie da drüben steht. Das wär nur in der Ordnung! Meinst du nit auch?«

»Wohl, Herr Waze!«

»Das kann ich nur gut heißen! Liebtat muß vergolten werden mit Liebtat!« Herr Waze kreuzte die Arme über die Brust. »Aber denk nur, Richtmann, was der Mensch diemal für Zeug träumen kann! Gestern nach Mittag hab ich mich schlafen gelegt, und da ist mir im Traum gewesen, als hätt ich den Köppelecker gesehen, wie er ein Körbl voll Zeug davon tragt und hinausgeht nach dem Lokistein. Und wie ich so steh und schau ihm nach, im Traum, da schlagt auf einmal das Feuer aus seinem Haus. Und das ganze Anwesen hab ich niederbrennen sehen bis auf den Grund. Mir ist leid gewesen um den armen Teufel. Alles im Traum, Richtmann! Und denk dir, derweil das Haus noch brennt, geht der Kaganhart an mir vorbei, mit einem Pack auf dem Buckel. ›Wohin?‹ frag ich. ›Hinauf,‹ sagt er, ›zum Lokstein!‹ Und ich sag zu ihm: ›Recht so, geh nur zu!‹ Ich seh noch, wie er hinübergeht über den Achensteg. Und da dreht sich auf einmal der Baum überm Wasser, und der Kaganhart ist weg. Ich hab um Hilf geschrien, aber kein Mensch hat mich hören wollen. Ich schrei und schrei, und auf einmal kommst du daher!«

»Ich, Herr?« stammelte der Bauer.

»Alles im Traum, Richtmann!« Herr Waze streckte sich behaglich. »Und schau, die Krax dort, dieselbig, die auf der Hausbank steht, die hast du auf dem Buckel getragen. Ich hab dich auf die Schulter geklopft und hab dein gutes Herz gelobt. So sind wir auseinandergegangen, im Traum, und wie ich heimzieh durch den Untersteiner Wald, lauf ich an eine Bärengrub hin. Ein Bär ist drin gestanden in der Grub, und unter ihm, denk, Bauer, unter ihm ist dein Bub gelegen, der Ruedlieb. Mich hat das Grausen gepackt. Der arme, schmucke Bub! Und im Erbarmen bin ich hineingesprungen in die Grub und hab zugestoßen mit dem Fänger. Der Bär ist gelegen, aber deinem Buben hat's nimmer geholfen. Ich hab dir noch zuschreien wollen: du sollst umkehren! Aber da bin ich aufgewacht. Was sagst du, Richtmann? Wie kann man nur so was träumen!« Herr Waze klatschte auf dem Schwertknauf die Hände übereinander und sah lachend den Bauer an.

Der Schönauer hatte keinen Tropfen Blut im Gesicht; schlaff hingen ihm die Arme am Leib.

»Was hast du, Bauer? Wirst doch nit erschrocken sein über meinen Traum?« Herr Waze erhob sich. Freundlich klopfte er dem Schönauer auf die Schulter. »Schau, es ist doch nur ein Traum gewesen. Dein Bub lebt und ist heil und frisch! Freilich, das haben meine Träum: sie pflegen einzutreten. Aber mach dir keine Sorg! Da müßtest du zuerst die Krax hinaustragen zum Lokistein. Und die Krax dort, das hast du ja selber gesagt, die geht zur Alben hinauf. Und ein Richtmann lügt nit, gelt?« Herr Waze ging, um sein Roß zu besteigen. Als er im Sattel saß, blickte er auf Ruedlieb nieder. »Ein schmucker Bub, Richtmann!« rief er über die Schulter dem Bauer zu, der noch immer drüben bei den Eichen stand. »Ich wünsch ihm, daß er alt wird!« Lachend ritt Herr Waze zum Tor hinaus.

Ruedlieb eilte auf den Vater zu und erschrak bei seinem Anblick. »Vater? Hat er dich gebüßt?« Der Schönauer schüttelte den Kopf. »Aber so red doch, Vater! Hab ich was Schieches angerichtet, weil ich ihm gesagt hab, wohin die Krax gehört?«

Wieder schüttelte der Bauer den Kopf. »Hast nur die Wahrheit gesagt.«

»Aber was ist denn gewesen?« fragte der Bub in wachsender Sorge. »Er hat doch freundlich mit dir geredt!«

Der Schönauer lachte heiser. »Je schönere Farben die Natter spielt, so giftiger beißt sie.«

»Vater?«

»Frag nit weiter, Liebli! Geh hinein ins Haus und tu dich richten zur Albenfahrt!«

»Aber ich muß doch die Krax –«

»Laß die Krax in Ruh!« fiel der Bauer ein. »Die besorg ich selber. Geh, Bub!«

Ruedlieb wandte sich zögernd ab und ging ins Haus. Als er in der Flurstube auf dem niederen Herdrand saß und die Riemen der Bergschuhe knüpfte, konnte er durch die offene Türe sehen, daß der Köppelecker den Hof betrat, mit einem Pack auf der Schulter. Der Schönauer redete mit dem Nachbar; dann ging der Köppelecker mit seinem Pack wieder davon. Der Reihe nach kamen auch die andern: der Kirngasser und Bärenlochner, einer der Winklerbuben, der Schwaiger und Waldhauser. Der Schönauer redete mit ihnen, und da trug ein jeder wieder heim, was er gebracht hatte. Der Kaganhart blieb aus – er war wohl mit seinem Weib nicht auf gleiche Meinung gekommen. Einer aber erschien, den der Schönauer gar nicht erwartet hatte: Eigel, der Kohlmann.

»Hast du gehört, Richtmann, hast du das Glöckl gehört?« fragte der Alte erregt und deutete mit seinem Stecken gegen den Untersberg.

Der Schönauer nickte. »Warum kommst du?«

Eigel faßte den Schönauer am Arm und dämpfte die Stimme. »Sie haben schon einen Ring gezogen um den Stein.«

»Wer?«

»Die Wazemannsbuben. Auf jedem Weg zum Lokstein ist einer dagestanden vor mir, auf der Untersberger Seit der Rimiger, hinter dem Kälberstein sein Bruder Sindel, und wie ich mich von der Talseit hab hinschleichen wollen, hab ich den Hartwig reiten sehen im Gehölz. Sie liegen um den Lokstein herum wie die Wölf um den Geißstall.«

»Hat dich einer gesehen?«

»Der Sindel.«

»Aber ich hoff, du hast leere Händ gehabt?«

»Warum?«

»Sonst hätt Herr Waze heut nacht geträumt von dir. Komm, Eigel! Ich erzähl dir was.« Sie gingen den Eichen zu und setzten sich auf die Steinbank.

Ruedlieb konnte sehen, daß sein Vater lange Zeit allein sprach; dann erwiderte der Kohlmann erregt; und der Schönauer schüttelte immer den Kopf. Als nun der Bub, für die Bergfahrt gerüstet, zu den Eichen kam, erhob sich der Schönauer und sagte zum Kohlmann: »Laß gut sein, Eigel, das reden wir zwei nit aus miteinander! Bring alles vor beim Thing, dann wirst du hören, was die andern sagen!« Er wandte sich zu Ruedlieb. »Wart bei der Haustür, Liebli, ich komm gleich.«

Ruedlieb nickte dem Kohlmann einen Gruß zu und ging zur Hausbank. Da zog der Schönauer sein Messer aus dem Gürtel und gab es in Eigels Hand; es hatte einen Griff aus Horn mit eingeritzten Zeichen. »Heut über drei Nächt, wenn Vollmond einsteht. Kommst du aus mit der Zeit?«

»Wohl!« Der Kohlmann verwahrte das Messer. »Heut lad ich über die Schönau hinaus in die Ramsau, über Schwarzeck und Winkel zurück ins Engedein. Morgen über Unterstein auf die Alben und über den Jennar und Göhl wieder heimzu bis zum Vorderecker. Und am dritten Tag vom Greinwalder hinaus zum Gernroder und über die Metzenleit und Aschau herunter in die Strub.«

»Lad nur wortfeste Leut, die unsicheren laß aus! Und in der Ramsau geh vorbei am Hiltischalk!«

Eigel schaute betroffen auf. »Richtmann! Ich mein', der Hiltischalk müßt dabei sein zu allererst!«

»Tu, was ich sag!«

»Du bist der Richtmann, da wirst du wissen, warum. Heut über drei Nächt, wenn Vollmond einsteht.« Sie reichten sich die Hände und gingen dem Haus zu. Da hörten sie plötzlich ein dumpfes Rollen; es klang wie ferner Donner. Sie blieben stehen und blickten zum Himmel auf. Kein Wölklein trübte das reine Blau, und alle Bergspitzen waren nebelfrei. Eine Magd kam aus der Stalltür gelaufen, schaute verwundert umher, schüttelte den Kopf und verschwand wieder.

»Vater,« rief der Bub, »was war das?«

»Ich weiß nit. Es hat gedonnert, und ich seh kein Wettergewölk.«

Da sagte der Kohlmann langsam: »Ich mein', es wär nit in der Luft gewesen, sondern in der Erd!«

»Was dir einfallt!« Der Schönauer schüttelte den Kopf. Nun standen sie schweigend und lauschten; doch in den sonnigen Lüften störte kein Laut mehr die Stille. »Es muß wohl hinter dem Eismann ein Wetter liegen. Und die Tauern haben aus der Fern den Donnerhall hereingeworfen ins Tal.«

»Meinst?« sagte Eigel. »Dann müßt das Wetter kommen auf die Nacht. Wir haben Tauernwind. Der müßt die Wolken hertreiben über den Eismann. Da darf ich schauen, daß ich den Weg hinter die Füß krieg.«

»Zeit lassen!« grüßte der Schönauer.

»Zeit lassen auch!« nickte der Kohlmann und ging.

Zwischen Wiesen und Feldern, auf denen der reifende Sommerroggen dünn und mit mageren Ähren stand, wanderte Eigel dem nächsten Hag entgegen. Vor dem Tor, inmitten einer Wiese, schwang der Köppelecker die Sense. Eigel ging auf den Bauer zu, zog des Richtmanns Messer aus dem Kittel, drückte dem Köppelecker das Heft an die Brust und sagte: »Heut über drei Nächt, wenn Vollmond einsteht! Fehl nit! Tu nach deiner Mannspflicht! Laß dich nit halten von Wetter und Wind, von Weib und Kind, laß dich nur halten von Wassersnot, von Feuer und Tod!«

Der Köppelecker legte die Hand an das Messer. »Heut über drei Nächt, wenn Vollmond einsteht. Ich hab's gehört und schweig. Fahr weiter, Thingbot!« Eigel nickte und ging seiner Wege. Auf schmalem Pfad, zwischen dichten Hecken kam ihm der älteste der Hanetzerbuben entgegen und fragte: »Wohin so flink?«

»Meiner Arbeit nach!« sagte Eigel und ging vorüber.

»He, du!« rief der andere ihm nach. »Hast du vor einer Weil das Brummen nit gehört? Was war denn das?«

»Ein Wetter kommt.«

Der Hanetzer blickte zum blauen Himmel auf und lachte. »Möcht wissen, woher?«

Der Kohlmann wanderte weiter. Beim Kaganhart fand er das Hoftor verschlossen. Er lud den Kirngasser und Bärenlochner, die Winklerbuben, den Schwaiger und Waldhauser. Beim Kinill und Grünsteiner ging er vorüber. Als er den Urstaller geladen hatte, stieg er über den Hang eines waldigen Hügels empor und kam zu einem halb zerfallenen Hag. Schief hing das Tor in den Weidenringen, und dichtes Unkraut wucherte im Hof. Ein verschobenes, von Lücken klaffendes Strohdach deckte die morsche Hütte, deren faulendes Gebälk schon in allen Fugen gelockert war. Wo einst der Stall gestanden, lag ein wüster Haufe von Asche und halbverbrannten Balken. Neben dem verwahrlosten Garten ragten fünf Eichenstrünke aus der Erde; die jungen Stämme waren mit der Axt gefällt und lagen dürr, mit gebrochenen Ästen. Eine einzige Eiche, fast hundertjährig, stand noch zwischen den Strünken; ihr Wipfel war verdorrt, und die von schmarotzendem Moose fast erstickten Äste trugen nur noch einzelne Büschel braungrünen Laubes; der Baum krankte an den tiefen Kerben, die seinem Stamm eingehauen waren. Neben der Eiche, mit einem Hanfseil noch an den Stamm gebunden, lag eine tote, von einem Fliegenschwarm umsummte Ziege.

Inmitten des Hofes stand ein Baum in vollem Grün, ein Apfelbaum mit starkem Geäst; doch hingen nur wenige Früchte noch an seinen Zweigen, der Sturm der vergangenen Nacht hatte Ernte gehalten und die unreifen Äpfel heruntergeschüttelt in das Unkraut. Im Schatten des Baumes saß der alte Gobl, mit dem Rücken an den Stamm gelehnt, das weißbärtige Kinn auf der Brust, die welken Hände im Schoß. Eigel trat auf ihn zu und berührte ihn mit dem Messer. »Heut über drei Nächt, wenn Vollmond einsteht! Fehl nit! Tu nach deiner Mannspflicht! Laß dich nit halten von Wetter und Wind –« Weiter kam Eigel nicht mit seinem Spruch. Der Greis hatte den Arm des Kohlmanns zurückgeschoben und sagte: »Ich hab's gehört und schweig. Geh an mir vorbei, Thingbot! Ich komm nit. Heut hab ich den letzten Weg gemacht. Der reut mich schon. Ich mach keinen andern mehr. Wär schad um die Müh!«

»Gobl!« mahnte der Kohlmann mit einer Stimme, als schliefe der Greis, und er müßte ihn wecken. »Hörst du nit? Das Thing ruft!«

»Laß rufen!«

»Du bringst Unehr über dich!«

»Unehr?« Ein Lächeln glitt über die dürren Lippen des Greises. »Die trag ich so!« Er pflückte mit seiner zitternden Hand einen Grashalm und legte ihn auf sein Haupt.

Unwillig wandte Eigel sich ab; aber schon nach wenigen Schritten kehrte er wieder zurück. »Gobl, es geht um unser aller Wohl und Weh!«

Langsam hob der Greis die Augen. »Was redest du vom Wohl? Sag: Weh! Das eine Wörtl geht für alles. Und das kommt, wie's will. Wozu denn raten, wo keiner wenden kann?« Er hob einen wurmstichigen Apfel aus dem Unkraut und hielt ihn dem Kohlmann hin. »Da nimm! Den kannst du dir braten am Thingfeuer! So hat's doch einen Zweck.«

Eigel hatte den Apfel genommen; er drehte ihn zwischen den Fingern, ließ ihn wieder fallen und wanderte schweigend davon. –

Um die gleiche Stunde stiegen Ruedlieb mit dem Grießbeil und der Schönauer, der die beladene Kraxe trug, durch den Wald hinunter zur Ache. Der Bub blieb stehen. »Geh, Vater, laß mich doch mit hinaus zum Lokstein!«

»Du gehst zur Alben hinauf!« Der Schönauer faßte die Hand seines Buben. »Und da bleibst du, bis ich dich wieder heimruf. Und versprich mir's: tu nichts gegen Wazemanns Wort, laß keine schieche Red hören, steig in keinen Bannberg ein und rühr mit keiner Hand ans Gewild!« Dunkle Röte flog über Ruedliebs Gesicht; er dachte an die Bärengrube, die er in der Regenwand ausgeworfen. »Versprich mir's, Bub!« Ruedlieb nickte. »Halt dein Wort, und sie können dir nichts anhaben. Wenn's aber doch so kommen sollt, daß einer dich fassen möcht –« Die Augen des Richtmanns funkelten, und seine Stimme bebte. »Dann greif nach dem Messer und stoß zu! Dann ist schon alles eins!«

»Vater?« stammelte der Bub.

Der Schönauer schob ihn gegen den Steg. »Jetzt, geh, Liebli! Und Zeit lassen!« Er blickte seinem Buben nach, und als er ihn am andern Ufer der Ache zwischen den Bäumen verschwinden sah, drückte er die Fäuste auf die Brust. Langsam folgte er dem Waldpfad und erreichte nach kurzer Weile den Weg, der hinaufführte zu Wazemanns Haus. Auf dem Falkenstein fand er die Zugbrücke niedergelassen und das Tor offen. Ein Knecht trat ihm entgegen, verwundert.

»Da bring ich eine Krax voll Zeug.« Der Schönauer stellte seine Last nieder. »Ist der Herr daheim?«

»Nein, Richtmann!«

Der Schönauer atmete auf. »Nimm die Krax und lad das Zeug ab! Und wenn Herr Waze heimkommt, sag ihm: ich hätt mich besser besonnen, und der Herr sollt mit dem Zeug machen, was ihm lieb ist!«

Der Knecht trug die Kraxe ins Haus, und vor dem Tor setzte sich der Schönauer auf einen Stein am Wegrain, um auf die leere Kraxe zu warten. Im Zwinger schlugen die Hunde an, die einen Fremden witterten; mit vielstimmigem Echo warfen die nahen Felswände das Geheul zurück.

Über die auf steilem Hang sich senkenden Baumwipfel blickte der Schönauer hinunter nach der Seelände. Dort unten leuchtete ein langer, weißer Streif im Sand. Es war ein frisch gewebtes Stück Hanftuch, das zum Bleichen in der Sonne lag.

Edelrot stand am Ufer, schöpfte mit einer hölzernen Kanne Wasser aus dem See und besprengte das Tuch. Da hörte sie einen knirschenden Tritt im Sand, und als sie sich umblickte, stand Ruedlieb vor ihr. Sie wollte lächeln, aber sie erschrak vor seinem blassen Gesicht. »Ruedlieb? Was hast du?«

Er vermochte kaum zu sprechen. »Kann's wahr sein, was ich gehört hab?«

»Was?«

»Daß der See dich schier verschlungen hätt!«

Sie nickte wortlos und blickte über den sonnglänzenden See hinaus. »Wer hat's dir gesagt?«

Seine feuchten Augen hingen an ihr. »Jetzt, wie ich hergegangen bin unter dem Hag, hat's eure Magd, die Heilwig, mir zugerufen.« Er faßte ihre Hände. »Weil du nur lebst, Rötli!«

Sie blickte lächelnd zu ihm auf. »Gelt, wenn's anders hätt sein müssen, das wär zu früh gewesen für mich? Ich leb so gern! Aber viel hat nimmer gefehlt. Wär mein Bruder nit gekommen, grad noch zur rechten Zeit, so wär's hinuntergegangen.« Mit leisem Schmerzenslaut unterbrach sie ihre Worte. »Geh, druck mir doch die Händ nit so fest, tust mir ja weh!«

Erschrocken ließ Ruedlieb ihre Hände fallen. »Ich hab gemeint, ich müßt dich halten.« Eine Weile standen sie schweigend, dann fragte der Bub: »Wie hat denn nur so was geschehen können?«

»Komm! Ich erzähl dir's.« Sie ging zum Waldsaum und ließ sich im Schatten einer weitästigen Fichte nieder. Ruedlieb setzte sich an ihre Seite. Ein leises Rauschen webte in den Bäumen, über der Lände lag funkelnder Sonnenglanz, und wie Perlen schimmerten die Wassertropfen auf dem ausgebreiteten Hanftuch. Edelrot begann zu erzählen. Kaum hatte sie den Namen Reckas genannt, da ballte Ruedlieb die Fäuste. Seine Augen blitzten hinauf zum Falkenstein. »Allweil die da droben! Einmal der Alte und das andermal die Jungen! Wo ein Unheil wächst, wer hat's ausgesät? Die da droben!«

Beschwichtigend legte ihm Rötli die Hand auf den Arm. »Mußt die Recka nit schelten! Die hat mich lieb.« Sie erzählte wieder. Mit großen Augen hörte Ruedlieb zu und sah hinaus über das stille Wasser. Da glitt zwischen dem Schilf der Insel Bidlieger, aus dem Weitsee kommend, der Einbaum hervor. Wicho führte das Ruder, und vor dem Knecht saß Recka auf der Bank, in lichtem Gewand, das Gesicht und das um die Schultern rieselnde Gelock von einem grauen breitkrempigen Hut überschattet. Ruedlieb sprang auf. »Muß denn die schon wieder da sein!«

»Seit dem Morgen ist sie schon draußen auf dem Weitsee,« flüsterte das Mädchen, »sie hat ihre Stößer gesucht. Hat sie die Vögel?«

»Wenn sie nur hin wären!«

»Geh! Wie magst du so reden! Was können die Vögel dafür?«

Da klang über das Wasser her die Stimme der Wazemannstochter. »Rötli!«

»Recka!« rief Edelrot und eilte auf das Ufer zu.

Ruedlieb stand mit finsterem Gesicht. »Allweil muß eins dazwischen kommen, wenn ich mit dem Rötli zu reden hab!« Eine Weile noch blieb er wartend stehen; als er sah, wie Edelrot an den landenden Einbaum trat, um der Tochter Wazemanns beim Aussteigen behilflich zu sein, faßte er sein Grießbeil und verschwand im Wald.

Recka stieg aus dem Nachen, von Rötli gestützt.

»Ich seh die Stößer nit. Hast du sie nimmer finden können?«

»Nein. Alles Suchen und Rufen war umsonst.« Recka nahm den Hut ab und schüttelte die Locken in den Nacken. »Sie haben sich nit in den Wald verflogen, sonst hätten sie mich hören müssen. Der Elbiß ist untergetaucht, hat die Stößer, die an seinem Hals verschlagen hingen, mit hinuntergezogen und hat sich festgebissen auf dem Seegrund.«

Rötli schüttelte das Köpfchen und flüsterte: »Der ist Luft worden! Das kannst du glauben!«

»Närrlein!« lächelte Recka und strich mit sanfter Hand über Rötlis Haar.

Edelrots Blicke suchten den Buben. Nirgends erblickte sie ihn; doch einen andern sah sie, ihren Bruder. Auch Recka hatte ihn schon gewahrt; hastig wandte sie sich, um das Federspiel, das sie zum Locken der Stößer mitgenommen hatte, aus dem Einbaum zu holen. Sigenot kam von der Ache her, die Angelgerte über der Schulter, das Lägel auf dem Rücken. Sein Gesicht war bleich, und seine Augen hatten einen fremden Blick. Wicho, der vom Ufer kam, das lange Ruder schleifend, nickte ihm zu und kniff die Augen ein – aus ihm lachte die Schadenfreude über Reckas Verlust. Sigenot verstand diese stumme Sprache nicht und verhielt den Schritt. Da lief ihm die Schwester entgegen. »Denk dir, sie hat die Stößer nimmer gefunden!«

»Schad um die Vögel!« sagte der Fischer, ohne einen Blick auf Recka zu werfen. »Sie waren gut abgetragen.«

Vom herben Klang seiner Stimme befremdet, blickte Rötli auf. Da gewahrte sie auf ihres Bruders Kappe eine seltsame Zier: neben der Schwanenfeder war ein dünnschäftiger Pfeil mit verbogener Spitze durch das Otterfell gestoßen, so, wie man eine langstielige Blume auf die Mütze steckt. »Was hast du auf deiner Kappe?«

Sigenot lehnte die Angelrute an die Schulter, nahm die Mütze ab und zog den Pfeil hervor.

Raschen Schrittes kam Recka herbeigegangen. »Was soll der Pfeil?«

Der Fischer hob langsam die ernsten Augen. »Warum fragst du?«

»Weil es ein Pfeil ist aus Hennings Köcher.«

»Aus Hennings Köcher!« wiederholte Sigenot mit halblauter Stimme.

»Ich kenn ihn am Gefieder. Wie kommst du zu dem Pfeil?«

Sigenot wollte sprechen; da streiften seine Augen das Gesicht der Schwester, und er blickte gegen das Haus hinauf. »Hast du nit gehört, Rötli? Die Mutter hat gelacht.«

»Die Mutter? Ich hab nichts gehört.«

»Wohl! Geh nur!«

Edelrot eilte in den Hag und über den Hügel empor.

Fragend blickte Recka den Fischer an. »Warum schickst du die Schwester fort?«

»Weil sie nit zu hören braucht, wie ich zu deines Bruders Pfeil gekommen bin.«

»Ich versteh dich nit. Wo hast du den Pfeil gefunden?«

»Gefunden?« Ein Lächeln zuckte um Sigenots Mund. »Nimm den Pfeil und bring ihn deinem Bruder Henning wieder!« Die Augen auf Recka heftend, legte er das gefiederte Rohr in ihre Hand. »Unter dem Lokstein bin ich an der Ache gestanden und hab die Angel geworfen. Da ist mir der Pfeil von hint her am Hals vorbeigeflogen, daß mich die Feder noch gestreift hat, und ist vor mir ins Wasser gesurrt und auf einen Stein gefahren. So hab ich ihn gefunden.«

Aus Reckas Wangen war alle Farbe gewichen. »Ein böser Zufall,« sagte sie mit schwankender Stimme. »Henning muß nach einem Haselhuhn geschossen haben, und der Pfeil ging fehl und flog durch die Bäume weiter.«

»Kann schon sein!«

»Henning ist ein ungestümer Schütz, der Eifer macht ihn blind. Wär ein Unheil geschehen, es wär das erste nit, das er angerichtet.«

»Da hast du recht!« Der Fischer nickte einen stummen Gruß, schulterte die Angelrute und wollte in das Hagtor treten.

Recka starrte auf den Pfeilschaft in ihrer Hand; dann hob sie die Augen und sah dem Fischer nach. Sie tat einen Schritt, und mit gepreßtem Laut, als geschäh es wider ihren Willen, klang Sigenots Name von ihren Lippen.

Er wandte das Gesicht. »Was willst du?«

Sie zögerte; dann hob sie den schönen, stolzen Kopf und trat auf den Fischer zu. »Ich werde meines Bruders Unverstand dem Vater klagen. Hätt der Zufall bös gespielt, es wär ein übler Vergelt für die Hilf gewesen, die du mir gestern gebracht hast in der Not. Ich bin dir Dank schuldig. Nimm ihn!« Sie streckte die Hand.

Sigenot sagte langsam, mit herbem Klang: »Was ich an dir getan, das hast du vergolten an meiner Schwester. Da braucht's keinen Dank. Wir sind auf gleich, und die Sach ist abgetan. Auch brauchst du deinen Bruder nit verklagen. Wenn er merkt, wie der Pfeil geflogen ist, kränkt er sich schon genug.« Sigenot lächelte wieder. »Zeit lassen!« Er wandte sich ab und trat ins Tor.

Ein zorniger Blick flammte aus Reckas Augen. »Das war der erste Dank, den du von mir gehört hast. Auch der letzte.« Während sie den Bäumen entgegenschritt, zerknickten ihre Hände den dünnen Pfeilschaft.


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