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Die Schatten des späten Nachmittags blauten über die Berge hin, als Walter seinen Einzug in der Scheidhofer Villa hielt.
Während Peterl, der alte Kutscher, auf einem Schubkarren den Koffer zur Villa hinaufradelte, blieb Walter auf dem Kiesweg stehen, als müßte er an der Reichsgrenze seiner neuen Sommerheimat Umschau halten. Ans diesem Schauen weckte ihn die Stimme der Walperl, die in gereizter Laune mit dem Peter wegen des schweren Koffers debattierte. Als Walter zur Veranda kam, waren die beiden schon verschwunden. Er trat in den Flur, pochte rechts an die Tür und pochte links an die Tür. Keine Antwort. Ein wenig enttäuscht über den stummen Empfang, stieg Walter zu seiner Wohnung hinauf. Da kam das Walperl mit einem Wasserkrug aus der Stubentür. »Grüß Gott, Walperl! Da bin ich jetzt!«
Das Mädel machte ein fuchsteufelswildes Gesicht. »Meinen S', daß ich blind bin?« Sie trat zu einer Wasserleitung und ließ den Strahl in den Krug plätschern.
»Walperl? Warum denn plötzlich so bös?«
»Ich bin net bös und net gut! Gar nix bin ich! Und von die Plötzlichen bin ich auch keine. Da täuschen S' Ihnen!« Sie ging mit dem Krug in die Stube.
Walter lachte und ging ihr nach. Auf der Schwelle blieb er stehen. Ein stummer Empfang und doch ein freundlicher! Aus der großen Stube waren die Betten entfernt, der Raum war in ein behagliches Wohnzimmer verwandelt, und auf dem Schreibtisch, der zwischen zwei Fenstern quer über die Ecke gestellt war, duftete in blauem Glaspokal ein Strauß frisch geschnittener Rosen. »Wie schön!«
Das hörte Walperl, die aus dem Schlafzimmer kam. »Da brauchen S' Ihnen nix einbilden! Rosen stellen wir allweil her, sooft wer einzieht.«
»Aber Walperl! Ich habe nur gesagt, daß die Rosen schön sind. Ist das nicht wahr?«
»Ja, dös is wahr!« sagte das Mädel, dem bei aller Gereiztheit der Sinn für objektive Beurteilung der Tatsachen nicht abzugehen schien. »Wir haben die schönsten, weit um und um. Unser Fräulen hat halt 's richtige Handerl für so was. Die braucht a Stäuderl bloß anrühren, so blüht's.«
Gläubig nickte Walter. »Ich möchte mich bei dem Fräulein gerne bedanken.«
»D' Herrschaft is net daheim. Die is zum Heuen fort.«
»Zum Heuen? Der Herr Forstmeister?«
»No ja, der schaut halt zu. Aber 's Fräulen schafft mit wie die Beste. D' Arbeit in der Sonn is ihr 's liebste! Heut hat der Bonifaz hinterm Garten drunt die gute Wiesen gmäht. Da hilft alles zamm! Ich spring auch gleich abi. Wann der Bonifaz gmäht hat, muß sein Heu unter Dach wie 's grüne Gold.«
Walter schmunzelte. »Der Fazifanzerl?«
Dem Mädel blitzte der Zorn aus den Augen. »Wie kann man denn so eim ernsthaften Menschen so an Fasnachtsnamen geben? Bonifaz heißt er!« Mit einem Blick der Empörung ging sie zur Tür und drehte sich auf der Schwelle um. »Jetzt sag ich Ihnen noch, was mir 's Fräulen auftragen hat. 's Fruhstuck können S' haben zu jeder Zeit, von sechse an. Tee, Kaffee, Kakao, wie S' Ihnen schmeckt. Wollen S' auf'm Abend daheim bleiben, so muß ich herschaffen, was Ihnen paßt.« Sie deutete energisch in den Flur hinaus. »Und wann S' sonst noch ebbes wissen wollen – da hint im Gang die letzte Tür.«
Erheitert über diese unverblümte Natürlichkeit, brach Walter in Lachen aus.
»Dös hat g'sagt sein müssen!« erklärte Walperl kategorisch. »Sonst tappen S' am End auch in der Nacht umanand, wie's die Herren Maler machen, und graten an die falsche Tür, die an festen Riegel hat!« Und draußen war sie.
Jetzt konnte sich Walter auf den »Ledigen«, auf den ungefährlichen Philosophen, der nicht »malt«, und auf den Schreck des Walperl einen Reim machen. »Nein! Auf mich wird der Fazifanzerl nicht eifersüchtig werden!« Lachend sperrte er seinen Koffer auf und begann sich häuslich einzurichten.
Süßer Heuduft strömte durch die offenen Fenster in die Stube. Über den Garten her, von einer durch Baumkronen verschleierten Wiese, konnte Walter die heiteren Stimmen der Heuenden hören. Undeutlich erkannte er durch das Gewirr der Äste die schreitenden Gestalten: Knechte in Hemdärmeln, Mägde in roten Kopftüchern und ein schlankes Figürchen in lichtem Kleid. Ein paarmal überkam ihn der Wunsch, dort hinunterzugehen, wo die Menschen »beim Schaffen in der Sonne« so fröhlich waren. Aber faul dabeistehen? Das wollte er nicht. Er hatte ein unbehagliches Gefühl bei dem Gedanken: wie ungeschickt er mit dem Rechen hantieren und wie die anderen über ihn lachen würden.
Als der Koffer geleert war, nahm Walter eins von den Büchern, die er auf dem Schreibtisch in Reih und Glied gestellt hatte – ein Buch über den Mars, von Schiaparelli – und ging durch das Schlafzimmer auf die Altane hinaus. Hier war es still. Man sah die Wiese nicht und hörte keinen Laut. Dennoch kam Walter nicht recht zum Lesen. Über den Brunnenplatz konnte er hinübersehen in den Hofraum des hochgegiebelten Bauernhauses. Neben der Tür saß ein Greis, den weißen Kopf auf die Brust gesenkt, ganz in der Sonne und doch wie frierend in eine dicke Jacke gehüllt. Das war wohl der Scheidhofer? Der sein Weib und alle Kinder verloren hatte und das »beste Gut der Welt« besaß? Und dem fürs Leben nur noch die einzige Sorge übrigblieb: wieviel Altäre und gemalte Fenster die neue Kirche bekommen sollte? In Erbarmen blickte Walter zu dem Greis hinüber, während der Wind mit den Blättern des Buches spielte. »Welch ein Gegensatz: der ruhelose Forschungstrieb, der dieses Buch erfüllt, und da drüben der müde Stumpfsinn eines zerstörten Lebens! Ob der Scheidhofer wohl begreifen würde, daß es Menschen gibt, die ein Leben darauf verwenden, um die Verdoppelung der Kanäle auf dem Mars zu erklären? Der da drüben wäre gewiß zufrieden, wenn er wüßte, wie man sein Glück erhält, und was uns trösten kann, wenn es verlorenging? Ob er nicht recht hat mit dieser bescheidenen Neugier? Fliegender Menschengeist! Wie schön! Die fernen Himmel durchforscht er und mißt die Bahnen der Gestirne. Aber die Wege, auf denen die Schicksalssterne seiner Freuden und Schmerzen wandeln, bleiben ihm dunkel. Er weiß keinen Steg zu bauen über die Klüfte seines kleinen Lebens und schlägt Gedankenbrücken von der Erde zum Mars! Dieses Suchen in der Ferne? Ist das nicht Vergeudung an Kraft? Nutzlose Torheit?«
Walter erhob sich mit einer Bewegung, als müßte er diesen Gedanken von sich abschütteln. Da kam ihm plötzlich die Erinnerung an einen seiner Lehrer. Der hatte über Philosophie gelesen, ein menschgewordener Sack des Wissens! Von Anaximander bis auf Nietzsche hatte er alle Weisheit des menschlichen Geistes überschaut. Und war ein Junggeselle, ein kränkliches Männchen, das während der Vorlesung kleine Zuckerstückchen schluckte, um seine körperliche Schwäche zu überwinden. Mit dreiundvierzig Jahren starb er, an Atonie der Gedärme. »Was wog sein Leben? War er nicht ärmer noch, als der da drüben ist? Wer trauern muß um ein verlorenes Glück, hat doch ein Glück besessen.«
Da hörte Walter einen scharfklingenden Ton. Der Scheidhofer, dem der Abendschatten bis an die Brust heraufgekrochen war, hatte mit einem Hammer auf die Steinbank geschlagen. Dieses absterbende Leben war so müde, daß es nicht mehr rufen konnte. Auf den Schlag des Hammers kam eine Magd gelaufen und führte den Alten ins Hans.
Als Walter in seine Wohnstube zurückkehrte, leuchtete ihm ein roter Glanz entgegen. Die Scheiben der offenen Fenster spiegelten die Glut der niedertauchenden Sonne. Er blickte zum Hohen Schein hinauf. Der war heute noch schöner als an den vergangenen Abenden. Gleich geschlängelten Goldfäden sah man Anfang und Ende des Weges, der aus dem Tal hinaufführte zur Alpe. Dazwischen lag der dunkle Wald – und das neue Leben des Mamertus Troll.
Jetzt machte der Moosjäger wohl Feierabend? Und baute sein »Daxenhüttl« für die erste Nacht?
Laute Rufe klangen. Heiteres Lachen. Das kam von der Wiese. Zwischen den Baumkronen erschien das Ungetüm eines hoch beladenen Heuwagens, mit seiner Ladung schon in Schatten getaucht. Bonifazius Venantius aber, der auf dem Fuder stand und an langen Zügeln die Pferde lenkte, war noch von Sonne umwoben. Und in der Freude über das »grüne Gold«, das er zur Scheuer führte, schrie er einen klingenden Jauchzer in den roten Abend. »Hat seinen Schweiß vergossen! Und freut sich der Ernte, die einem anderen gehört! Und da meint der Moosjäger, daß die Menschen nicht gut wären!«
Auf dem Kiesweg erschien Mathild in ihrem lichten Kleid und schob den Rollsessel vor sich her, in dem ihr Vater saß. Der Wind hatte ihr das Haar zerzaust, und vom »Schaffen in der Sonne« glühte ihr Gesicht. Sie sah, daß Walter am Fenster stand, und grüßte freundlich. Auch der Forstmeister winkte lachend mit dem Krückstock. »Guten Abend, Herr Philosoph!« Das knarrende Wägelchen tauchte um die Ecke, dann hörte man von der Veranda eine vergnügte Männerstimme. Walter erkannte sie. Das mußte Mathilds Bruder sein, der stolze Vater des gescheiten Bürschleins, das zum Donnern noch zu klein war.
Ob es nicht schicklich wäre, jetzt hinunterzugehen und die Hausleute zu begrüßen? Während Walter diesen Gedanken überlegte, guckte das Walperl mit bösen Augen zur Tür herein. »Wann's Ihnen recht is, hat 's Fräulen gsagt, sollen S' abikommen und mitessen.« Sie hatte die Tür schon wieder zugezogen, noch ehe Walter eine Silbe herausbrachte. Eine seltsame Hast befiel ihn. Er kleidete sich mit einer Sorgfalt, die sonst nicht in seiner Gewohnheit lag. Als er drunten an die Tür pochte, rief der Forstmeister mit seinem gesunden Organ: »Nur herein, Herr Doktor!«
Eine freundliche Stube tat sich vor Walter auf. Die weißen Wände, bis zur halben Höhe getäfelt, waren dicht bedeckt mit Jagdtrophäen. An der langen Wand stand ein Ledersofa mit dem Tisch und einer großen Hänglampe darüber, und quer über die Fensterecke war ein Pianino gestellt, offen, mit aufgeschlagenem Notenheft. Daneben lehnte ein Cello an der Wand, bei einem doppelten Notenpult. Ein kleiner Nähtisch nahm eine Fensternische ein, und zwischen Geranien und Nelkenstöcken, die dem Fenstergesims das Ansehen eines blühenden Beetes gaben, stand ein Vogelkäfig, hinter dessen funkelnden Messingstäben ein Rotkehlchen zwitscherte. Durch die offenen Fenster strahlte der Feuerglanz des schönen Abends und überflimmerte mit seinem roten Schein die drei Menschen. Der Forstmeister saß auf dem Sofa, sein Sohn stand lachend am Fenster, und Mathild war mit dem Tisch beschäftigt, der zum Tee gerichtet und mit fünf Gedecken bestellt war. Sie trug das gleiche Kleid, in dem sie von der Wiese gekommen. Nur das zerzauste Haar hatte sie geordnet. Während die beiden Männer grüßten, ging sie auf Walter zu und reichte ihm die Hand. »Guten Abend, Herr Doktor! Verzeihen Sie. daß wir nicht daheim waren, als Sie kamen –«
»Aber bitte, Fräulein!« unterbrach er sie, ein wenig verlegen. Er hielt ihre Hand in der seinen und sah ihr in die Augen. »Ich weiß schon alles, Sie mußten in der Sonne schaffen, damit der Bonifaz sein grünes Gold in die Scheuer bringen konnte.«
Da lachten die drei. Und der Forstmeister sagte: »Natürlich! Das dumme Walperl! Aber kommen Sie, Doktor! Die Thilde ist beim Heuen hungrig geworden, wir essen gleich. Ein lukullisches Souper wird's freilich nicht geben. Kommen Sie, da, neben mir!« Walter wollte dem Forstmeister die Hand reichen. Der alte Herr, der grün gehäkelte Fäustlinge an den Händen trug, zog die Arme an sich. »Gilt als empfangen. Meine windschiefe Pfote zu drücken, das ist kein Vergnügen!« Mathild, die an seine Seite getreten war, nahm wortlos die Hand des Vaters und legte sie an ihre Wange. Lächelnd nickte der alte Herr zu ihr hinauf. »Komm, Bertl, laß dich vorstellen! Das ist unser Herr Doktor Horhammer, Philosoph! Und das ist mein Sohn Robert, der Sägmüller. So, Geiß, und jetzt schau, daß wir was zu beißen bekommen!«
Während Mathild die Stube verließ, streckte Bertl dem Doktor die Hand hin. »Philosoph und Sägmüller! Gelten S', das ist ein Unterschied! Aber Sägmüller muß es auch geben. Wo kämen sonst die Bretter her, die man für die Wiegen braucht?«
»Hast recht, Bub!« sagte der alte Herr. »Und die zehn Bretter für das letzte Kastl müssen auch geschnitten werden. Aber kommen Sie, Doktor! Warum denn so feierlich? Jetzt sind Sie unser Hauskamerad. Wenn Sie wieder einmal herunterkommen, braucht's keinen schwarzen Rock.«
Walter setzte sich an den gedeckten Tisch. Er konnte nicht sprechen. So tief hatte ihn die Zärtlichkeit ergriffen, mit welcher Mathild die verkrüppelte Hand des Vaters liebkoste. Bertl sorgte für Unterhaltung und schien das Bedürfnis zu fühlen, Walter darüber aufzuklären, wieso es gekommen, daß der Sohn eines Forstmeisters von der Technischen Hochschule herunterstieg in die Sägmühle. »Wenn S' meine Rosl sehen, begreifen S' alles! Passen S' auf, Herr Doktor, da kriegen S' auch an Gusto aufs Heiraten!« Er lachte. »Machen S' mir's nur bald nach! Ohne Weiberl ist das Leben wie eine Maus ohne Pelz. Die friert auch in der Sonn.«
So lief das Rädl des Sägmüllers mit lustigem Schnurren weiter. Die Rosl war der Anfang, und der »süße Bub«, der sich zum Donnern noch nicht genügend ausgewachsen fühlte, war das »vorläufige« Ende der kleinen Lebensgeschichte, die aus dem halb ausgebackenen Techniker einen glücklichen Sägmüller gemacht hatte. Innerhalb zweier Jahre hatte Rosl die Mutter und den Vater verloren, hatte sich mit dem großen Geschäft nicht ein und nicht aus gewußt, und weil sie bis über die Ohren in den Bertl verliebt war und der Bertl sie von Herzen gern hatte, war es für ihn kein allzu großes Opfer, die Schulbücher in den Winkel zu werfen und die kleine Rosl mitsamt der großen Sägmühle in seine Arme zu schließen. »Gut hab ich's troffen. Manchmal in der Nacht, freilich, da träum ich noch, daß ich Eisenbahnbrücken bau, mit hundert Meter Spannung im Bogen. Dann hat meine Frau einen harten Tag mit mir.« Er lachte. »Aber meine Rosl ist ein guter Kerl.«
»Mehr als gut!« sagte der Forstmeister ernst. »Die Brückenträume gewöhn dir ab, Bertl!«
»Seine Träum hat man doch net am Schnürl wie mein Bub den Wurstl. Die kommen halt.«
»Denk bei Tag nicht dran, so wirst du in der Nacht nicht träumen davon. Das liegt jetzt hinter dir. Brücken bauen, über die der Saus des großen Lebens geht, freilich, das ist stolze Arbeit. Aber um Arbeit zu leisten, die Wert hat, braucht man kein weites Leben, in dem jeder Bogen hundert Meter spannt. Groß sein kann man in der kleinsten Stub.« Der alte Herr wandte sich lächelnd an Walter. »Das stimmt wohl nicht mit Ihrer Philosophie?«
»Warum glauben Sie das?«
»Weil Sie so wunderliche Augen machen.«
»Ich wundere mich nicht, Herr Forstmeister, ich erinnere mich nur.«
Der alte Herr sah ihn von der Seite an. »Was Sie da meinen, versteh ich nicht.«
Bertl, der ein wenig verdrossen dreingeschaut hatte, lachte wieder. »Wissen S', Herr Doktor, der Vater hakelt gern ein bißl mit mir. Aber ich bin doch wirklich zufrieden. Schon gar, seit wir den Buben haben!« Seine fröhliche Vaterfreude lachte ihm aus den Augen. »Passen S' auf, wie der Ihnen gfallt! Wenn ich dem ins Gsichtl schau, kann ich alles vergessen.«
»Schon wieder einer, den ich nicht versteh!« sagte der Forstmeister. »Unser verehrter Herr Philosoph erinnert sich, und ich weiß nicht an was. Und du willst vergessen? Was denn, Bertl?«
»No ja!« In Unbehagen bewegte Bertl die Schultern. »Ich hab' doch eine Karriere vor mir gehabt. Da wird's doch kein Verbrechen sein, wenn man manchmal aus seiner kleinen Stub ein bißl hinausdenkt in die große Welt. Wenn man das Gute hat, nimmt man sich selber doch nichts weg davon, wenn man einsieht, daß es in der Welt noch was Besseres gibt.«
»Bub! Hat einer das Gute, so ist das Bessere immer das Schlechtere.«
Bertl lachte. »Geh, Vater, das ist wieder so ein Wörtl, bei dem man net weiß, ob du Spaß machst oder Ernst!«
»Das Gute ist ein Wort, das in der Anwendung auf unser Leben keinen Komparativ und Superlativ haben soll. Das ist wie mit dem Wort ›göttlich‹. Was für ein Unsinn: göttlicher, am göttlichsten! Gott ist Gott. Deine Rosl und dein Bub sind dein Gutes, da gibt's kein Besseres! Oder es war das Schlechtere für dich.«
Bertl hob lauschend den Kopf. »Mir scheint, die Rosl kommt.« Und fuhr zur Tür hinaus wie ein Windspiel.
»Der Bub hat guten Kern. Aber Grillen hat er im Kopf. Da muß ich's manchmal der Lies nachmachen und kitzeln. Mit der Lies haben Sie ja auf dem Hohen Schein Bekanntschaft gemacht?« Der Forstmeister lächelte. »Mein Mädel hat mir von dem dicken Buch erzählt.«
»Und vom Zorn der Lies über das leere Buch?«
»Auch.«
»Wenn die Lies den Herrgott und die Welt nicht versteht, so kann ich's nicht ändern. Aber Sie, Herr Forstmeister, sollen mich nicht mißverstehen!« Mit herzlichem Blick sah Walter dem alten Herrn in die Augen. »Sie sollen wissen, an was ich mich vorhin erinnert habe. An ein Wort Ihrer Tochter. Wir sprachen von Ihnen, und da sagte sie: Papa hat eine Hand, aus der man empfängt!«
Der Forstmeister lachte. »Mein Mädel übertreibt ein bißl.« Mit einer langsamen Bewegung sah er hinter sich zur Wand hinauf. Dort hing, von einem Buchskränzl umgeben, ein kleines, verblaßtes Bild. »Der Bub macht mir manchmal Sorgen mit seinem halbfertigen Leben. Das Mädel ist sechs Jahr jünger und ist mit Kopf und Herz über ihn hinausgewachsen. Die ganze Mutter!«
Walter strengte die Augen an, um die Züge des bekränzten Bildes zu unterscheiden. Es war schon zu dunkel in der Stube. Der rote Glanz des Abends war erloschen, und wie blauer Nebel lag die Dämmerung über dem Garten. Man hörte das Geplätscher des Brunnens, und stärker noch als am Tage dufteten die Blumen.
Die Tür ging auf. Mathild und Walperl brachten das Abendessen. Hinter den beiden trat Bertl in die Stube: »Komisch, daß ich mich so verhören hab können. Der Kaplan ist über den Hof gegangen. Zum Scheidhofer nüber.«
»Der arme Kerl!« sagte der Forstmeister trocken.
Wahrend Mathild den Tisch bestellte – mit Tee, kaltem Fleisch, Butter und Schwarzbrot –, zündete Walperl die Lampe an. Das ging ohne einen bitterbösen Blick auf den »Ledigen« nicht ab. Sogar bei der Tür guckte sie noch mal über die Schulter und schien sich wenig Gutes dabei zu denken. Walter sah das nicht, sah nur die zwei schlanken, von der Sonne ein wenig gebräunten Hände, die still den Tisch bedienten.
Die Lampe hatte einen grünen Schirm, so daß ihr Licht nur die vier Menschen am Tisch überstrahlte, während das ganze Zimmer in mildem Schatten blieb.
»Aber Geiß!« sagte der Forstmeister, als ihm Mathild vorlegte. »Heut haben wir doch einen Gast.«
»Der Herr Doktor ist unser Hauskamerad. Will er zu uns gehören, so muß er sich auch in die Hausordnung fügen.« Mathild blickte lächelnd auf Walter. »Da heißt der erste Paragraph: Papa ist die Hauptperson.«
»Geh doch, Mädel!«
»Fräulein Mathild hat recht!« sagte Walter. »Ich danke Ihnen, Fräulein, daß Sie mich so hoch einschätzen.«
Mathild füllte ihm die Tasse. Dann nahm sie den Platz neben Walter ein und bediente sich selbst. Bertl blieb als unbeteiligter Zuschauer vor seinem leeren Teller sitzen. Dann plötzlich sprang er auf. »Jetzt kommt die Rosl!« Er rannte auf die Veranda. Deutlich konnte man durchs offene Fenster die Stimmen hören:
»Rosl? Bist du's?«
»Ja, Bertl, endlich einmal!«
»Schlaft der Bub?«
»Gott sei Lob und Dank!«
»Aber das Nannerl hast du doch bei ihm sitzen lassen?«
»Glaubst du denn, ich laß den Buben in der Nacht allein?«
»Aber geh, so gib doch den Bierkrug her! Donnerwetter, da hast du dich schön schleppen müssen!«
Dann trat das junge Paar zur Türe herein, Bertl mit dem Bierkrug, den anderen Arm um seine Frau geschlungen, die ein kleines Päckl trug. »So, Herr Doktor, schauen S' her, das ist meine Sägmüllerin!«
»Aber geh!« sagte Rosl verlegen. Eine allerliebste Frau war's, in einem einfachen braunen Kleid, das aschblonde Haar gefällig frisiert, mit schönen, nur etwas scheuen Augen in dem gesunden, runden Gesicht.
Man begrüßte sich, und der alte Herr zog die Schwiegertochter neben sich auf das Sofa. Weil Bertl noch allerlei von seinem »Bubi« wissen wollte, blieb das »süße Kerlchen« für die nächste Viertelstunde das Gesprächsthema. Die kleine Sägmüllerin kramte dabei das Päckl auf, in dem sie für sich und Bertl das kalte Nachtmahl mitgebracht hatte. Und wie aufmerksam sie ihren Mann bediente! Wenn er lachte, lachte sie mit. Wenn er sprach, hing sie mit glänzendem Blick an seinen Lippen. Die Mühe, die sie sich gab, um ein leidliches Hochdeutsch zu reden, wirkte ein wenig drollig. Und in ihrer Art, sich zu benehmen, bäuerlte sie ein bißchen. Aber sooft sie in Gefahr geriet, etwas komisch zu erscheinen, wurde sie von Mathild mit liebenswürdigem Takt um die drohende Klippe herumgeführt. Bertl schien an die Aufmerksamkeit, mit der seine Frau behandelt wurde, wie an etwas Selbstverständliches gewöhnt. Er aß und trank, schwatzte und lachte und benützte jede Wendung des Gesprächs, um ein Wunderwort seines Buben oder sonst eine lustige Anekdote dranzuknüpfen.
In so heiterer Stimmung verlor Walter völlig das Gefühl, ein Fremder an diesem Tisch zu sein. Um dem Zuspruch der jungen Wirtin gerecht zu werden, entwickelte er einen so gesunden Appetit, daß der alte Herr mit Lachen konstatieren konnte: »Mir scheint, Herr Philosoph, es schmeckt Ihnen bei uns?«
»So gut wie noch nie!« erklärte Walter und ließ sich von Mathild zum drittenmal die Tasse füllen. Das war für Bertl Gelegenheit, die Geschichte der Frau Assessorin zu erzählen, die bei der Frau Rätin zum Tee geladen ist. Die Rätin will ihr einschenken, und die Assessorin sagt: »Ach, danke, Frau Rätin, ich habe schon zwei Täßchen bekommen.« Und die Rätin sagt: »Sie haben zwar schon drei bekommen, aber Sie können immer noch eins haben.«
»Pfui Haas!« sagte der Forstmeister. »So ein alter Meidinger!«
»Die alten Geschichten sind allweil die besten. Das ist gradso wie mit dem Herrgott. Der ist vor sechstausend Jahr schon gut gewesen und ist's geblieben.«
Dem alten Herrn schien das lustige Wort nicht zu gefallen. »Sag Herrgott, sooft du magst! Aber das ›gut‹ laß weg! Das ist ein viel zu kleines Wort. Wenn Gott Eigenschaften hätte, die wir nennen und begreifen könnten, wäre er viel zu menschlich, um Gott zu sein. Gott ist weder gerecht noch barmherzig, weder gut noch bös.«
»Dann hat das Walperl eine große Ähnlichkeit mit Gott!« – sagte Walter in heiterer Laune. »Die will auch weder gut noch bös sein.« Mit Humor erzählte er die Geschichte von Walperls psychologischer Wandlung. Die anderen lachten, Bertl am lautesten. Nur Mathild lachte nicht mit. Es schien ihr lieb zu sein, daß jede weitere Erörterung über Walperls verwandelten Gemütszustand durch den Eintritt eines Gastes unterbrochen wurde. Das war der alte Pfarrer. Mathild ging ihm entgegen und reichte ihm die Hand. Und Bertl sprang vom Sessel auf: »Hochwürden, heut sind S' aber arg spät dran! Wir sind schon fertig, gleich können wir anfangen.« Er ging vom Tisch, zündete mit vergnügter Geschäftigkeit am Pianino und auf dem Pult die Kerzen an, legte die Noten auf, nahm das Cello zwischen die Knie und begann die Saiten zu stimmen.
Grüßend war der Pfarrer zum Tisch gekommen, ein gebeugtes Männchen mit einem dünnen Kränzl grauer Haare um den Kahlkopf. Ein mildes Lächeln und kluge Augen verjüngten das welke Alter dieses weißen Faltengesichtes. Der schwarze Talar sah abgetragen, fast ärmlich aus und hatte zwei dick angepackte Taschen: aus der einen guckte der Hals einer kleinen Weinflasche, aus der andern ein langes Lederetui, das der Pfarrer wie eine kostbare Sache auf den Tisch legte. Als ihm Walter vorgestellt wurde – »Herr Doktor Horhammer, Philosoph!« – sah der Pfarrer mit merkwürdig prüfendem Blick an dem jungen Manne hinauf. »Philosoph sind Sie? So, so? Philosoph?«
»Nein, Hochwürden!« sagte Walter, den der Blick des Pfarrers seltsam befangen machte. »Eigentlich hat mir das nur der Herr Forstmeister aufgebracht.«
»Waas? Ah, das ist gut!« lachte der alte Herr. »Haben Sie mir denn nicht selber gesagt –«
»Daß ich den philosophische Doktor gemacht habe. Das ist aber auch alles.«
»Ein akademischer Grad ist was Schönes!« fiel der Pfarrer begütigend ein, wie in Sorge, daß ein Disput entstehen könnte. »Und da haben Sie nur das halbe Recht, sich gegen den Philosophen zu wehren.« Er lächelte mild. »Warum denn auch? Philosoph oder Zimmermann, wenn man dabei nur seinen Frieden findet. Solang es neugierige Menschen gibt, muß es auch Philosophen geben. Aber soviel ich weiß, ist von Anaximander bis auf Hegel nur ein einziger drunter gewesen, der bei seiner Philosophie ein zufriedener Mensch wurde.« Der Pfarrer schmunzelte. »Ich glaub, der hat Diogenes geheißen.«
Da begann der lustige Sägmüller auf seinem Cello zu zupfen und sang in der parodistischen Weise einer Moritat:
»Diogenes in seinem Faß Mit seiner Liaterne, Erfreute sich des Lebens baß Auf unserm Erdensterne. Und als mit majestät'schem Schritt Der Künich kam zur Tonne, Da sprach Diogenes ›Ich bitt, Laß mir mein bisserl Sonne! Laß mir mein bisserl Sia-so Mein bizibisserl Sonne!‹« |
Der Forstmeister lachte. »Ein dummes Lied! Und doch ist Verstand drin!« Frau Rosl, die mit leuchtenden Augen an ihrem Mann gehangen, schien durch diese Kritik ein wenig gekränkt: »Aber geh, Vater, und so nett hat er's gsungen!«
»Ja, Roserl, großartig!«
»Gelt?« lachte Bertl und fuhr mit dem Bogen, schrumm, über alle vier Saiten. »Aber was is denn, Herr Pfarr? Anfangen! Anfangen! Keine Müdigkeit vorschützen!«
»Ja, ja, ja! Laß mich nur ein bißl verschnaufen!« Der Pfarrer zog den Stöpsel aus dem Weinfläschchen, das er mitgebracht, füllte ein Glas, das für ihn bereit stand, und nahm mit gespitzten Lippen einen kleinen Schluck. Dann öffnete er umständlich das Lederetui, das eine Flöte enthielt, in drei Stücke zerlegt – ein altmodisches Instrument, neben dessen Mundloch vom Gebrauch der vielen Jahre eine kleine Mulde ausgescheuert war.
Mathild begann den Tisch abzuräumen, während der Pfarrer mit Vorsicht die Flöte zusammensetzte. »Wenn Sie also kein Philosoph sein wollen, Herr Doktor, was sind Sie denn dann?«
»Ich? Nichts.«
»Das ist ein bisserl wenig!« meinte der Pfarrer halb erschrocken. Und Mathild, von diesem Wort betroffen, sah Walter mit großen Augen an. Da sagte der Forstmeister mit dem kräftigsten Klang seiner Stimme: »Hören Sie, lieber Doktor, da haben Sie doch zu hart über sich geurteilt. Ob Sie sonst noch was sind oder nicht, das geht mich nichts an. Aber eines hab ich schon heraus: daß Sie ein Mensch sind! Und das ist viel.«
»Ein Mensch? Ja, Herr Forstmeister, das bin ich, einer, der ein leeres Leben hinter sich hat und für sein kommendes einen Inhalt sucht. Und ein wenig Sonne.« Walter versuchte zu lächeln. »Wie der zufriedene Diogenes in dem kleinen Lied!«
Der Pfarrer fingerte erregt an den Klappen seiner Flöte. »Verzeihen Sie, Herr Doktor, wenn meine unvorsichtige Frage –«
»Ohne Sorge, Hochwürden«, sagte Walter ruhig, »Sie haben nichts gefragt, was mich hätte verletzen können.«
»Dann bin ich zufrieden. Und wenn Sie Wert und Inhalt für Ihr Leben suchen, wünsch ich Ihnen von Herzen, daß Sie das Bessere auch finden möchten.«
»Das Bessere?« Der Forstmeister beugte den Kopf, um unter der Lampe weg nach dem Pfarrer sehen zu können, der seinen Sessel zum Notenpult hinüberrückte.
Mit ernstem Blick sah Walter den greisen Priester an und schien eine Frage auf den Lippen zu haben.
»Also, Thildele?« sagte der Pfarrer. »Fangen wir an?«
»Ja, Hochwürden! Ich muß nur Papa noch versorgen.« Mathild füllte zwei Biergläser und stellte das eine vor Walter hin, das andere vor ihren Vater. Dann brachte sie dem alten Herrn noch die lange Pfeife und brannte ihm den Fidibus an. »So, da bin ich!« Sie ging zum Pianino, nahm ihren Platz ein und blätterte in dem Notenheft. »Probieren wir heute das Vierzehnte weiter?«
»Probieren? Heut?« Bertl schüttelte den Kopf. »Heut müssen wir spielen, was wir können. Heut haben wir Publikum.« Er machte eine drollige Verbeugung gegen Walter.
»Dann spielen wir das Erste«, sagte der Pfarrer, »das können wir am besten. Das gehört auch zum Schönsten, was Haydn geschrieben hat.« Seine Stimme hob sich, als sollte sie von irgend jemand in der Stube besser verstanden werden. »Ein Trio, das mir immer so vorgekommen ist, als wär es ein klingendes Bild des Lebens! Beim Andante mit seinen eigensinnigen Sextolenläufen hab ich immer den Eindruck: das ist Jugend, die blind ins Leben stürmt und immer hofft und sucht. Dann das Adagio cantabile mit seiner Schmerzensprache und mit dem schönen Erkenntnisklang, der sich in seufzenden Triolen zu dürstender Sehnsucht auflöst. Da seh ich immer zwei Menschenarme, die verlangend aus dunkler Tiefe hinaufgreifen zur hellen Höhe. Dann das Rondo im Zweivierteltakt? Das ist wie die Freude des Findens, wie der Frohsinn im Besitz des Glückes, wie das heitere Atmen in der Sonn, die Gott für uns Menschen erschaffen hat!« Er drehte langsam das Gesicht und lächelte zu Walter hinüber: »Aber nicht wahr, Herr Doktor, Sie kennen das Trio gewiß viel besser als ich?«
»Nein, Hochwürden! Ich habe nie Musik getrieben und verstehe auch nichts davon.«
Der Pfarrer antwortete nicht gleich. »Da fehlt Ihnen eine tröstende Lebensfreude! Aber was wir da spielen wollen, das werden Sie schon verstehen. Meister Haydn hat für alle Ohren gesungen. Da braucht's kein fachmännisches Verständnis. Wenn Sie nur das rechte Gefühl für den reinen Klang haben.«
Bertl lachte. »Für uns ist das grad recht, daß der Herr Doktor nichts von Musik versteht. Da merkt er's net, wenn wir ein bisserl patzen.«
»Wir?« Der Pfarrer wurde ärgerlich. »Paß nur du schön auf! Das Thildele und ich, wir patzen nicht, verstehst! Oder ich müßt nur wieder den Krampf in der Hand kriegen, natürlich, da kann ich dann nichts dafür! Also, Thildele!«
Mathild begann nicht gleich. Sie schien zerstreut und fuhr sich mit der Hand über die Stirne.
»Thildele? Was ist denn?«
Aufatmend beugte sie das ernste Gesicht ein wenig näher gegen die Noten und legte die Hände an die Tasten. Mit einer leisen Neigung des Kopfes, um den der Kerzenschein eine Schimmerlinie webte, gab sie das Zeichen zum Beginn. Kräftig rauschte der erste Akkord, den sie anschlug, und mit heiter schreitenden Harmonien flossen die Stimmen der drei Instrumente ineinander. Es war gute Musik, die da gemacht wurde. Bertl, freilich, war nicht viel mehr als ein erträglicher Dilettant. Aber er hatte das Stück wohl häufig geübt und schnurrte seine Noten mit Freude an der Sache herunter. Der Pfarrer mochte vor Jahren sein Instrument mit tadelloser Fertigkeit beherrscht haben. Auch hatte das alte Holz einen guten Klang. Doch die alten Finger wollten dem Willen des Spielers nicht immer gehorchen. Wenn er näher an die Noten rückte und die Ellbogen höher hob, das war immer ein Zeichen, daß eine schwierige Stelle kam. Die wurde nicht immer glatt überwunden. Die warme Seele seines Tones ersetzte, was die ungehorsamen Finger entbehren ließen. Der Aufgabe ganz gewachsen, an Verständnis und Können, war nur Mathild. Ihr Spiel war sicher und ausgeglichen, hatte Form und Leben, Kraft und träumerische Zartheit. Ihre Wangen waren von Glut überhaucht, ihre Augen glänzten.
Auf dem Sofa saß der alte Herr in den schattigen Winkel zurückgelehnt und blies bei stillem Lauschen dünne Rauchfäden vor sich hin. Die flossen durch die ganze Stube, zerwirbelten im Hauch der offenen Fenster und schwammen in die Nacht hinaus.
Zn Beginn des Spiels erschien noch ein Gast, der Bürgermeister mit dem Apostelkopf. Er nickte nur dem Hausherrn grüßend zu und setzte sich neben der Tür auf einen Sessel, um in Ruhe sein Pfeifl weiterzuschmauchen.
Walter hatte nicht bemerkt, daß jemand gekommen war. So umspann ihn der Zauber dieses Klanges! Zuerst hatte seine Aufmerksamkeit nur halb der Musik gegolten. Das Bild der Spielenden hatte sein Auge gefesselt: wie die drei im Halbdunkel saßen, nur die Gesichter beleuchtet vom Kerzenschein der Notenpulte. Und Mathild – mit dieser goldenen Schimmerlinie um das Blondhaar und um die Schultern! Das mußte er immer ansehen. Aber da klang eine Note, die ihn lauschen machte, auch mit der Seele: eine wunderliche Disharmonie, die sich in der Flötenstimme auflöste zu einer ruhelos gaukelnden Tonfolge. Wie ein kaltes Rieseln war's ihm über den Nacken gegangen. Und da wurden die Klänge für ihn zu redenden Stimmen. Vor seinen Augen sank es wie ein purpurner Schleier nieder, hinter dem sich die Töne in lebende Gestalten verwandelten. Das wogte durcheinander und kämpfte. Das war Unruh und Hast ohne Ziel, war Qual und Zweifel. Das waren die Bilder seines eigenen Lebens, die Stimmen seines eigenen Herzens, sein eigenes Suchen und Irren. Dann jäh ein Innehalten – wie ein verirrter Wanderer vor ungeahnter Tiefe plötzlich den Schritt verhält. Sein erstes Gefühl ist Schreck, sein zweites Freude. Ein grünes Tal in lachender Sonne liegt vor ihm. Er sieht, was er suchte. Doch seine Kraft ist erschöpft, sein Weg verloren. Wird er erreichen, was ihm winkt?
Ein paar Sekunden war es still im Zimmer. Es knisterte nur das Notenblatt, das Mathild wendete. Und das Adagio begann mit jener tiefen, lang gehaltenen Note der Sehnsucht, aus der sich die zögernden Triolen wie dürstende Seufzer lösen.
Walter regte sich nicht. Als dieses leise Klagen, dieses dürstende Singen begann, waren die Bilder, die er sah, nicht mehr in Purpur gehüllt. Jetzt war es ein tiefes Blau. So, wie die Nacht ist, wenn das Licht des kommenden Mondes die Tiefen des Himmels aufzuhellen beginnt. In diesem blauen Dämmer, einsam, immer am Rand einer Felswand hin, schreitet ein Mensch. Der sieht bald wie der Moosjäger aus, bald wie der Scheidhofer, bald wieder wie einer, der ein großes, leeres Buch auf dem jungen Rücken trägt. Immer wieder bleibt er stehen und streckt aus seinem Dunkel die Arme nach einer Ferne, in der es lichtet. Das glänzt ihn an, das quillt ihm warm in das müde Herz. Er möchte jubeln und muß doch weinen. Ein Zucken ist um seine Lippen, die stumm von einem Sehnen reden, das seine Brust zersprengen möchte.
In der Stube ist's wieder still – nur einen Augenblick. Dann springt Frau Rosl zu ihrem Mann hinüber. »Bertele! Wundervoll! Vergeltsgott tausendmal!« Und der Forstmeister, wie ein Erwachender, sagt: »Geiß! Heut hast du gespielt wie noch nie! Das hätt die Mutter hören sollen!«
Mathild gibt keine Antwort. Sie beugt das heiße Gesicht gegen die Noten und wendet ein Blatt. Und der Pfarrer, der die Flöte in den Schoß gelegt hat, trocknet mit dem blauen Taschentuch die Stirne.
»Respekt!« Sonnweber nickt schmunzelnd vor sich hin. »Was Schöns is halt was Schöns!« Und der Sägmüller schiebt die kleine begeisterte Frau von sich: »Jetzt packen wir 's Rondo an!« Er lacht und schraubt an einer Saite. »Hoffentlich komm ich durch ohne Patzer! Das Presto hat verteufelte Sachen.«
Mathild richtet sich zum Spiel, und der Pfarrer hebt die Flöte an den Mund. Da greift der Forstmeister über den Tisch hinüber. »Herr Doktor? Was haben Sie denn?« Mathild springt auf und steht erschrocken.
Walter hat sich jäh erhoben. Er lächelt, in unbehilflicher Verlegenheit, und sieht mit einem Blick um sich her, als wüßte er sich nicht zurechtzufinden. Das Gesicht brennt ihm, seine Wangen sind von Tränen überronnen. Jetzt will er sprechen. Die Stimme gehorcht ihm nicht. Und da geht er hastig aus der Stube, weil er sich seiner Tränen schämte und die Erregung nicht bezwingen konnte.
Alle sahen sie die Tür an und schwiegen, bis der Sägmüller halblaut sagte: »Herrgott, aber den hat's packt!«
Der Pfarrer nickte. »Jetzt möcht ich ihm ins Herz hineinschauen. Ob er an das Gute denkt? Oder an das Bessere? Ich merke, daß sich die Philosophie nicht als das Bessere erwies, das er gesucht hat.«
»Hochwürden?« fragte der Forstmeister. »Den Unterschied, den Sie da machen, müssen Sie mir erklären. Es handelt sich um einen Menschen, den ich in mein Haus genommen habe. Mir scheint, Sie wissen was von ihm? Ich will hoffen, nichts Schlechtes?«
»Schlechtes? Nein! Er hätte Geistlicher werden sollen und ist einen Tag vor der ersten Weihe aus dem Seminar davongelaufen.«
»Prost!« Jetzt hatte Bertl seine vergnügte Laune wiedergefunden. »Respekt vor Ihrem Gewand, Herr Pfarrer! Aber daß man statt Geistlicher lieber Philosoph wird, auch auf die Gefahr hm, eine Xanthippe zu erwischen, das kann ich begreifen!« Lachend zog er seine Sägmüllerin an sich.
Auch der Forstmeister lächelte. »Von wem wissen Sie das, Hochwürden?«
»Mein Kaplan, der Innerebner, ist mit ihm zusammen im Seminar gewesen. Der hat ihn neulich gesehen, hinter dem Scheidhofer Weiher draußen. Und hat mir gestern von ihm erzählt.«
»Na, der Herr Kaplan, das ist nicht gerade das, was ich eine reine Quelle nenne. Aber wahr wird's wohl sein. Und jetzt begreif ich manches, was mir an ihm merkwürdig war.«
»Vom Sonnweber hab ich heut erfahren, daß er sich bei euch eingemietet hat. Da muß ich offen gestehen, daß ich mich ein bisserl besonnen hab, ob ich kommen soll. Gegen Leut, die so flink von einem ernsten Lebensweg abspringen, bin ich ein wenig mißtrauisch. Man muß dem treu bleiben, was uns das Leben auferlegt. Ob's einem hart wird oder leicht. Ich wär auch heut daheim geblieben, um jeder unerquicklichen Erörterung auszuweichen. Aber mein lieber Haydn hat mich am Strickl hergezogen. Und die Geschichte mit dem Moosjäger, die ich vom Sonnweber erfahren hab, hat mich auch wieder besser über den Herrn Doktor denken lassen.«
»Mit dem Moosjäger?« In die Stirn des Forstmeisters war eine tiefe Furche geschnitten.
Der Bürgermeister trat an den Tisch. »Heut in der Fruh war der Herr Doktor bei mir. Den Weg auf den Hohen Schein auffi laßt er ausbauen, bloß daß der Moosjäger Arbeit hat.«
Energisch paffte der Forstmeister eine Wolke vor sich hin. »Mir scheint, Hochwürden, daß unser merkwürdiger Philosoph auf seinem Priesterkittel nicht ganz herausgesprungen ist. Einem Unglücklichen die helfende Hand zu reichen –«
»Herr Ehrenreich«, unterbrach der Bürgermeister, »Sie hätten grad kein' Grund net –«
»Das lassen Sie gut sein, Sonnweber! Was Sie meinen, ist Unsinn!« Der alte Herr sah, daß Mathild zur Tür ging. »Mädel? Wohin?«
Mit klaren Augen sah sie den Vater an. »Ich will ihn bitten, daß er wieder zu uns hereinkommt.«
»Ja, Mädel, tu das!«
Als Mathild auf die Veranda kam, rief sie in die dunkle Nacht hinaus: »Herr Doktor?« Keine Antwort. Sie trat in den Hof. »Herr Doktor?« Er saß auf dem Brunnentrog, und bevor er sich erhoben hatte, stand sie schon vor ihm. »Herr Doktor! Was machen Sie denn?« sagte sie mit herzlichem Klang. »Weil die Musik so tief auf Sie wirkte, deshalb brauchen Sie doch vor uns nicht davonzulaufen. Kommen Sie! Papa hat mich geschickt, daß ich Sie wieder bringe.«
»Ich danke Ihnen, Fräulein, und weiß auch, wie gut Sie es meinen!« Es war seiner Stimme anzuhören, daß es ihm schwer wurde, zu sprechen. »Heute taug ich nicht mehr unter Menschen. Ich würde Ihnen mit meiner Laune den Abend verderben.«
»Nein, Herr Doktor! Sie sollen mit uns wieder froh werden. Weil Sie an Meister Haydn gefühlt haben, wie tief er ist, jetzt müssen Sie auch hören, wie froh er lachen kann. Wir haben das Trio schon oft gespielt. Verstanden hab ich es heut zum erstenmal. Vorhin, bei der letzten ernsten Note, hab ich plötzlich das ganze Rondo klingen hören. Das muß ich anders spielen, als ich es immer gespielt habe. Nicht in diesem jagenden Presto, wie es mein Bruder immer haben will, sondern ruhiger und klarer. Der Hochwürdige hat recht: das ist die Sicherheit des Glückes, die Freude in der Sonne. – Wollen Sie das nicht hören?«
»Fräulein, ich kann nicht! Gerade das kann ich nicht hören. Nicht heute. Es war nicht die Musik allein. Dieser ganze Abend hat viel Bitteres in mir aufgewühlt und hat mir vor Herz und Augen gestellt, was ich mein Leben lang entbehren mußte.« Die Stimme versagte ihm. »Wie Ihr Vater sein Leiden trägt und das Leben sieht – seine Freude, wenn er zu Ihnen aufblickt; seine zärtliche Sorge um den Sohn, das treue Denken an Ihre Mutter! Und Sie, Fräulein, mit dieser heiteren Ruhe! Ihr frohes Schaffen in der Sonne, der schöne Klang in Ihrem Haus! Von solchen Dingen hab ich im Leben nichts erfahren. Nichts! Geschwister hab ich nie gehabt, meine Mutter hat nie ihren Arm um meinen Hals gelegt, an meinen Vater erinnere ich mich nur, wie man ihn als Leiche brachte.«
Mathild stand vor ihm, ohne ein Wort zu finden.
»Seien Sie mir nicht böse, Fräulein! Morgen werde ich wieder ein Mensch sein, mit dem sich reden läßt. Aber heut – ich bitte Sie, mich bei den andern zu entschuldigen. So weh mir dieser Abend getan hat, er war mir doch eine Freude. Ich habe gesehen, daß andere besitzen, was mir im Leben nie gegeben war.« Er nahm ihre Hand. »Ich danke Ihnen!«
Da sagte sie mit zerdrückter Stimme: »Ich muß Sie über einen Irrtum aufklären. Unser Leben ist nicht ganz so, wie Sie es sehen. Wir haben viel Kummer erfahren und haben noch immer Bitteres zu tragen.«
»Fräulein?«
»Gibt es denn ein Leben, das ohne Bitterkeit ist?« Ihre Stimme wurde ruhig. »Man muß tragen. Und muß sich die Freude am Schönen erhalten. Jetzt möchte ich noch immer sagen: Kommen Sie zu uns! Doch ich weiß, daß es Stunden gibt, die man am besten mit sich allein überwindet. Aber da heraußen in der Nacht dürfen Sie nicht bleiben. Sie sind an die Bergluft nicht gewöhnt. Denken Sie an Ihren braven Doktor und kommen Sie mit ins Haus!«
Schweigend ging er mit ihr zur Veranda. Bei dem Lichtstrahl, den der Kerzenschein der Notenpulte auf dem Fenster warf, sah er, daß ihre Augen in Sorge zu ihm aufblickten. »Fräulein!« Nie noch im Leben hatte Walter eine Frauenhand geküßt. Er tat es auch jetzt nicht. »Ich danke Ihnen!« sagte er und legte ihre Hand an seine Wange wie die Hand einer Schwester. Sie erschrak ein wenig. Doch sie entzog ihm ihre Hand nicht. Dann traten sie ins Haus.
Als er hinaufkam in seine dunkle Wohnung, riß er die Fenster auf. Da begannen sie drunten das Rondo zu spielen. Ohne Licht zu machen setzte er sich auf die Altane und lauschte. Wie das jubelte und lachte! Wie das lieblich durcheinandergaukelte gleich den Wellen eines klaren Baches, der in der Sonne über rauhe Steine rauscht – alles blitzt und funkelt, jede Welle plaudert und singt.
Eine Ruhe überkam ihn, als hätte eine linde Hand sich auf sein zuckendes Herz gelegt. Da sah er drunten in der Finsternis des Hofes etwas glimmen. Wie ein großer Leuchtkäfer war's. Der flog aber nicht, sondern blieb an der gleichen Stelle, beim Brunnen, erlosch immer wieder und leuchtete wieder auf. Die Glut in einem Pfeifenkopf.
Das Rondo ging mit einem Gewirbel von heiterem Klang zu Ende. Kurz vor dem Schluß gerieten die Spieler aus dem Takt. Das Cello jagte voraus, Klavier und Flöte blieben zurück. Als die wirr gewordenen Töne schwiegen, konnte Walter hören, wie der Pfarrer schalt und Bertl lachte. Dann wurden in der Stube drunten die Fenster geschlossen.
Ans der Veranda ein rascher Schritt. Walter sah, wie das Walperl mit einem Krug zum Brunnen lief. Sie hatte doch das laufende Wasser im Haus? Beim Brunnen glühte der große Leuchtkäfer. »Jesses! Du?« sagte das Walperl, als wär' es erschrocken.
»Auf d' Musi hätt ich a bißl lusen mögen«, erwiderte die gelassene Stimme des Bonifazius Venantius, »aber grad, wie ich kommen bin, haben s' aufghört.«
»So?«
»Ja.«
Gurgelnd füllte der Brunnenstrahl den Krug.
»Warum gehst denn net schlafen nacher?«
»Dem Herrn Kaplan muß ich noch heimleuchten.«
»So?«
»Ja.«
Am Krug lief das Wasser über. Walperl blieb noch immer stehen. »Wann mähst denn beim Weiher drunt?«
»Übermorgen, wann 's Wetter bleibt.«
»So so?«
Die Weisheit der beiden war schon wieder zu Ende. Walter, auf der Altane droben, empfand einen Hauch von Heiterkeit. Augenscheinlich ließ sich der Fazifanzerl beim Walperl auch nicht »zuckriger« an als bei der Schrottenbacher Vev mit den Zeugstiefelchen.
Man hörte einen nassen Klatsch, als hätte Walperl den übervollen Krug zur Hälfte wieder ausgeschüttet. »Jetzt muß ich aber wieder ins Haus! Und – du!«
»Was?«
»Heut is er einzogen, der!«
»So?«
»Aber ich hab ihm gleich gsagt, wo die richtige –«
»He! Mädel!« rief Walter über die Altane hinunter. »Nicht von mir reden! Ich hör es.«
Ein leiser Schrei, und das Walperl huschte mit dem Krug ins Haus. Beim Brunnen ein ruhiges Lachen. Dann rief vom Scheidhof herüber eine Weiberstimme: »Bonifaz! Den Herrn Kaplan sollst heimführen!«
Ein paar Minuten später gaukelte der Schein einer Laterne durch die Finsternis. Dann läutete die alte Torglocke, und im gleichen Augenblick wurde es lebendig in der Veranda. Der Pfarrer machte sich auf den Heimweg, und Bertl mit seiner Frau gab ihm das Geleit. Den ganzen Weg hinunter schwatzte der lustige Sägmüller von seinem Buben.
Der Bürgermeister war noch geblieben. Zwischen ihm und dem Hausherrn schien es in der Stube drunten eine erregte Debatte zu geben.
Walter verließ die Altane, schloß die Fenster und brannte die Lampe an.
Erst spät in der Nacht verließ der Bürgermeister die Villa. Mathild leuchtete ihm mit einer Kerze über die Veranda hinaus. »Ich bitt schön, Fräulein«, sagte er mit seiner schönen Stimme, »bleiben S' doch!«
Schweigend stellte Mathild den Leuchter nieder und ging dem Bürgermeister mit raschen Schritten bis zum Brunnen nach. »Sonnweber! Ich muß Sie bitten, daß Sie in Zukunft Papa gegenüber vorsichtiger sind. Sie sollten diese alte Geschichte endlich einmal in Ruhe lassen. Papas Gesundheit steht mir höher als alles andere. Dieses ewige Suchen ist ja auch völlig zwecklos. Ich bitte Sie also, daß Sie mit Papa von dieser Sache nicht mehr sprechen.«
»Meinetwegen!« erwiderte Sonnweber mit dem Ton eines Gekränkten. »Wenn der Herr Ehrenreich net selber davon anfangt, ich sag nix nimmer! Is Ihrem Herrn Vater a Gfallen damit erwiesen, so papp ich halt in Zukunft mein' gutmütigen Schnabel zu. Aber mit'm Moosjäger –«
»Das ist ein grundloser Verdacht!« sagte Mathild erregt. »Ich bitte Sie, das gute Werk des Herrn Doktor in keiner Weise zu stören.«
»Ich? Und stören? Gott bewahr! Mei' Schuldigkeit als guter Freund hab ich erfüllt und hab Ihren Vater verwarnt. Jetzt kann's kommen, wie's mag! Gut Nacht, Fräulein!«
Neben dem Brunnen blieb Mathild stehen, bis der Schritt des Bürgermeisters in der Nacht verhallte. Als sie zur Veranda ging, sah sie droben bei der Altane das erleuchtete Fenster. Tief atmend preßte sie die Hände an ihre Wangen trat ins Haus.