Ludwig Ganghofer
Der hohe Schein
Ludwig Ganghofer

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Hinter dem Vorhang die lachende Stimme Jarnos. Dann das Gekicher der niedlichen Sünderin: »Was, Kinder! Großartig war's! Natürlich, Goethe! Wo wäre das Durchdringende seiner Größe, wenn sie nicht auch durch lederne Hosen ginge?« Der Vorhang teilte sich ein wenig, ein lustiges Näschen erschien: »Wir können hinaus, der Saal ist leer.« In ihren Kostümen, nur von leichten Mänteln umhüllt, schlüpften Mariane und Philinchen durch den Vorhang heraus und sprangen über die Rampe in den Saal. Schwester Aurelia, die ihnen folgte, raffte die Falten ihres weißen Kleides zusammen, um nicht an die Lampen zu geraten. Philinchen gewahrte den verspäteten Zuschauer bei der Tür. »Guck mal, du reine Seele! Dein Doktor!« flüsterte sie. »Der will dir vermutlich den verdienten Lorbeer reichen!« Kichernd hängte sie sich an den Arm des Orest, dem ein Ausdruck des Mißvergnügens aus dem weiß geschminkten Gesicht und aus den müden Augen redete. An Walter vorüberhuschend, grüßte sie: »Guten Abend, Doktor! Für ein reisendes Meerschweinchen haben wir's gar nicht übel gemacht, was?« Ohne eine Antwort abzuwarten, glitt sie davon, um mit Mariane ihr Zimmer aufzusuchen. Da stand Aurelia vor ihm. Aus dem dunklen Mantel, den sie um das weiße Kleid gerafft hielt, leuchteten die entblößten Schultern. Er faßte ihre Hand, wie man etwas Heiliges berührt. Sein Gesicht brannte, seine Augen flammten.

»Warum so stumm?« fragte sie flüsternd. »Hab ich Ihnen nicht gefallen.«

»Ach, Fräulein, wie wundervoll ist das gewesen! Das war für mich eine Offenbarung. Sehen Sie mich nur an! Ich bin noch ganz von Sinnen, weiß nicht, was ich rede! Wie schön sind Sie gewesen! Wie schön!«

Sie nickte lächelnd. »Die Iphigenie ist mir unter meinen Rollen die liebste. Aber so wie heut, so aus tiefster Seele heraus, hab ich sie noch nie gespielt.« Den Druck seiner Hand erwidernd, neigte sie sich zu ihm und dämpfte die Stimme zu leisem Klang. »Heut hab ich für Sie gespielt! Für Sie allein!«

Er fühlte ihren Atem an seiner Wange. Mit einem Rest von Beherrschung bog er den Kopf zurück und schloß die Augen.

»Doktor?« fragte sie lächelnd. »Was haben Sie denn?«

Da sah er sie an. Wie verzehrendes Feuer war es in seinem Blut, wie ein schmerzendes Hämmern in seinen Schläfen. Was seit Jahren in ihm geschlummert hatte, war erwacht, so jäh und mit einer Wildheit, daß es seine Vernunft und Besinnung erstickte. Wie ein Verschmachtender sich über die Quelle wirft, umklammerte er das schöne Mädchen und bedeckte ihren Mund mit Küssen. Unter einem Laut des Unwillens suchte sie sich zu wehren. Und doch überließ sie sich einen Augenblick dieser Glut, die sie überwältigte. Dann drängte sie ihn erschrocken von sich und flüsterte: »Man sucht Sie!« Den niedergeglittenen Mantel um die Schultern ziehend, ging sie zur Bühne und schob den Vorhang auseinander, hinter dem man Jarno schwatzen hörte. »Hat niemand meine goldene Nadel gesehen?« fragte sie. »Ich muß sie auf der Bühne verloren haben.« Sie verschwand hinter dem Vorhang.

Verstört, mit dem Blick eines Erwachenden, der den Irrsinn seiner Träume nicht begreift, starrte Walter den schwankenden Vorhang an. Dann drehte er das bleiche Gesicht nach der Tür. Da sah er nur die Zenz, die durch den Flur hinaushinkte, ihr Maxele an der Hand. »Gelt, Mutter, dö Weiße«, plauderte das Bürschl, »gelt, dö is 's Christkindl gwesen?«

»Ja, Herzele! Aber weißt, dö is von die Christkindln eins, dös d' Flügerln schon einbüßt haben.«

Walter preßte die Hand an die Stirn. In seinen Gedanken und Sinnen war ein Wirbel, der sich nicht beruhigen wollte. Er ging und wußte nicht, daß er es tat. Als er hinaustrat in die klar gewordene, sternblitzende Sommernacht, meinte er wie aus weiter Ferne die Stimme des lustigen Sägmüllers zu hören: »Aber Thilde, da ist er ja! – Dokterl! Wo waren S' denn so lang?«

»Komm!« sagte Mathild zum Walperl und wandte sich hastig der dunklen Straße zu. Das Mädel zögerte. Augenscheinlich wäre das Walperl lieber mit dem Fazifanzerl und der Schrottenbacher-Vev gegangen als mit ihrer Herrin.

Die Vev, über deren hübsches Gesicht und schmucken Staat ein Wirtsstubenfenster seine Helle warf, guckte schmunzelnd dem Mädel nach, das in die Nacht hinaussurrte. »Wart a bißl, laß d' Herrenleut voraus!« sagte sie und hielt den Bonifaz am Joppenärmel fest, bis Bertl, der in seiner Begeisterung unermüdlich schwatzte, mit Walter vorüber war. »Heut führst mich heim, gelt?«

»Bis zum Scheidhof, ja!«

»Geh, du Bock, du fürsichtiger!« Ihr Ärger war gleich wieder in zutrauliches Lachen verwandelt. »Heut mußt schon a bißl weiter mitgehn, heut fürcht ich mich, weißt! Die Buben sind heut wie narrisch. Da kunnt eim ebbes passieren in der Nacht. Lus nur, was für an Spitakel dö Narrenschüppel ausschlagen!« Dabei meinte die Vev nicht nur den fidelen Lärm, der aus der Wirtsstube klang, auch den heiteren Übermut der schäkernden Gruppen, die sich auf der dunklen Straße gesammelt hatten. Ans einer dieser Gruppen flatterte ein Schnaderhüpfl auf:

»Und d' Sterndln, dö glanzen
Am Firmilament,
Und so gut wie der Göthrich
Hat's koaner noch könnt!«

Dieses literarische Urteil im Dreivierteltakt begeisterte einen anderen Stegreifdichter zu der Strophe:

»Der Göthinger gfallt mer,
Der is mei' Pläsier,
Der riegelt eim 's Blut auf
Wie dreißg Halbe Bier!«

Auch eine ethnographische Beobachtung, die den Langentalern beim Anblick der Hellenen aufgegangen, wurde in einen lustigen Vierzeiler gegossen:

»Kommts, Buaben, jetzt fahr' mer
Ins griechische Land,
Da tragen die Madln
Bloß 's halbete Gwand!«

Dem Sänger, der das Land der Griechen nicht nur mit der Seele zu suchen schien, antwortete eine tiefe Baßstimme:

»Da brauch i net fahren,
Komm billiger draus,
Mei' Schatzl im Hemmed
Schaut griechisch gnuag aus!«

Über das Gelächter hob sich mit jauchzendem Klang die Stimme eines Burschen: »Geh, Mareidl, druck dich her zu mir! Heut haben wir ebbes Schöns derlebt. Da lassen wir nimmer aus, bis 's Tag wird! Morgen geht eh wieder 's Misten an!«

Die lachende Freude, die den Langentalern ins Blut gefallen war, begleitete die Scheidhofer Leute auf dem ganzen Heimweg. Immer wieder überholten sie im Dunkel der Straße ein lustiges Pärchen oder zwei still Verschlungene. Vom finstern Waldsaum, wo der Moosjäger seinen Rausch verschlafen hatte, tönte ein gellender Juhschrei herüber und das frohe halberstickte Aufkichern eines Mädels.

Die Luft war frisch und würzig, der schwere Regen hatte sie rein gewaschen, und die erquickten Blumen erfüllten sie mit so süßen Düften, daß jeder Atemzug wie ein köstliches Trinken war. In den stahlblauen Tiefen der Ewigkeit funkelten die tausend Sterne hell und heiter, als fühlten auch sie einen Anteil an aller Schönheit und Freude dieser Nacht.

Immer blickte Mathild da hinaus, zu diesen brennenden Rätseln im Endlosen. Während des ganzen Heimwegs sprach sie kein Wort. Ihr Schweigen fiel weder dem verdrossenen Walperl auf, das sich fortwährend umguckte, noch dem verzückten Nannerl, in dessen verdrehtem Kopf alle Wunder dieses Abends zusammenflossen zu einer strahlenden Jünglingsgestalt in blauem Mantel. Dabei passierte ihr's, daß ihr die beiden ewigen Namen der Treue, Pylades und Phylax, ineinanderschmolzen zu einem »treuen Phyladerl«. »Der war der beste! Wann der net gwesen war, hätt's grausliche Sachen geben. Der hat alles wieder auf gleich bracht. Ah, der hat mir gfallen!« Bei Nannerls endloser Hymne horchte das Walperl immer über die Schulter. Manchmal, wenn der begeisterte Sägmüller sein Loblied auf das »herzige Prologerl« für einen Augenblick aussetzte, hörte sie das Gekicher der Schrottenbacher-Vev. Je näher man dem Tor des Scheidhofes kam, desto aufgeregter lauschte sie nach rückwärts in die Nacht. Da hörte sie plötzlich mit ihren Wieselohren, wie der Bonifaz in Ärger murrte: »Mei' Ruh laß mir! Ich mag net.« Walperl fing zu lachen an, als wäre in ihrem Verstand eine Schraube locker geworden. Mit diesem Lachen rief sie vom Torbogen des Scheidhofes über die finstere Straße hinaus: »Gut Nacht, Veverl! Gib fein a bißl Obacht mit deine Zeugstieferln, daß dir 's Absatzl net umschnappt!« Eine Antwort bekam sie nicht.

Bertl und Walter traten unter das Tor. Dann kam der Bonifaz und stieß den Riegel zu. Das Walperl lachte noch immer. Darüber schien sich der Bonifaz zu ärgern; ohne Walperls Gutenachtgruß zu erwidern, ging er über die schwarze Wiese zum Scheidhof hinüber.

Mathild war wie eine Fliehende den Kiesweg hinaufgelaufen. Im finsteren Schatten der Veranda preßte sie die Hände über die Augen. Dann trat sie ruhig in die Stube. Hier war unter der grünen Lampe der Tisch zum Tee gedeckt, das Fritzele schlummerte in einem Lehnstuhl, und Frau Rosl spielte Domino mit dem alten Herrn. Der hatte kein frohes Gesicht. Eine Furche war in seine Stirn gegraben, wie in Schmerzen, die er schwer ertrug. Als er Mathild sah, lächelte er: »Gottlob, daß du da bist! Habt ihr euch unterhalten?« Sie schlang dem Vater die Arme um den Hals. Das tat sie immer, wenn sie heimkam. Heute war in ihrer Zärtlichkeit etwas so Heißes, daß er betroffen aufblickte. »Geiß?« Sie wollte ihm ihre Hand entziehen. Er hielt sie fest und sah ihr ins Gesicht, das von durchsichtiger Blässe war. In ihren Augen ein tiefes Leuchten. Jeder Zug ihres feinen Gesichtes gereift und veredelt. So schön hatte er sein Kind noch nie gesehen. Dennoch empfand er ein Gefühl der Sorge. »Mädel? Was ist denn mit dir?«

Bertl stürmte zur Tür herein und legte gleich mit seiner Begeisterung los. Unter sprudelndem Schwatzen riß er seinen Buben aus dem Schlaf und busselte ihn ab, bis das Bürschl zu schreien anfing. Der Vater bekam trotz allem »Furio«, der im Sägmüller brannte, jenen vorsichtigen Händedruck, den der grüne Fäustling ertragen konnte. »Schad, daß du nicht dabei warst! Wenn sie wieder spielen, mußt du hinein! Ich geh auch wieder.«

»No, und ich?« schmollte Frau Rosl.

Der Sägmüller wurde ein bißchen verlegen und zog sich mit einer lustigen Neckerei aus der Schlinge seines nicht ganz reinlichen Gewissens: »Roserl, ich mein', dich laß ich daheim. Sonst wirst du mir eifersüchtig! Da ist eine dabei – ja, du, die könnt dir gefährlich werden!« Das brachte er so drollig heraus, daß Frau Rosl mitlachte. Zärtlich faßte sie ihn an beiden Ohren. »Wenn du ihr gefallen tätst, das könnt ich ihr gar net verdenken!«

Das Nannerl hatte den greinenden Buben auf den Schoß genommen. Um ihn zu beruhigen, erzählte sie ihm wispernd von dem treuen Phyladexl und seinem schönen blauen Mantel. Fritzele wurde still, nicht aus Staunen über den blauen Mantel, sondern aus Verwunderung über den leuchtenden Glanz in diesen zwei Mädchenaugen, die sonst so ängstlich und traurig blickten. Was das Nannerl flüsterte, wurde für die anderen überstimmt von Bertls lauter Begeisterung. Als der alte Herr hörte, daß man die richtige Goethesche »Iphigenie« gespielt hatte, fragte er lächelnd: »Goethe und unsere Bauern? Was haben denn die für Köpf dazu gemacht?«

»Die Leute haben sich prächtig benommen«, sagte Mathild, die den Tisch bestellte, »freilich auf ihre Weise.« Sie wollte lächeln. Das spielte ihr um die Lippen wie zuckender Schmerz. »Der Pfarrer hätte das sehen sollen. Weil er immer meint, daß Kunst, je höher sie steht, für das halbe Verständnis des Volkes um so gefährlicher ist. Das stimmt nicht. Wahrhaft Schönes wirkt auf alle Menschen.«

»Sogar auf den Kaplan!« siel Bertl lachend ein. »Der ist dagesessen wie ein zahm gewordenes Füchserl. Und jählings ist er davongesaust. Mir scheint, dem ist vor'm Goethe angst worden um seinen Katechismus.«

Der alte Herr schien nicht zu hören. Immer sah er zu Mathild auf. »Und unser Philosoph? Was hat denn der dazu gesagt? Und wo bleibt er denn?«

Das Walperl brachte die Teekanne und hörte die Frage noch. »Der Herr Dokter laßt bitten, daß ich ihm 's Nachtmahl auffitragen därf.«

»Er kommt nicht herunter?« sagte der alte Herr betroffen, wahrend Mathild aufzuatmen schien.

»So viel müd is er, hat er gsagt. Den muß die Komödi auch ganz verdreht gemacht haben!« Sie himmelte mit den Augen. »Aber schön war's!« Dann wandte sie sich an Mathild. »Und 's Fräulen, sagt der Herr Dokter, möcht so lieb sein und möcht ihm eins von ihre Göthianerbüchln leihen.«

Mathild erhob sich. »Die Iphigenie?«

»Na! Ebbes anders will er. Jetzt weiß ich nimmer recht, wie er gsagt hat, ebbes vom Herrn Moaster seiner Lehrlingszeit –«

»Wilhelm Meisters Lehrjahre?«

»Stimmt schon, ja, so hat er gsagt.«

Ein wehes Lächeln. Mathild ging aus der Stube, um das Buch zu holen. Walperl folgte ihr in den Flur und machte flink einen Sprung auf die Veranda. Seit der Heimkehr tat sie das schon zum viertenmal. Beim Brunnen wollte das Leuchtkäferchen nicht glühen. »So a Stock, so an ungemütlicher!« murrte das Mädel in heißem Verdruß. »Und heut hätt ich gschworen –«

Da klang die Stimme Mathilds: »Walperl!«

Das Mädel bekam drei Bücher. »Soll ich dem Herrn Dokter was ausrichten?«

»Nein.«

Das war ein so seltsamer Klang, daß das Walperl verwundert fragte: »Fräulen, was haben S' denn?« Ohne zu antworten, schüttelte Mathild den Kopf, und das gute Walperl vergaß der Warnung des Bonifaz, daß man Blumen, die im Erblühen sind, nicht berühren darf. »Gelt, Ihn hat's auch verdrossen, daß der Herr Dokter net abikommt? Heut auf die Komödi nauf wär so an Abend gwesen, wo man sich 's brennheiße Herzl a bißl ausreden hätt können.« Kaum hatte das Mädel das herausgesprudelt, als es zu Tod erschrak über die Veränderung in Mathilds Gesicht. »Jesses! Hob ich was Unguts gsagt?« Sie bettelte wie ein Kind: »Um Gotts willen, tun S' mir's net nachtragen, wann ich ebbes dahergredt hab, was Ihnen weh tut! Ich müßt heulen die ganze Nacht.«

Ohne ein Wort zu sagen, strich Mathild dem Mädel mit der Hand übers Haar. Dann ging sie in die Küche, um für Walter die Teeplatte zu richten. Walperl guckte mit scheuen Augen immer das Fräulein an, dieses liebe, blasse Gesicht und die schlanken Hände, die das Zittern nicht überwinden konnten.

Als sie die Treppe hinaufstieg, unter dem Arm die Bücher und zwischen den Händen die Platte, nahm sie sich vor, »dem Herrn Philosophen das Herzfleckl ein bißl aufzupolstern«. Walter stand am Fenster, die Stirn an die Scheibe gedrückt. Er hörte nicht, daß Walperl den Tisch bestellte. Erst ihr energisches Räuspern machte ihn aufblicken. Doch als sie dieses verwandelte Gesicht und diese heißen, irrenden Augen sah, fiel ihr, wie ein Volkswort sagt, das Zäpfl in den Hals hinunter. Auf den Fußspitzen schlich sie zur Tür. Im Flur draußen schalt sie wütend vor sich hin: »Malefizkomödi, verflixte! Dö treibt ja die Buben von ihre Madln weg!« Man konnte dem Walperl dieses subjektiv gefärbte Urteil nicht verübeln. Sie hatte nach dem vielversprechenden »heißen Zustand« am Bonifaz eine anfröstelnde Enttäuschung erlebt.

Drunten in der Stube, in der die Ehrenreichs beisammensaßen, hing's wie ein grauer Schleier um den Tisch, obwohl der alte Herr die Pfeife nicht angezündet hatte. »Fühlst du dich nicht wohl, Papa?« hatte Mathild in Sorge gefragt. Er hatte lachend abgewehrt. Dann saß er in seinem Sofawinkel, so still, wie es sonst nicht seine Art war. Bertl hatte so viel zu erzählen, daß er über den Prolog hinaus noch gar nicht zu Goethe gekommen war. Ganz verwundert guckte er drein, als Frau Rosl zum Aufbruch mahnte. Nach dem kalten Bad im Mühlbach könnte die Nacht, wenn sie kühler würde, dem Buben schaden. »Und der Vater soll auch zur Ruh kommen. Ich glaub, er ist ein bißl müd.«

Ohne zu widersprechen, erhob sich der alte Herr. Das wurde ihm schwer. »Ja, Rosl, schau nur, daß du den Buben warm heimbringst! Und du, Bertl, komm noch einen Sprung zu mir ins Zimmer. Ich muß was reden mit dir.« Als er Mathilds fragenden Blick gewahrte, sagte er: »Was Geschäftliches.« Mathild ging aus der Stube, um drüben im Schlafzimmer Licht zu machen. Als sie draußen war, sagte der alte Herr: »Gelt, Bertl, laß an den Mühlbach einen festen Zaun machen!« Das Nannerl mußte ihm das kleine Bürschl auf die Arme heben, und das Kind sah dem alten Herrn so aufmerksam in die Augen, wie vorhin dem glückseligen Nannerl: »Großvaterle! Was du für liebe, gute Augerln hast!«

Aus dem Gesicht des Alten wich der herbe Zug des Leidens. Heiter fragte er: »Hast du denn das noch nie gemerkt?«

Das Kind schüttelte den Kopf und schlug dem Großvater die Ärmchen um den Hals. »Gelt, mich hast du halt lieb!«

»Ja, Kind! Das weiß der liebe Gott!« Herzend preßte er das Bürschl an sich. »Kinder, das ist eine heilige Stund für mich. Von heut an weiß euer Bub, was er hat an mir.«

In der Stube krachte leis eine Diele. Ging da ein Unsichtbarer? Der Friede, das Glück? Oder war es ein anderer, der still und ungesehen kam? – Du dunkler Schleier, der über allem Kommenden hängt, du bist der barmherzige Freund der Menschen!

Als der alte Herr den kleinen Knirps der Mutter hinreichte, sagte er lachend: »Jetzt hab ich auch mein Theater gehabt und hab ein Lied klingen hören, das der größte von allen Dichtern gesungen hat.« Er strich mit dem grünen Fäustling dem Buben übers Haar. »Das ist was eigenes, die Freud, die man an einem Enkel hat. Frei von aller Sorg, die ruhlos am Elternherzen reißt. Eine Freud, die was Verklärtes hat! Und wie jung ich mich spür, wenn ich dem Bubl in die Augen schau! Menschen, die keine Kinder haben, sterben bei lebendigem Leib. Kinder und Enkel geben uns eine ewige Seel.« Er küßte den Buben. »Na also, Kinder, gut Nacht für heut! Komm. Bertl!« Mit stoßenden Schultern schraubte er sich gegen die Tür und spreizte das steife Bein, um über die Schwelle zu kommen. Drüben im Schlafzimmer schloß Mathild gerade die Fenster. Eine Stube, weiß und heiter, wie das Herz eines Kindes nach der Beichte. Die Mauern frisch getüncht, mit Geweihen dran, die im Lampenlicht ihre zackigen Schatten durcheinanderflochten. Bis zur Fensterhöhe waren die Wände mit weißem Ahornholz verschalt. Aus dem gleichen Holz waren die Stühle, der Schrank und die Kommode. Das Gestell des eisernen Bettes war weiß gestrichen.

Mathild ging. Und der alte Herr sagte zu Bertl: »Nur daß ich nicht gelogen hab, mit dem Geschäft – heut früh war der Niedernacher bei mir, der das Bauholz bei dir gekauft hat. Der gute Kerl weiß nicht recht, wie er mit seinem bißl Gerstl bei dem Neubau auf gleich kommt. Da soll ich ein gutes Wort bei dir einlegen, daß du ihm mit deinen dreihundert Mark zuwartest.«

»Aber freilich! Der Niedernacher ist eine ehrliche Haut. Da krieg ich mein Geld schon.« Bertl lachte. »Deswegen hättst du doch net aufstehen brauchen.«

»Mein Knie mußt du auch ein bißl anschauen.«

»Jesus, was hast du denn?«

»Ich weiß nicht. Den ganzen Abend schon hab ich einen so niederträchtigen Schmerz, daß ich's kaum mehr ausgehalten hab.«

Bertl führte den Vater zum Bett und half ihm aus den Kleidern. Dann holte er die Lampe und betrachtete das Knie. Als er dran fühlte, zuckte der alte Herr zusammen. »Ein blauer Fleck ist da, und ein kleinwinziges Ritzerl, kaum daß man's sieht. Da mußt du dich an was Eckigem angestoßen haben. Ich mach dir einen kalten Umschlag, und über Nacht ist alles wieder gut.« Bertl legte mit zwei Taschentüchern geschickt einen kühlenden Verband um das Knie. »Gelt, das tut wohl?«

»Ja, Bub! Vergeltsgott! Und halt nur den Schnabel vor der Geiß! Kannst auch das Licht gleich ausmachen!«

Bertl blies die Lampe aus und tappte sich im Dunkel zur Tür. »Gute Besserung!«

Der alte Herr konnte hören, wie sich draußen die Gesellschaft aus der Sägmühle verabschiedete. »Ich freu mich schon aufs nächste Theater!« sagte Bertl mit Lachen. »Und bin riesig neugierig, wie das herzige Prologerl in einer richtigen Roll ausschaut.« Noch einmal klang das Stimmchen des kleinen Bürschls. Dann Schritte im Hof, der Schein einer Laterne, und im Haus war Stille. Mathild kam zur Tür herein. »Papa, du liegst schon?«

»Ja, Geiß! Gute Nacht! Oder magst du dich noch ein bißl hersetzen zu mir?« Sie setzte sich auf die Bettkante und nahm seine Hand. So blieben sie ein Weilchen schweigend. In dieser Stille hörten sie über der Zimmerdecke einen ruhelosen Schritt. Mit halblauter Stimme fragte der alte Herr: »Hat er was gesagt zu dir? Vom Nachmittag? Und was wir da geschwatzt haben?« Weil er nicht gleich eine Antwort bekam, drängte er: »So red doch! Hat er was gesagt?«

»Nein!« Die Stimme klang ruhig. Ihr Gesicht konnte der Vater im Dunkel der Stube nicht sehen. »Wie er mich beim Pfarrhof abholte, hab ich es ihm aus den Augen gelesen, wie gut ihr beide einander geworden seid. Ich glaube, das hat er mir auch sagen wollen. Aber da kam dieses Wunder –«

»Was für ein Wunder?«

»Am Himmel. Dieses Leuchten und Brennen.«

»Ach so! Das hat auch zu mir hereingebrannt durch die Fenster. Das muß wundervoll gewesen sein! Und das habt ihr zwei miteinander gesehen? Kind, das nimm als gutes Omen für die brennende Freud, der dein junges Leben entgegenwandert!« Er streichelte ihre Hand. »Geh, du Närrlein, warum zitterst du denn so? Freilich, das hat die tiefste Freude an sich, daß man sie manchmal mit der höchsten Angst verwechseln könnte! – Wenn du nur gesehen hättest, wie er mir die verkrüppelte Hand küßte, recht wie ein guter Sohn! Jetzt will ich auch halten, was ich dir versprochen hab. Die alte Geschichte soll für mich begraben sein, weil ich weiß, daß sie kein Stein mehr auf deinem Weg zum Glück ist. Zwischen Walter und mir ist alles klar. Zwischen ihm und dir wird's auch bald werden!«

Sie wollte ihm ihre Hand entziehen.

Er hielt sie fest. »Glaub nur dran! Heut am Abend, wie ihr heimkamt –« Da mußte er die Zähne übereinanderbeißen. Ein stechender Schmerz war ihm vom Knie durch das lahme Bein heraufgefahren bis zum Herzen. »Heut am Abend hat's mir freilich einen merkwürdigen Bremsler gegeben, weil er nimmer herunterkam. Aber ich glaub, jetzt versteh ich's! Das Schöne, das ihr gehört und gesehen, hat ja auch dich ins Frieren und Sieden gebracht. Goethe! Das ist ein Quellenlöser und Herzdurchleuchter, ein Freudenschenker und Sehnsuchtwecker! Der wird mit seiner Schönheit dem da droben heut auch ein Lichtl aufgezündet haben. Horch nur! Sein Schritt! Wie stürmisch das hin und her geht! Seit heute weiß er, was in seinem Blut und Herzen ist. Drum wollte er nicht herunterkommen, weil er sich zu verraten fürchtete vor den anderen! Mach dich gefaßt darauf: wenn er ein Stündl mit dir allein ist, wird's herausbrennen aus ihm, so schön und leuchtend, wie heut der Abend war.«

Kein Laut kam über Mathilds Lippen. Aber sie fühlte, daß sie nicht länger bleiben durfte. Was erstickend in ihr wühlte, drängte schon herauf in die Kehle. Sie umschlang den Vater, küßte ihn, daß ihm der Atem fast verging, und floh zur Tür. Dabei konnte sie noch ein leises, frohes Lachen hören. Als sie hinüberkam in ihre finstere Stube, warf sie sich über das Bett, wühlte das Gesicht in die Kissen und strömte allen Schmerz und alle Bitterkeit. die in ihr brannten, zu hilflosem Schluchzen aus.

Das Walperl, das bei offener Tür in der Küche die Teller und Tassen spülte, unterbrach die Arbeit und lauschte. So was Ähnliches hatte sie schon oft gehört. »Die liest sich halt wieder eins von ihre Göthianerbüchln für! Heut hat er s' alle narrisch gmacht! Der!« Jeder Schönheit zum Trotz, die das Walperl an der Seite des Fazifanzerl genossen hatte, schien diesem Gedanken jegliches Wohlwollen für den Dichter zu fehlen. Wütend schleuderte sie das Spültuch über die Herdplatte. Der »heiße Zustand«, der im Bonifazius getobt hatte, war augenscheinlich durch Infektion auf das Walperl übergegangen. Das mußte ein Leiden sein, das sich hart ertragen ließ. Immer schwerer seufzte das einsame Mädel. Als sie die Arbeit schon fertig hatte und noch ein Weilchen auf der Herdbank sitzenblieb, tropften ihr dicke Zähren über das heiße Gesicht.

Endlich blies sie in der Küche die Lampe auf. Aber einen Trost wollte sie noch mit hinübernehmen in die müde Ruh. »Ich spring noch in Garten aussi, hol mir a paar Kerschen eini und schau mir s' an beim Licht! Heut müssens' mit der Farb a Ruckerl gmacht haben!« Sie streifte die Schuhe von den Füßen und trat in den Strümpfen lautlos hinaus in die stille, duftende, sternhelle Finsternis. »Herrgott, is d' Nacht heut schön! G'rad als hätt s' der Göthinger gmacht!« Flink sprang sie dem Garten zu. Beim Brunnen gab's dem Walperl einen Riß. Auf dem Steintrog kauerte was Schwarzes. Kein Luchsauge hätte bei der kohlenden Finsternis in diesem regungslosen Klumpen was Menschliches erkannt. Aber das Walperl hatte die Augen der Sehnsucht, die noch schärfer sehen als Raubtieraugen. Im ersten Schreck vergaß sie auch völlig das gewohnheitsmäßige Heuchelwörtchen: »So? Du bist es?« Tonlos stotterte sie: »Jesses, jetzt hockt er da!«

Der schwarze Klumpen rührte sich. »Weil ich mir denkt hab: heut mußt kommen!« Was Grollendes klang aus seiner Stimme. »Lang hast braucht!«

Der ungerechte Vorwurf ärgerte das Walperl. »Du Narr! Als ob ich net allweil aussiguckt hätt? Warum hast denn 's Pfeifl net anzündt?«

»Aufs Rauchen hab ich heut ganz vergessen.« Die Stimme des Bonifaz wurde leis und lind. »Is's wahr, Madl? Hast aussigschaut nach mir?«

Wer Unrecht leidet, neigt zu Übertreibungen. »An die dreißgmal, wann's langt!«

Da faßte er mit raschem Griff ihre Hand, ließ sie aber wieder fahren, als er den Schmerzenslaut hörte, den das Walperl ausstieß. »Hab ich dir weh tan?«

»No und wie!« grollte das Mädel. »Du mit deiner eisernen Pratzen!« Sehr ernst war dieser Vorwurf nicht gemeint, denn das Walperl, während es das halbzerquetschte Handgelenk scheuerte, setzte sich dicht neben die drückende Gefahr.

Der schwarze Klumpen hatte den Kopf gebeugt und das Gesicht auf die Fäuste gepreßt. Nach einer Weile hörte das Walperl was Merkwürdiges, etwas ganz Unglaubliches. Hätte einer dem Walperl erzählt: ich hab den Bonifaz weinen hören! – das Mädel wäre mit dem Näsl spöttisch in die Luft gefahren und hätte gelacht. Das Unmögliche glaubt man nicht. Weint denn ein Baum im Wald? Weint denn ein Fels im Berg? Freilich – wenn der Mai im Fels das gefrorene Wasser auftaut, und wenn dem Baum das Eisen durch die zähe Rinde fährt, daß ihm das Leben blutet.

Im ersten Augenblick war Walperl so ratlos, daß sie keinen Laut herausbrachte. Bevor sie glauben konnte, mußte sie sich überzeugen. Sie fuhr dem Bonifaz mit der Hand ins Gesicht und fühlte die heißen Tropfen. »Mar' und Josef!« stammelte sie erschrocken. »Bub! Was hast denn?«

»Ich weiß net! Ganz verdreht bin ich heut!« Er kämpfte wütend mit seiner Schwäche. »Ich weiß nimmer, was ich möcht, und weiß nimmer, was ich fürcht. Der ganze Verstand is beim Teufel, und völlig sieden tut alles in mir. Heulen muß ich, und doch is d' Freud in mir wie narret. Mir scheint, heut haben s' an Griechen aus mir gmacht.« Dabei schien er der Meinung zu sein, daß es einschichtige Griechen nicht geben kam.. Er legte den Arm ums Walperl und preßte das Mädel an sich, daß es stöhnte.

Den eigenen Schmerz verbeißend, trocknete sie dem Bonifaz mit der Schürze die Augen und bettelte: »Geh, um Gottes willen, alles därfst mir tun, bloß grad net weinen! Ich kann's net hören. Da wird mir ganz elend.«

»Schatzl, mein liebs!«

Für den Verstand des Walperl fielen die Sterne vom Himmel. Der »zruckhalterische« Bonifaz! Der sagte: »Schatzl, mein liebs!« Ein Wirbel von Seligkeit drehte sich heiß durch ihr Herz. Sie wußte nicht, ob sie lachen sollte oder mitweinen. In dieser Unentschlossenheit tat sie sowohl das eine wie das andere. Da stand er auf und zog sie an sich: »Geh, komm, marschieren wir a bißl! Schauen wir uns d' Nacht a wengl an, weil s' gar so schön is heut.«

»Jesses, na, und ich bin in die Strumpfsöckeln!«

Da macht sich das Marschieren schlecht. Das sah er ein. Einen Augenblick besann er sich. In der stillen, schönen Nacht klang ein froher Jauchzer fern über die Wiesen vom schwarzen Wald herüber. »Hörst es? Heut is d' Freud überall!« Lachend griff er zu und hob das Mädel auf seine Arme.

Erschrocken wehrte sie sich. »Du! Du! Was machst denn?«

»Bald net gehn kannst, trag ich dich halt!« In langen Sprüngen, als hielte er ein Federchen auf den Armen, rannte er mit ihr in die Nacht hinaus und flüsterte in seligem Übermut: »Herzl, jetzt springen wir eini ins Griechenland!«

Sie zappelte, schlug in allem Ernst mit den Fäusten zu und flehte: »Jesus, Schatzl, wo hast denn dein' Verstand, ich bitt dich gottstausendmal –« Ein heißer Riegel schloß ihr den Mund.

Die Kirschen dieser beiden waren reif geworden, lange vor der Zeit, dazu noch an einem unfreundlichen Regentag, der erst spät am Abend seine große, strahlende Sonne gefunden hatte. Und da behaupten die klugen Leute, daß es keine Wunder gäbe. Es muß nur einer kommen, der sie zu wirken versteht.

Stunde um Stunde verging. Der Brunnen, der sonst an Gesellschaft gewöhnt war, plauderte sich einsam eine heimliche Geschichte vor.

Schweigend stand das Haus. Nur ein einziges Fenster, droben auf der Altane, hatte noch Licht. Das flackerte, bis der Morgen zu grauen begann.

In brennender Erregung hatte Walter gelesen, wie in einem quälenden Durst, der Kühlung ersehnt und sie doch nicht findet. Als ihm die Lampe ausgegangen war, hatte er den »Wilhelm Meister« mit ins Schlafzimmer genommen und bei der Kerze weitergelesen. Kein Schlummer wollte kommen, keine Ruhe den Sturm beschwichtigen, der ihn erfüllte.

Ein toller Kampf war in seinen Gedanken und Sinnen. Bald faßte ihn der Große, der aus diesem Buche redete, mit seinen Riesenfäusten und hielt ihn fest, durchglänzte ihm das Herz und zwang ihn, aller anderen Dinge zu vergessen. Bald wieder stießen ihn die Bilder, die ihm aus den Namen und Worten des Buches entgegensprangen, zurück in allen Aufruhr seines Blutes. Jetzt verstand er die Komödie, die ihm die Schauspieler vorgegaukelt hatten. Nicht nur ihre Namen, fast jedes Wort, das sie damals zu ihm gesprochen, hatte er im »Wilhelm Meister« wiedergefunden. Den leidenschaftlichen Rausch, den ihm die Schönheit dieses Mädchens ins Herz flutete, durchbitterte das quälende Erinnern an jenes Affenspiel, das die Schauspieler mit einem hohen Vorbild getrieben hatten. Während er las, erwachte ein Gefühl der Empörung in ihm, ein Gefühl, das sich zur Wehr setzte gegen alles, was in ihm brannte und mit heißem Durst begehrte. Am stärksten erfaßte ihn dieses Widerstreben, als er von jener wüsten Orgie las, zu der in Wilhelm Meisters Zimmer die Lektüre eines deutschen Ritterstückes ausgeartet war. Das Bild der übel zugerichteten Stube mit den Scherben der zerschlagenen Gläser, das Gezänk der betrunkenen Künstler, die Ungeniertheit der angeduselten Mädchen, alles ekelte ihn an. Wie eine aufrüttelnde Mahnung wirkte auf ihn jene Stelle des Buches, die das unangenehme Gefühl des ernüchterten Helden schildert, als er des anderen Morgens mit düsterem Blick auf die Verwüstungen des vergangenen Tages, den Unrat und die bösen Wirkungen hinsah, die ein geistreiches, lebhaftes und wohlgemeintes Dichterwerk hervorgebracht hatte.

War jetzt nicht die gleiche Verwüstung in ihm selbst? Was ihn erfüllte? Wie weit war das entfernt von jener süßen, heiteren Freude, von der es im »Werther« hieß: daß sie die Gestalt der Geliebten in ihren Gedanken trägt, wie die schöne blühende Welt umher und der leuchtende Himmel darüber in einer träumenden Seele ruhen! Was ihn erfüllte, war Kampf und Qual, Scham und dürstendes Verlangen, ein Widerstreit in jedem Gedanken, ein Widerstreit in jedem Gefühl. Wo war die schöne Ruhe hin, die er nach aller Bitterkeit seines Lebens hier gefunden? Hätte er doch nie als Fürsprecher der Komödianten diesen unseligen Weg zum Pfarrhof getan! Das war der Anfang des brennenden Irrsinns, der ihn überfallen hatte!

Nein! Er fühlte, daß er in sich zwei Dinge voneinander scheiden mußte: das erwachte Tier, das in seinen Sinnen schrie, und das Reine, Herrliche, das dieser Abend ihm zeigte – den quälenden Aufruhr seines Blutes und die fromme Dankbarkeit für das Schöne, das wie eine neue, nie gesehene, ungeahnte Sonne des Lebens vor ihm aufgegangen! War der Reichtum dieses Gewinnes zu teuer bezahlt mit allem Aufruhr, der in ihm brannte? Nein, nein, nein! Wohin aber wird dieser Sturm ihn führen? Was wird er bringen? Wie muß er enden?

Um der Qual solcher Gedanken zu entrinnen, griff er wieder nach dem Buche. Stunde um Stunde las er. Doch die Ereignisse des Buches, seine Worte und Gestalten wurden für ihn zu einem Wirbel, der ihn betäubte. Die Gesichter der Menschen zerflossen ihm und veränderten sich. Nur ein einziges blieb sich gleich und fesselte ihn mit einem Reiz, dem er sich nicht entwinden konnte. Das war nicht das Gesicht Aurelias. Die Aurelia des Buches verlor für ihn, je länger er las, jede Beziehung zu jener anderen, die er im Dämmerlicht des Theatersaales in seine Arme gerissen hatte. Die Aurelia, die er in glühendem Irrsinn an seiner Brust gehalten, floß ihm beim Lesen zusammen mit dem verführerischen Bild Philinens. Die niedliche Sünderin des Buches wurde für ihn zu der einen, um die sich alles andere drehte. Er las mit fieberhafter Hast, um nur immer wieder zu einer Stelle zu kommen, die von Philine erzähle.

Die Kerze war niedergebrannt, zehrte schon am letzten Endchen und flackerte heftig. Vor Walters Augen tanzten die Buchstaben, als er las:

»›Nun, nun‹, sagte Aurelia, ›es ist spät, wir wollen nicht streiten. Alle wie einer, einer wie alle! Gute Nacht, mein Freund, gute Nacht, mein feiner Paradiesvogel!‹ Wilhelm fragte, wie er zu diesem Ehrentitel komme? ›Ein andermal‹, versetzte Aurelia, ›ein andermal. Man sagt, sie hätten keine Füße, sie schwebten in der Luft und nährten sich vom Äther. Es ist aber ein Märchen, eine poetische Fiktion. Gute Nacht, laßt euch was Schönes träumen, wenn ihr Glück habt!‹ Sie ging in ihr Zimmer und ließ ihn allein; er eilte auf das seinige. Eben war er im Begriffe, sich auszuziehen, nach seinem Lager zu gehen und die Vorhänge aufzuschlagen, als er zu seiner Verwunderung ein Paar Frauenpantoffel vor dem Bett erblickte; der eine stand, der andere lag. – Es waren Philinens Pantoffel, die er nur zu gut erkannte; er glaubte auch eine Unordnung an den Vorhängen zu sehen, ja es schien, als bewegten sie sich; er stand und sah mit unverwandten Augen hin. Eine neue Gemütsbewegung, die er für Verdruß hielt, versetzte ihm den Atem; und nach einer kurzen Pause, in der er sich erholt hatte, rief er gefaßt: ›Stehen Sie auf, Philine, was soll das heißen? Wo ist Ihre Klugheit, Ihr gutes Betragen? Sollen wir morgen das Märchen des Hauses werden?‹ Es rührte sich nichts. ›Ich scherze nicht‹, fuhr er fort, ›diese Neckereien sind bei mir übel angewandt!‹ Kein Laut. Keine Bewegung. Entschlossen und unmutig ging er endlich auf das Bett zu und riß die Vorhänge voneinander. ›Stehen Sie auf‹, sagte er, ›wenn ich Ihnen nicht das Zimmer für diese Nacht überlassen soll.‹ Mit großem Erstaunen fand er sein Bett leer, die Kissen und Decken in schönster Ruhe. Er sah sich um, suchte nach, suchte alles durch und fand keine Spur von dem Schalk. Hinter dem Bette, dem Ofen, den Schränken war nichts zu sehen – er suchte emsiger; ja ein boshafter Zuschauer hätte glauben mögen, er suche, um zu finden –«

Da erlosch die Kerze in dem kochenden Talg, der sich in der Hülse des Leuchters gesammelt hatte.

Das schwarz gewordene Buch zwischen den zitternden Händen, starrte Walter in das trübe, kühle Grau, das um die Fenster blaßte.


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