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Das Leben ist wie ein kluger Feldherr. Wenn es Lücken klaffen sieht in der Schar seiner Kämpfer, schiebt es gleich die Reserven nach. Am Samstag wurden für den weiland Scheidhofer die Glocken geläutet. Und am Sonntag hatte der Pfarrer drei Paare von der Kanzel zu verkünden: zum andernmal den Mertl und die Zenz, zum erstenmal den Bonifaz mit der ehr- und tugendsamen Walpurga Neuner – und irgendeinen andern mit der ehr- und tugendsamen Genoveva Schrottenbacher. Das Walperl und die Vev! Wie grundverschieden waren die beiden! Auf der Kanzel hatten sie die gleichen Eigenschaften. Darüber, und auch sonst noch über etwas, schien sich die Vev zu ärgern. Sie trug ein fuchsteufelswildes Gesicht aus der Kirche heraus und machte mit den feinen Zeugstiefeln flinke Schritte. Das Walperl strahlte vor Freude und ging an der Hand des Bonifazius Venantius Gwack mit einer Langsamkeit durch das Dorf, die sonst nicht zu ihren Eigenschaften zählte.
In ihrem glücklichen Triumphgefühl vergaß das Walperl auch nicht der Dankbarkeit. Sie bedachte ihren Herrn vom Morgen bis zum Abend mit so viel Aufmerksamkeit, daß er sich in seiner Einsiedlerwirtschaft ganz behaglich fühlte. Wie schmuck sie seine Stuben und die ganze Villa hielt! Die graue Leinwand war von den Möbeln verschwunden, es gab keine versperrte Tür, und auch der Käfig mit dem Rotkehlchen war von der Sägmühle wieder in die Villa heimgekehrt. Es fehlte vom Inventar der Wohnung nur das kleine Bild, das in dem Kränzl von Immergrün gehangen. Und da konnte Walter, der nach schaffendem Tag den müden Abend am liebsten in dieser Stube verbrachte, stundenlang hinaufschauen zu dem leeren Fleck an der Wand.
Nur einen Raum der Villa, das kleine Stübchen, in welchem Mathild gewohnt hatte, betrat er nie. Ein einziges Mal hatte er's getan, hatte vom Abend bis zum grauenden Morgen dringesessen und den »Faust« zu Ende gelesen. Das war seinem Frieden nicht gut bekommen.
Ein paarmal die Woche verbrachte er den Abend in der Sägmühle. Am Sonntag nachmittag war immer Gesellschaft in der Villa. Bertl mit seiner Frau und der Pfarrer waren die Stammgäste. Manchmal kam auch der Bürgermeister, immer bereit, dem jungen Scheidhofer, wenn es Schwierigkeiten in seinem Besitztum gab, eine Gefälligkeit zu erweisen, amtlich und privatim. Ein prächtiger, herzensguter Mensch, dieser Sonnweber!
Und Schwierigkeiten gab es für den Scheidhofer in Hülle und Fülle. Jeder Widerwärtigkeit begegnete er in der wachsenden Freude an seinem Besitz mit einer ausdauernden Ruhe, die ihn immer auf gute Wege brachte. Die Ruhe nach außen gelang ihm um so leichter, weil er im eigenen Hause keinen Ärger hatte. Die Scheidhofer Leute wären für ihren Herrn durchs Feuer gegangen. Er war gut mit ihnen und gerecht. Auch die Strenge begann er zu lernen. Wenn's grade nötig war und der Bonifaz noch ein bißchen in die Kohlen blies, konnte der Scheidhofer »aufrebellen wie ein Türk«. Und bei der Arbeit war er unermüdlich, einen Tag um den andern. Um alles zu lernen, was ein Landwirt wissen und können muß, schaffte er in der Schule des Bonifaz wie der beste Knecht. Schwere Hände bekam er und ein braunes Gesicht, um dessen Wangen der Bart, den er mager ins Tal gebracht, immer kräftiger zu sprossen begann.
Der Lohn seiner Arbeit war die rastende Freude am Abend. Wie lieb ihm das war: in der roten Dämmerung so heimzuwandern mit dem Bonifaz, gemütlich zu schwatzen vom Gewinn des vergangenen Tages und von der Arbeit des kommenden – und dabei mit frohen Augen jeden Schimmer zu trinken, den die sinkende Sonne übers Tal und um die Berge goß. Auf allen Wegen, die ihn heimführten von seinen Äckern und Wäldern, kannte er genau die Stelle, wo er sich umwenden mußte, um für diesen Tag noch ein letztesmal den Hohen Schein zu sehen. Dann daheim das stille Träumen von allem, was seinem Herzen heilig war, das gläubige Sehnen nach seinem Glück, das er am liebsten in seine Arme gerissen hätte mit jeder nächsten Stunde. Manchmal wurde es ihm zu eng in der Stube. Dann saß er trotz der Müdigkeit, die ihm in allen Gliedern schwerte, bis spät in der Nacht auf der Veranda, lauschte dem heiteren Gekuder des Pärchens, das drüben beim Brunnen hockte, atmete den Duft der neuerschlossenen Rosen und horchte auf das Surren der Nachtschwärmer, die in der Dunkelheit ihren Honig suchten.
Gegen Ende des Monats kamen zwei Fuhren mit großen Kisten und verpackten Möbelstücken. Das alles war für die weiße Stube bestimmt. Die blieb, wie sie war. Nur das Bett des alten Herrn wurde entfernt. Dafür kamen drei große Bücherregale an die Wand und quer in die Fensterecke ein Schreibtisch vom gleichen hellen Holz wie die Vertäfelung der Mauer.
In den bleischweren Kisten waren die tausend Bücher, die Walter seit seinem Austritt auf dem Seminar gekauft hatte. Und neue dazu. Er hatte an seinen Buchhändler geschrieben: »Schicken Sie mir von deutscher Literatur alles, was Wert hat. Den Goethe in bester Ausgabe. Und das Gediegenste des Auslandes, Französisches und Englisches im Original, alles andere in guten Übersetzungen.« Der Buchhändler war augenscheinlich der Meinung, daß in der Weltliteratur sehr vieles von Wert ist. Die neuen Bücher füllten für sich allein fünf riesige Kisten.
Zwei Tage brauchte Walter, ein Freitag und Samstag war es, um in der weißen Stube seine Bibliothek in Ordnung zu bringen. Das Walperl kam immer wieder und staunte: »Ui Jegerl! Bis dös alles einigeht in a Köpfl! Da muß einer an Schädel haben wie a Metzenschaffel.«
Am Samstag abend, als Walter die mühsame Arbeit vollendet hatte, kam der Moosjäger. So tritt ein König in die Stube. »Scheidhofer, jetzt bin ich droben auf der Höh. Morgen könnts auffisteigen. Der neue Weg is fertig bis zur Alm.« Dem Mertl blitzten vor Stolz die Augen. Und Walter hatte eine Freude, daß er den Moosjäger am liebsten für den Abend bei sich behalten hätte. Doch Mamertus Troll, der am Montag seine Hochzeit halten wollte, hatte noch in seinem Häuschen zu schaffen. »Am Dienstag kann ich nacher anfangen mit der Holzmeisterei.«
Die Wegeröffnung mußte gefeiert werden! Der Sonntag brachte einen herrlichen Morgen. Nach dem Hochamt fuhren sie auf einem Leiterwagen zum Hohen Schein hinauf, Walter mit dem ganzen Gesinde des Scheidhofes, das Walperl, der Moosjäger und die Zenz mit dem Maxerl. In der Sägemühle hatten sie nein gesagt; einen lustigen Tag wollten sie nicht mitmachen.
Was wurde das für eine vergnügte Fahrt! Ein Liedl ums andre sangen sie. Von den Knechten einer spielte die Mundharmonika. Am Fuß des Hohen Scheins wurden die Pferde bei jenem Bauern eingestellt, der den Scheidhof als das beste Gut der Welt taxiert hatte. Den Korb mit der Zehrung und das Weinfäßchen lud man auf einen Handkarren. Dann ging's los, mit Lachen und Schwatzen, hinauf über den schönen glatten Weg. Wieviel Lobsprüche Mertl da zu hören bekam! Und droben, die Lies, die den heiteren Lärm hörte, fing zu jodeln an. Als sie vor der Sennhütte dem Scheidhofer die Hand reichte, fragte er lachend: »Wie geht's, Lies? Wird fleißig gekitzelt?«
»A bißl, ja! Hab auch wieder ebbes aussibracht.«
»Was denn?«
»Daß man nix aussibringt.«
Während das Walperl in der Hütte die Kocherei begann, stiegen der Scheidhofer und die Lies über das Almfeld, um die Herde zu mustern. Walter redete wenig. Immer ließ er die Augen umhergehen. Die weite Schönheit, die ihn umgab, war für ihn ein Acker, auf dem die Erinnerungen sproßten, so reich und gesund, wie da drunten auf seinem Feld die Halme standen. Die Kohlröschen hatten schon verblüht. Nur ein einziges fand er noch. Das steckte er nicht auf den Hut, sondern legte es achtsam in sein Notizbuch.
Je stiller der Scheidhofer war, um so fleißiger schwatzte die Lies. Von jedem Rind und Kalb erzählte sie die Lebensgeschichte. Dabei duzte sie den Scheidhofer. Aber sie sprach nicht mehr von seinen zwei linken Füßen, sondern gab ihm gute Ratschläge. »Laß dir nix gfallen von die Nachbarn! Schlau mußt sein! Und d' Ehhalten mußt kurz anbinden. Aussizarren mußt aus die Leut, was ausgeht. Auf jeden Pfennig mußt drucken. Nacher bringst es zu ebbes!«
»Ich glaube, daß es auch gehen wird, wenn ich redlich bin gegen alle, und wenn ich meine Leute als Menschen behandle.«
Nach langem Besinnen sagte die Lies mit freundlichem Blick: »Probier's!«
Er streckte ihr die Hand hin. »Ich bin dir gut, Lies! Willst du es mir auch sein?«
»Ja.«
Bis zum Abend blieben sie und warteten auf den Mondschein.
Daß am Montag eine Hochzeit war, das merkte niemand im Dorf. Kein Böllerschuß, kein Juhschrei, keine Hochzeitsklarinette. Und doch ein Glück, das in seiner Stille noch höher jauchzte, als der Kirchturm stieg. Die Zenz trug statt des Kränzls ein blauseidenes Kopftuch, und Mamertus Troll hatte sich zu Ehren des Tages einen neuen Hut gekauft. Nach der Messe gingen sie mit dem Maxerl und dem alten Hasen heim in ihr Häuschen, und die Zenz begann das Hochzeitsmahl zu kochen, während die »Mannder« vor der Haustür saßen und ihre Pfeifen rauchten. Um zwölf Uhr kamen die Gäste: Walter und der hochwürdige Herr. Die Zenz, die zur Begrüßung aus der Küche lief, war kreidebleich vor Aufregung, ob ihr auch das Geselchte und die Knödel geraten wären?
Jeder von den Gästen war mit einem großen Paket gekommen. Der Pfarrer stellte sich mit der versprochenen Ziehharmonika ein, und Walter brachte für die Zenz eine schöne »Tracht«, wie sie die verheirateten Frauen im Dorfe trugen, für den Mertl eine Holzmeisteruniform aus grauem Loden mit grünen Aufschlägen. Natürlich mußten sich die beiden gleich in den neuen Staat werfen. Prächtig sahen sie aus und brachten vor Stolz die Ellbogen nicht mehr an den Leib.
Die Zenz drängte zum »Mahl«, denn das Geselchte, das fünfeinhalb Stunden kochte, drohte aus dem Leim zu gehen. Doch der Moosjäger bat sich das aus, daß man zuerst noch das »Haus« und den »Garten« betrachten müßte – heut sagte er nicht »Häusl« und »Gärtl«. Auf den Beeten, die man vor drei Wochen erst umgegraben hatte, stand fingerhoch ein grüner Wuchs. der sich wie Unkraut ansah. Nach der Aussage des Mertl waren das die »feinsten Gmüsner« und die »schönsten Blümeln«. Dann wanderte man durchs Haus. Die Kammer war noch leer; Vater Has sollte erst am kommenden Morgen einziehen. Aber die Küche! Und dann das »Hexenwerk« der Zenz: die Wohnstube. Jetzt war sie komplett; hinter dem weißen Ofen stand das kleine Bettstattl, das der Moosjäger fürs Maxerl gezimmert hatte. Den gedeckten Tisch zierte ein Waldblumenstrauß, so groß, daß von den Gästen, als sie saßen, keiner das Gesicht des andern sah. Walter und der Hochwürdige aßen wenig und lobten viel. Weil die beiden so »kleinweis« zugriffen, mußten Mertl und Vater Has im Schweiße ihres Angesichts arbeiten, um über das Geselchte Herr zu werden. Den Kaffee trank man in dem »Salettl«, das der Moosjäger im Schatten eines Apfelbaumes »konstrawiert« hatte. Und da trat nun die Ziehharmonika in Aktion.
Sieben Jahre hatte Mamertus Troll keine »Harmoni« mehr zwischen den Fäusten gehabt. Seit damals waren ihm die Finger steif geworden. Nach einem Stündchen hatte er sich leidlich eingespielt und orgelte unverdrossen die »Wacht am Rhein«, den »Neubayrischen« und ein Dutzend Ländler herunter, von denen einer wie der andere klang. Die Zenz machte heilige Augen dazu, und während sie das Maxerl auf ihren Schoß hob, sagte sie leis: »So wie heut, so is mir's beim Göthinger gwesen.«
Der hochwürdige Herr bekam bei dieser dudelnden Musik einen müden Zug im Gesicht. Und plötzlich legte er dem Moosjäger die Hand auf den Arm: »Paß einmal auf, Mertele! Schön kannst du's! Aber jetzt sing ich dir was vor. Das probier einmal nachzuspielen!« Die Hände ineinanderschlingend, beugte sich der Pfarrer über den Tisch und begann mit andächtigem Blick zu summen: »Diii jumm diiiöh, diii jumm diiiöh, dijnm dijum di jö hööö –« Mit ähnlichen Lauten ging es weiter. In Buchstaben sieht es nicht gut aus; aber wie es der hochwürdige Herr Christian Schnerfer vor sich hinsummte, war's eine feine, zärtliche Weise. Dabei probierte der Moosjäger unter aufmerksamem Lauschen die Griffe. Als er's ein paarmal mit korrigierender Hilfe des Pfarrers versucht hatte, brachte er die schöne Weise mit leidlicher Harmonie ganz nett heraus. »Zenzle! Da mußt auflusen! Herrgott, is dös ebbes Liebs!«
»Gelt, ja! Und weißt du auch, Mertele, von wem das ist?«
Mamertus spielte immer zu. »Der hat ebbes könnt! Sakra!«
»Das ist vom Meister Beethoven. Das heilige Andante aus der Kreutzersonate. Ein Stückl von allem Schönsten, was je in Menschenherzen geklungen hat.«
Der Moosjäger riß die glänzenden Augen auf. »Und so ebbes kann ich jetzt!« Wieder fing er zu spielen an. »Lus, Zenzle, lus!«
Herr Christian Schnerfer stand auf. »Das spiel noch ein paarmal, gelt? Der Herr Doktor und ich, wir gehen ein Stückl zum Wald hinüber, daß wir's piano aus der Ferne hören können.« Als die beiden den Waldsaum erreichten, sagte der Pfarrer: »Ich mein', wir lassen die Leutln jetzt allein mit ihrer Freud.« Während sie am Wald entlang schritten, seufzte er ein ums andere Mal. »Dokterl! So viel muß ich auf Thildele denken!«
Walter schwieg.
»Meine liebe Musik! No ja, der Schulmeister! Er plagt sich. Aber aus meinem alten Klavierkasten bringt er halt nichts heraus. Da hat nur das Thildele die richtigen Händ gehabt. Gestern hat er mir die Beethovensche Frühlingssonat zugerichtet – och du lieber Herrgott! Mozart und Haydn könnt er zur Not noch prestieren. Aber mit'm Trio geht nix mehr zamm. An den Sägmüller trau ich mich gar nimmer an.«
»Mit dem Bertl will ich reden. Dann könntet ihr am Mittwoch bei mir zusammenkommen. Und Haydn spielen. Ja?«
Der Pfarrer faßte Walters Hände. »Vergeltsgott, Dokterle!«
Piano klang es über die abgemähten Wiesen noch immer herüber: »Diii jumm diiiöh, diii jumm diiiöh –«
Dem Mertl blieben schließlich die zwei Gäste doch zu lange aus. Er guckte aus dem Salettl und sah die beiden weit draußen am Waldsaum hingehen. »Jesses, die sind furt!« Das sagte er erschrocken. Dann wurde er still. Und dem Zenzle ging ein heißes Rot über die Wangen.
Jetzt kam der Peterl zu seinem Hochzeitsrecht. So lang die Herrenleute da waren, hatte er kein Wörtl geschnauft. Aber jetzt! Jetzt waren der Peterl und sein Schimmel die Hauptpersonen. Und je mehr der Peterl vom roten Spezial trank, desto wundersamere Eigenschaften bekam der Schimmel. Als es beim Glanz des Hohen Scheins zu dämmern anfing, hatte der alte Has das letzte Tröpfl aus dem Krug geholt und kam auf den Einfall, dem Maxele den Garten zu zeigen. Beim Garten sagte er: »Maxele, heut därfst noch auf'm Schimmele reiten! Und nacher schlafst bei mir Gelt, ja?«
»Warum darf ich denn heut net im neuen Bettstattl schlafen?«
»Dös is noch net fertig. Dös hat luckere Füß. Da kunntst aussifallen.«
Im Salettl saß das Hochzeitspaar. Beklommen sagte die Zenz: »Jetzt muß ich abspülen.« Sie wollte ins Haus. Der Mertl nahm sie fest bei der Hand. »Dös kannst dir für morgen lassen.« Diesen Mangel an Ordnungssinn entschuldigte er durch die Meinung: »Hochzet hat man net allweil. Hocken wir uns a bißl aussi ins Gras! Magst, Zenzle? Nacher spiel ich dir ebbes Schöns.« In der Glut des dämmernden Abends ruhten sie auf der Erde. Und Mertl spielte. »Diii iumm diiiöh –« Plötzlich legte er die Harmonika ins Gras und sah der Zenz in die Augen. »Gelt, Zenzle? Gelt, jetzt denkst nimmer an den andern?«
Wortlos klammerte die Zenz ihre zitternden Arme um seinen Hals.
Am andern Morgen merkte der Moosjäger, daß die Harmonika ein bißchen verstimmt war. Doch als er das vom Tau durchfeuchtete Instrument für ein Stündl in die Sonne legte, bekam es wieder seinen reinen Ton. Dann nahm Mamertus Troll die Axt und den Rucksack. »Pfüet dich, Weiberl! Bis auf d' Nacht bin ich wieder da.« Er wanderte zum Scheidhof hinaus.
Zwei Tage hatte Walter mit seinem Holzmeister im Walde zu schaffen, um über den Arbeitsplan der nächsten Monate klarzuwerden. Als er am Mittwoch spätabends heimkam, war das Trio schon versammelt. Sie spielten das Zwölfte von Haydn, unter allen das leichteste, aus Rücksicht für den Schulmeister.
»Bertele?« fragte der Pfarrer. »Hast du ein neues Cello?«
Es war das alte Instrument. Nur klang es anders. Was Bertl an Lachen verloren, das hatten seine Saiten an Klang und Wärme gefunden. Während er spielte, stand Frau Rosl neben ihm und wendete das Notenblatt, sooft er mit Kopf einen Nicker machte.
Bis nach Mitternacht musizierten sie. Es war trotz aller Musik ein stiller Abend.
Den Scheidhofer litt es nicht daheim, als die andern gingen. Er begleitete den Sägmüller und die Rosl bis zur Mühle hinaus. Auf dem Heimweg sah er beim Schulmeister noch Licht und klopfte ans Fenster – eine etwas späte Stunde für einen Schüler, der einen Lehrer im Violinspiel sucht.
Die Woche darauf wurde Hochzeit im Scheidhof gefeiert. Da ging es lebendiger zu als bei der Hochzeit des Mamertus Troll. Und ein merkwürdiger Vorfall ereignete sich. Als man in der großen, neumöblierten Stube des seligen Rappen-Lenz beim Hochzeitsmahle saß, sprang die Braut, der das Kränzl neckisch in den Haaren zitterte, plötzlich vom Sessel auf, packte den Hut des Bräutigams und sprang zur Tür hinaus. Bonifaz lachte, daß unter den zwei Mehlflecken seines Bärtchen die weißen Zähne blinkten. »Was macht s' denn schon wieder für an Unfürm, dö narrische Gredl?« Nach einer Weile erschien das Walperl, lustig kichernd, mit brennendem Gesicht. Im Hut des Bräutigams brachte sie etwas getragen, das sie mit der seidenen Schürze verdeckte. »Was hast denn da?« fragte Bonifaz. Da warf die Gwackin ihrem Mann mit Lachen den ganzen Hut voll reifer, saftiger Kirschen an den Kopf. Wie ein roter Regen fiel's über den Bonifaz her, und von den zerplatzenden Kirschen, die schon überreif geworden, bekam er rote Tupfen im Gesicht und auf dem silberblonden Haarschopf. Alles lachte. Doch niemand schien zu wissen, was dieses absonderliche Hochzeitsspiel bedeuten sollte. »Dös muß an alter Brauch sein!« meinte die Lies. Der Scheidhofer schmunzelte und drohte der Braut mit dem Finger. Dann speiste das Hochzeitspaar unter Lachen und Flüstern die roten Kirschen auf.
Das Glück des Gwack und seiner Gwackin änderte nichts am Leben im Scheidhof. Nur daß das Walperl nimmer in der Villa schlief. Walter hatte eine neue Magd aufgenommen. Die war nur für das Gröbere; alle Sorge für den Scheidhofer blieb in Walperls Händen. Und da murrte der Bonifaz nie, wenn er abends von der Arbeit heimkam und seine Gwackin noch drüben in der Villa war. Nach Anbruch der Dunkelheit hatten die beiden noch immer Zeit, ein Stündl auf der Hausbank zu sitzen. Dabei hatten sie auch wieder ihre »Musi«. So schön wie vorzeiten klang das freilich nicht. Für den Bonifaz wurde es eine Gewohnheit, zu sagen: »Heut tut er aber wieder schiech auf seiner Geigen!« Immer entschuldigte das Walperl: »Mein, er lernt's halt erst!« Bei der Arbeit, meinte Bonifaz, käme der Scheidhofer flinker vorwärts. Das war ein verdientes Lob. Walter schulte sich so rasch in alle Wirtschaft des Hofes ein, daß Bonifaz das Gängelband, an dem er den Scheidhofer führte, immer lockerer nehmen konnte. Und je besser sich Walter in aller Arbeit zu Hause fühlte, um so heißer wuchs in ihm die Freude an seinem Besitz.
Die Prophezeiung des Bonifaz von der »doppelten Frucht« erfüllte sich. So reiche Ernte hatten die Äcker des Scheidhofes noch selten getragen. Trotzdem konnte Walter bei der Führung seines Wirtschaftsbuches nur wenig ins Haben schreiben. Den ganzen Sommer wurde gebaut und gebessert, was der Rappen-Lenz seit Jahren hatte verschlampen lassen. Dazu die praktischen Neuerungen, die der Bonifaz dem Scheidhofer anriet. Das kostete! Bis es Winter wurde, waren die Tausende, die der Notar beim Kauf des Scheidhofes erspart hatte, so ziemlich draufgegangen. Aber der Scheidhof war eine Sehenswürdigkeit geworden, auch als Wirtschaft. Ein ganzes Dörfl neuer Dächer glänzte rings um das spitz gegiebelte Bauernhaus, das mit seinen weißen Mauern und grünen Läden ein verjüngtes Ansehen hatte. Der Stall für die Zuchtstuten, die im Frühjahr kommen sollten, war schon unter Dach, die Viehställe waren umgebaut und erweitert, und in der neuen Schweizerei, deren Führung die Lies nach dem Abtrieb vom Hohen Schein übernommen hatte, arbeitete Abend für Abend die Zentrifugalmaschine, um aus den Milchfluten, die von den Ställen gebracht wurden, den Rahm herauszuschwingen. In jeder Nacht jagte ein Wagen mit den Butterkisten und den plombierten Rahmkesseln nach Mitterwalchen zur Bahn.
Als der erste Schnee fiel, ging die Arbeit in ruhigem Geleise. Von Monat zu Monat konnte Walter immer kleinere Posten ins Soll, immer größere ins Haben schreiben.
Im Hof wurde die Arbeit mit dem Winter leicht. Schwer wurde sie jetzt im Wald. Mamertus Troll bekam ein mageres Gesicht, und die Holzknechte, die unter ihm arbeiteten, mußten schwitzen, trotz der grimmigen Kälte. An jedem Tag, den das Wetter leidlich machte, war Walter draußen, um die Bäume auszumessen und die Klaftern zu registrieren. Vom Morgen bis in die Dunkelheit pfiffen die Schlitten, um das Holz zur Bahn zu führen, das man zur Erneuerung der überständigen Waldteile schlagen mußte. Daheim fand Walter die warme Stube und den gedeckten Tisch. War der Tee getrunken, so pflegte der Scheidhofer noch drei, vier Stunden mit zähem Fleiß auf der Geige herunterzukratzen.
Wenn das Wetter mit Stöbern und Winden zu toll wurde, blieb Walter nach einem Rundgang durch die Wirtschaftsräume den ganzen Tag in der weißen Stube. Bei seinen Büchern. Immer wieder drängten sich ihm bei der Arbeit Fragen auf, für die er keine Antwort wußte. Und da ließ er sich vom Buchhändler kommen, was er brauchte, und machte sich drüber, bis er beherrschte, was er wissen wollte. Wie anders war dieses spürende Lernen jetzt, als früher jenes nervenzerreibende Ringen nach Erkenntnis der letzten Dinge. Die Rätsel, die ihn jetzt beschäftigten, waren Rätsel, die eine Lösung hatten. Was er geistig zu erringen suchte, stand in lebendigem Zusammenhang mit seiner Arbeit, mit seinem Feld, mit seinem Wald. »Wissenschaft in ihrer nützlichen Beziehung auf das Leben«, hatte der alte Herr das genannt, »Wissen, das unser Leben reicher und reiner macht!«
Wie war die Religion, die ihm der Forstmeister auf der Weiherwiese gepredigt hatte, Fleisch und Blut in ihm geworden beim Schaffen in der Sonne! »Woher wir kommen und wohin wir gehen, das werden wir nie erkennen. Der Fleck Erde, auf den uns Gott gestellt hat, ist so schön, daß wir zufrieden sein müssen. Wenn ich klar den Wert meines Lebens erkenne, hab ich ein Stück Welt erkannt. Und kann ich Ordnung und Schönheit in mein kleines Dasein bringen, so wird mir auch die Welt zu einem schönen Bild der Ordnung.« Das Buch, das für Walter von den Rätseln seines erstarkenden Lebens handelte, lag nicht in der Tiefe des Weihers. Mit offenen Blättern war es in jeder Stunde vor seinen Augen und redete zu seinem Herzen, sooft er vom Schreibtisch hinüberblickte zu der Stelle, an der das Bett des Forstmeisters gestanden. Er liebte das: eine Weile hinzusehen und dann die Augen zu schließen. Wie hell es da herauswuchs aus seinem Erinnern! Wie klar er die Geliebte sah, mit jenem Buch auf dem Schoß! Wie deutlich er Mathilds Stimme hörte!
»Bin ich ein Gott? Mir wird so licht! Ich schau in diesen reinen Zügen Die wirkende Natur vor meiner Seele liegen. Jetzt erst erkenn ich, was der Weise spricht: Die Geisterwelt ist nicht verschlossen; Dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot! Auf, bade, Schüler, unverdrossen Die ird'sche Brust im Morgenrot!« |
Seit jenem brennenden Abend hatte er den »Faust« immer wieder gelesen. Das Brevier seines Lebens war dieses Buch geworden. Aber die Vorliebe für den Größten machte Walter nicht ungerecht für die Großen. Wieviel schöne Stunden verdankte er dem Reichtum, der da Band an Band in den hohen Kästen stand! Die Wirkung dieser Bücher auf Walter war eine doppelt tiefe. Er konnte die stürmische Begeisterung spüren, die sie in jungen Herzen entzünden, und erfaßte ihren ernsten Wert mit dem gereiften Verstand des Mannes. Das war eines von den köstlichen Geschenken seines Lebens: daß er diese Meisterwerke der Dichtung, die andere als halbe Kinder verschlingen und vergessen, auf der blühenden Höhe seiner Jahre dürstend aufnahm in Herz und Blut, in Geist und Seele.
Wo er so reich gewann, da wollte er auch geben. Er machte es hier wie in der Wirtschaft: spürte man einen Ruck nach vorwärts, dann lohnte er die Leute für ihren Fleiß und gab von dem, was er selbst gewann. Und las er, was ihm Freude machte, dann legte er das für den Samstag zurück. Da wurde um fünf Uhr Feierabend gemacht, und alle Dienstboten des Scheidhofers waren bei Walter in seiner großen Stube droben zu Gast. Sie bekamen ein gutes Nachtmahl, ihren Trunk Bier und Wein dazu; dann las er ihnen was Schönes vor und erklärte das. Wie dankbar die Leute waren! Besonders die Lies! Die »pieperte« die ganze Woche auf den Samstag wie das Hühnchen auf die gehackten Eier. Wenn die Leute nach einem solchen Abend in der sternhellen Winternacht hinübergingen zu ihren Schlafstätten, war es an der Regel, daß die Lies zum Bonifaz sagte: »Mensch, heut hab ich wieder ebbes aussikitzelt! Und unser Bauer! Den soll uns der Herrgott derhalten! Tät's aufs Beten ankommen, für den kunnt ich Rosenkränz notteln den ganzen Tag.«
Mit der gleichen Freude, mit der die Lies jedem Samstag entgegensah, wartete Walter auf jeden Mittwoch. Nach Weihnachten war er mit der Violine so weit, daß er bei leichten Quartetten die zweite Geige spielen konnte. Und da wurden zwei Stücke emsig probiert: ein Quartett von Mozart und eine Violinsonate von Haydn.
Nach Lichtmeß verlor der Mittwoch eine dankbare Zuhörerin. Frau Rosl kam nicht mehr, weil sie jetzt, wie sich der Sägmüller ausdrückte, »ein bisserl Obacht geben« mußte. Dafür stellte sich ein neuer Gast jeden Mittwoch pünktlich ein: Michael Innerebner. Aus seinem Gesicht redete noch die überstandene Krankheit. Aber ein stiller, tiefer Glanz war in seinen Augen, sein ganzes Wesen war ein anderes geworden. Er sprach nicht viel. Am liebsten saß er, wenn musiziert wurde, in einer dämmerigen Ecke für sich allein.
In der zweiten Märzwoche mußte der Mittwoch abgesagt werden; der Lehrer konnte nicht musizieren, weil ihn einer von den Schulbuben in den Finger gebissen hatte. Um den Abend nicht allein zu sein, ließ Walter seine Leute kommen, als wär's ein Samstag. Er las ihnen aus einem astronomischen Werk das Kapitel über die Sonne vor. Während er las, kam Innerebner, der nicht wußte, daß man das Trio abgesagt hatte, und setzte sich zwischen den Knechten an den Tisch. Als Walter mit dem Kapitel zu Ende war, begann er das Gelesene zu erklären. Seine Stimme hatte einen warmen, fesselnden Klang, als er die ewige Wiederkehr der Weltenbildung schilderte, das Werden und Vergehen der Sonnen, das Ausbrennen und Erkalten der Sterne, die schwindelnden Fernen zwischen diesen Lichtern Gottes und das eherne Gesetz, dem sie gehorchen in Glanz und Dunkelheit. Ans dem Feuerherzen der Mutter Sonne rauscht eine Flamme hinaus in das All. Jahrmyriaden kreist sie als brennender Ring und wird zum glühenden Ball. Jahrbillionen müssen vergehen, bis seine Rinde erkaltet, bis sich aus Feuerstürmen und flutenden Meeren die Täler und Berge der Erde formen. Das ist ein Wandel durch Millionen Jahre, bis die erste Pflanze ergrünt, das erste Leben keimt mit pochendem Herzen. Tausende und aber Tausende von Lebensformen entstehen und vergehen, ehe der Fuß des ersten Menschen über grüne Auen schreitet und seinen Weg sucht durch die Finsternis der Wälder.
Als Walter geschlossen hatte, blieb es in der Stube still. Tief atmend faßte Bonifazius Gwack die Hand seiner runden Gwackin. Und die Lies sagte: »Da muß man 's Kitzeln gut sein lassen! Mensch, da kommst dir für wie der Floh auf der Bettstatt. Allweil hupft er. Aber auf d' Stubendecken kommt er halt net auffi.« Das Wort machte die Knechte lachen, doch die Magd, die dem Rappen-Lenz verbrieft gewesen, guckte scheu zum Kaplan hinüber. Schön war's freilich, was sie da gehört hatte, nur mit dem Kleinen Katechismus stimmte die Sache nicht ganz.
Innerebner hatte auf dem Tisch die Hände ineinandergeschlungen. Andacht war in seinen Augen, als er sagte: »Wie herrlich ist Gottes Werk! Wie schön unser kleines Leben in der Mitte seiner großen Wunder!« Dann traten sie alle in die klare, blaue Winternacht hinaus, und Walter zeigte ihnen die Planeten, die man sehen konnte, und nannte ihnen die Namen der Sternbilder. Kein Lufthauch rührte sich. Beim Glanz der Sterne stand mit dunklem Stahlblau der Hohe Schein und sein Schneegehäng in der Nacht.
»Wann's mich net trügt«, sagte Bonifaz, »steht morgen Föhnwetter ein, und 's Fruhjahr kommt.«
Was war an diesem Wort, daß Walter keinen Laut mehr sprechen konnte? Seine Hand zitterte, als er sie zur guten Nacht seinen Leuten reichte. Dann begleitete er den Kaplan nach Hause. Michael ging mit Walter wieder heim bis zum Scheidhof, und Walter wieder mit ihm zurück ins Dorf. Sie wurden Freunde in dieser Nacht.
Auch diesmal hatte Bonifaz richtig prophezeit. Am Morgen brauste der warme Föhn. Als bei klarem Himmel die Sonne kam, begannen die Lawinen zu donnern. Gegen Mittag fuhr über den Hohen Schein eine Lahn herunter und machte eine breite Gasse der Almen grün.
Im Scheidhof zog man die Pflüge auf den Remisen und begann die Eisen zu schärfen. In der vorletzten Märzwoche kamen die vierzehn Pferde, die Walter zur Besetzung des Gestüts gekauft hatte. Und die Arbeit im Scheidhof verlangte flinke Arme.
Wie waren die Tage, die jetzt kamen, in ihrer Frühlingsfrische so mild! Aber merkwürdig, diese linden Tage schlugen weder dem Scheidhofer noch dem Bonifaz gut an. Venantius Gwack, der Sichere, bekam was Fahriges. Sooft er sich für eine Minute von der Arbeit losmachen konnte, sprang er ins Haus. Und Walter sah manchmal aus wie ein Mensch, den das Wechselfieber befallen hat. Mit seiner frohen Ruhe bei der Arbeit war es vorbei. Wenn er mit den Knechten auf dem Acker war, oder im Wald bei seinem Holzmeister, der die Baumschule anlegte, rannte er oft plötzlich davon und heim. Und zankte mit dem Gärtner, der die Rosenbäumchen nicht richtig aufgebunden oder im Garten irgend was anders gemacht hatte, als es im vergangenen Jahr gewesen.
Zum Verdruß des Bonifaz schraubte sich der Scheidhofer in den letzten Märztagen ganz von der Wirtschaft los und arbeitete nur noch im Garten. Am Morgen des ersten April, noch ehe die Sonne über den Hohen Schein herauftauchte, stand Walter bei der Veranda auf einer Leiter, um die Ranken des Pfeifenstrauches zu beschneiden. Da kam der Bonifaz gerannt und schrie: »He! Scheidhofer! Wie hat denn der Göthinger mit'm Fürnamen gheißen?« Verwundert guckte Walter über die Leiter hinunter. Er schien nicht zu wissen, wie er die akute Erscheinung dieses literarhistorischen Forschungstriebes aufnehmen sollte. »Warum fragst du mich das?«
»Dös hat sein' Grund! Wie hat er denn gheißen?«
»Johann Wolfgang Goethe.«
»Was? Zwei Namen hat er ghabt?« Behaglich lachte Bonifaz vor sich hin. »Dös paßt mir! Da taufen wir den ein' auf Hansl und den anderen auf Wölferl – Johann Gwack und Wolfgang Gwack!«
Jetzt kapierte der Scheidhofer. »Bonifaz!«
»Grad hat 's Walperl Zwilling kriegt. Zwei Mordslackeln von Buben! Köpf haben s' wie Bischöf! Und da haben wir ausgmacht: den ersten taufen wir auf'n Göthinger, und den andern taufen wir nach Ihnen. Aber wenn der Göthinger zwei Namen hat! Scheidhofer, da wirst zruckstehn müssen.«
Walter lachte.
»Jetzt muß ich gleich zum Pfarr einisausen.« Bonifaz rannte davon. Als er in den Pfarrhof kam, empfing ihn der Hochwürdige, der sich in erregter Stimmung zu befinden schien, mit der sonderbaren Frage: »So? Kommst auch schon daher?« Herr Christian Schnerfer war gewiß kein Feind der priesterlichen Mühe. Aber in dieser ersten Aprilwoche häufte sich seine Arbeit als Seelsorger bedenklich. Innerhalb weniger Tage hatte er dreiundzwanzig Kinder zu taufen, von denen die Majorität nach der alten Mode Anspruch auf einen langen, ungewöhnlichen Namen gehabt hätten: Marzellinus, Karpasius, Athanaserl, Eleutheria oder Speriförgerl, welch letzterer Name im Kalender verzeichnet steht als Georgi Speerfeier.
In diesen Tagen hörte man vom hochwürdigen Herrn sehr häufig ein mystisches Wort: »Die verflixte Komödie!« Als er nach der dreiundzwanzigsten Taufe aus der Kirche kam, begegnete er dem Kaplan. Zärtlich streichelte er ihm die Wange. »Gott sei Lob und Dank, Michele! Du hast wenigstens kein Kind net kriegt!« Während die beiden noch beisammenstanden, kam Mamertus Troll, der Holzmeister, der zum Scheidhof ging. »So, so? Schon wieder einer?«
»Was?« fragte der Moosjäger verdutzt.
»Wird bei dir auch schon tauft?«
Mertl lachte. »In vier, fünf Wochen wird's nimmer weit fehlen.«
»Gottlob!« Der Hochwürdige atmete auf. »Wenigstens einer, der ungoethisch gewartet hat, bis er verheiratet war! Da kann man doch wieder mit gutem Gewissen an die Moralität der Menschheit glauben.«
Draußen im Scheidhof fand der Holzmeister seinen Herrn bei der Arbeit im Garten und wollte ihn abholen, um mit ihm hinaufzuwandern zur fertig umzäunten Baumschule. Walter schüttelte den Kopf. »Ein andermal, Mertl! Heut muß ich mit dem Garten in Ordnung kommen.«
Bei sinkender Dämmerung, als Walter mit dem Gärtner noch immer schaffte, kam Bonifaz: »Scheidhofer, jetzt hilft nix mehr, morgen müssen S' mit aussi auf's Feld! Die ganzen Haberäcker haben wir schon angsät mit der Maschin. Den Acker bei der Weiherwiesen hab ich noch allweil aufgspart für Enk. D' Maschin macht die besser Arbeit, is schon wahr. Aber als Bauer müßts wissen, wie man 's Treid auswirft mit der Hand.«
Das wurde ein klarer, windstiller Morgen. Die westlichen Berge hatten schon Sonnenglanz. Über den niederen Wäldern und im Tale lag noch das kühle Blau des Schattenkegels, den der Hohe Schein mit seiner beschneiten Zinne herwarf. Hinter den silbrig funkelnden Rändern der weißen Felspyramide zuckten goldene Strahlen ins Blau, während Bonifaz den Scheidhofer im Samenwurf unterwies. Dann band er ihm das weiße Sämannstuch um die Hüften und schüttete den gelben Hafer drein. Ein erster, matter Goldglanz huschte über den dampfenden Acker hin. »Fang an, Bauer! D' Sunn steigt auffi!«
Aus dem Weiherwald klang der Schlag einer Amsel, und vom Scheidhof kam ein weißer Taubenschwarm über die knospenden Buchen herübergezogen.
Langsam, mit breitem Schritt, ging Walter über die linden Schollen hin und streute den Samen. Wie ein Regen feiner Goldkörner flog es von seiner schwingenden Hand. Bonifaz schritt hinter ihm her und warf noch füllend den Samen auf, wo dem Scheidhofer ein Wurf mißlungen war. Hinter den beiden führte der Jungknecht mit zwei Ochsen die Egge, an der die Zähne mit großen Dornreisern durchflochten waren, um den Samen mit Erde zu überkehren. Tat der Scheidhofer einen falschen Wurf, dann korrigierte Bonifaz: »D' Finger hast z'weit!« Oder: »Den Arm mußt besser ausschwingen!« Immer seltener hatte er was einzuwenden, und aus der zweiten Hälfte des Ackers ging er mit schmunzelnder Zufriedenheit hinter seinem Herrn her.
Walters Augen brannten, und ein ruhiges Leuchten war in seinen Augen, während ihm in der Sonne die fliegenden Körner durch die Finger rieselten. Von aller Arbeit, mit der seine Hand vertraut geworden, hatte ihm noch keine eine so starke Freude gegeben als die Arbeit dieses Frühlingsmorgens. Wie Andacht war es in ihm. Lebenskeime auf fruchtbaren Boden streuen – das ist heiliges Werk. Ihm war zumut, als würfe er mit diesen Körnern den Samen aus für das reifende Glück seines Lebens. Schon tat er den letzten Gang über den Acker hin, als Bonifaz sagte: »Herr, da muß ebbes sein! Der Sägmüller kommt wie narret aussigsaust durch'n Wald!«
Drüben bei der großen Buche tauchte Bertl am Ufer des Weihers auf. »Walter!« schrie er und schüttelte in der erhobenen Hand was Weißes.
Der Scheidhofer hatte den Arm zum Wurf geschwungen. Er ließ ihn wieder sinken. Brennend schoß ihm das Blut ins Gesicht, und das Häufl Körner, das er noch hatte säen wollen, fiel ihm aus der zitternden Hand. Sein Herz erriet die Nachricht, welche Bertl brachte. In diesen Monaten war ihm nie ein Wort seiner dürstenden Sehnsucht über die Lippen gekommen, den langen Sommer und Winter hatte er in Geduld gewartet auf sein Glück. Diese letzte Minute, bis Bertl herüberkäme vom Weiher, konnte er nimmer überstehen. Mit zuckenden Händen riß er das Sämannstuch von der Hüfte, warf es auf den Acker hin und fing zu rennen an. Bonifaz guckte ihm nach und sah, wie die beiden eine Weile drüben beim Weiher standen und dann davongingen.
»Mir scheint, mir scheint!« Venantius Gwack war ein scharfer Psycholog. »Bub«, sagte er zum Jungknecht, »schnufel a bißl auffi ins Lüftl! Heut schmeckt's wie nach reife Kerschen!«