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Die Elfuhrglocke läutete. Um das Wirtshaus aufzusuchen, hatte Walter den Fußweg am Saum des Bergwaldes eingeschlagen. Er kam an der Stelle vorüber, wo er den Moosjäger gefunden. Als er zum Dorf hinüberging, fiel ihm ein unbewohntes Häuschen auf, in einem verwahrlosten Garten mit niedergedrücktem Zaun und wucherndem Unkraut. Die Mauern waren noch gut. Die Fensterläden hingen windschief in den Angeln, und die Glasscheiben waren in Scherben geschlagen. Das mußte jenes Häuschen sein, in dem der Moosjäger mit seiner Mutter gewohnt hatte. Und da drüben ragten über die Schindelfirste des Dorfes drei hohe, rote Ziegeldächer hervor: die drei neuen Häuser, die aus dem brennenden Zorn des Mamertus Troll herausgewachsen waren. Walter kam auf seinem Weg an diesen drei Häusern vorüber. Schmuck, mit weißen Mauern leuchtend, standen sie in der Sonne. Über jeder Haustür glänzte das Blechtäfelchen einer Versicherungsgesellschaft. In den Höfen war Leben, gesunde Kinder sprangen umher, und hinter einem der neuen Zäune stand ein behäbiger Bauer mit rundem Bauch und lachendem Speckgesicht. »Dem haben die fünf Jahre des Mamertus Troll gut angeschlagen!« dachte Walter. Und jenes Wort des Staatsanwaltes fiel ihm ein: »Die erbarmungswierdichen Abchebrannten!«
Er ging die Dorfstraße hinunter. Vor dem Wirtshaus sah er Kinder und Erwachsene in Neugier um das Zauntor stehen. Zwischen den Bäumen leuchteten die Farben des Komödiantenwagens. Eine zornige Männerstimme. Beim Klang dieser Stimme machte Walter raschere Schritte. Neben der Haustür standen die Wirtsleute, der alte Peterl, die Kellnerin und ein paar Gäste. Einer der Schauspieler, jener schlanke Reiter, stand auf dem Dach des Wagens, als wäre er beim Abladen der Leinwandrollen unterbrochen worden. Seine zwei Kameraden und jene drei merkwürdigen Mädchen in den scharlachroten Blusen, noch mit den Blumen im Haar, standen vor dem Wagen und sahen mit halb verdutzten, halb erheiterten Gesichtern den jungen Priester an, der dem Thespiskarren einen unfreundlichen Empfang bereitete. Eine hager aufgeschossene Jünglingsgestalt in schwarzem Talar, ohne Hut, ein stolzer Kopf mit kurzgeschnittenem Braunhaar, ein strenges Gesicht mit zornblitzenden Augen. »Laden Sie den Kram da wieder auf! Ich erlaube nicht, daß Sie bleiben!«
»Herr Kaplan!« sagte mit gemütlicher Ruhe der älteste der Schauspieler, ein stattlicher Dreißiger. »Wir sind im Besitz einer obrigkeitlichen Konzession.«
»Das ist mir gleichgültig.«
»Herr Kaplan! Alles Gesetzliche muß man respektieren. Gestatten Sie, daß ich unsere Papiere vorweise. Ich heiße Jarno und bin das Oberhaupt dieser kunstbeflissenen Truppe.« Das sagte der Schauspieler mit vornehmer Würde. Die merkwürdigen Mädchen lachten dazu.
»Ich sage das zum letztenmal: laden Sie den Kram wieder auf und verlassen Sie das Dorf!«
»Herr!« Der zweite Schauspieler, ein Schwarzkopf mit schönem Gesicht und träumerischen Hamletaugen, trat mit jenem Anstand, den man königlich zu nennen pflegt, auf den jungen Priester zu und machte eine Bewegung, als schlüge er einen Mantel um die Brust. »Unsere Kunst ist unser Brot. Wollen Sie uns verwehren, daß wir leben? Ist das christlich?« Wieder lachten die merkwürdigen Mädchen.
»Was christlich ist, darüber hab ich mir Ihnen nicht zu rechten. Verdienen Sie Ihr Brot, wo Sie wollen, nur nicht im Gebiet meiner Seelsorge. Solang ich Priester hier im Orte bin, werde ich es verhindern, daß man den schlichten Sinn der Landleute durch sündhaftes Gaukelspiel verdirbt.«
»Herr!« fuhr der Schwarzkopf in Empörung auf. Da legte Jarno ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm: »Gib dich zufrieden, Bruder Laertes! Der Hochwürdige wird mit sich reden lassen.«
Langsam war die Schwarze auf den jungen Priester zugegangen, sah ihn mit ihren Glutaugen an und sagte lächelnd: »Was wir bringen, ist kein sündhaftes Gaukelspiel, sondern heilige Kunst.«
»Heilig? Mißbrauchen Sie dieses Wort nicht!« Der Kaplan trat einen Schritt zurück, als empfände er mit Unbehagen den heißen Blick, der auf ihm ruhte.
»Ach, Herr Kaplan«, fiel die Blonde mit ihrem Zwitscherstimmchen ein, »wir sind doch wirklich keine Wölfe, die auf Seelenraub ausgehen.«
»Wer und was Sie sind, darum hab ich mich nicht zu kümmern.« Der junge Priester wurde heftig. »Ich wiederhole Ihnen, daß ich Ihre Vorstellungen im Bereich meiner Seelsorge nicht dulde. Wenn Sie bis zum Abend das Dorf nicht verlassen haben, werden Sie durch die Gendarmerie das Weitere hören.« Er ging mit raschen Schritten der Straße zu.
»Oh!« sagte die Schwarze, noch immer mit jenem feinen Lächeln. Es blitzte in ihren Augen. Auf dem Dach des Wagens richtete der Schlanke sich auf. »Gendarmerie? Da hat der Spaß für mich ein Ende.« Gemütlich winkte Jarno mit der Hand zu ihm hinauf: »Lustiger hätte die Sache nicht anfangen können, als mit diesem dramatischen Konflikt zwischen Kunst und Kirche.« Er klopfte der Blonden auf die Schulter. »Philinchen, das mit den Wölfen hast du fein gesagt.«
Beim Hoftor verhielt der junge Priester den Schritt. Walter war ihm in den Weg getreten: »Grüß dich Gott, Innerebner!« Den stolzen Kopf zurückbeugend, sah der Kaplan an Walter hinauf, als stünde ein Fremder vor ihm. »Kennst du mich nicht mehr?« Walter lächelte. »Freilich, in mir hat sich viel verändert. Du, Michael, bist der gleiche geblieben. Immer Feuer und Zorn!«
Wortlos drehte der Kaplan das Gesicht und schritt mit rauschendem Talar auf die Straße hinaus. Walter sah ihm nach. Und drüben beim Wagen zischelte das blonde Philinchen: »Das ist ja unser Fischer vom Weiher da draußen! Der scheint hier bekannt zu sein. Vielleicht kann er uns helfen?« Die ruhig Stolze nahm das Waldrauschkränzl von ihrem Haar und ging auf Walter zu. Mit schwermütig bittenden Augen sah sie zu ihm auf und dämpfte ihre herrliche Stimme zu leisem Klang: »Verzeihen Sie, mein Herr! Wir sind in großer Bedrängnis, man will uns verbieten, unsere Kunst zu üben. Da wir glauben, daß Sie hier im Dorfe Einfluß besitzen –«
»Ich? Nein!« sagte Walter verlegen, den Hut in der Haud.
Sie schüttelte sanft den schönen Kopf. »Ich glaube, daß Sie uns helfen könnten, wenn Sie nur wollten. Seien Sie versichert, daß wir die Förderung eines wohlwollenden Gönners auch verdienen. Es ist edle Kunst, die wir bringen, um bei den Landleuten den Sinn für das wahrhaft Schöne zu wecken. Für das Volk ist uns das Allerbeste gerade gut genug. Ach, bitte, bitte!« Wie warm diese Augen flehen konnten!
»Ich kenne den Bürgermeister, auch den Pfarrer.« Walter hatte alle Verlegenheit überwunden. »Ob ich etwas ausrichten werde, kann ich nicht versprechen. Den Versuch will ich machen. Gleich. Vielleicht kann ich einer ungünstigen Beeinflussung des Pfarrers zuvorkommen.« Er grüßte und ging.
Das Pfarrhaus stand im Schatten der Kirche, ein stilles weißes Haus, von einem Garten umzogen. Als Walter an dem grünen Staketenzaun das Türchen öffnete, hörte er Musik auf dem oberen Stockwerk klingen: die Flöte des Hochwürdigen und ein Klavier, dessen Ton an ein Spinett erinnerte. Walter lauschte. Ganz eigenartig berührte ihn dieser streng ineinandergeschlungene Doppelklang. Wie zwei Stimmen war's, die sich Unerschöpfliches zu sagen hatten, immer das gleiche, doch immer klarer, immer eindringlicher, bis sie mit einer ruhig ausklingenden Note einander zu bekennen schienen: Jetzt sind wir einig! – Eine Sonate von Bach.
Walter hatte die Glocke gezogen. Eine alte Frau mit einem nonnenhaften Leinwandhäubchen öffnete ihm. »Ja, mein hochwürdiger Bruder ist daheim.« Sie ging voran durch einen gewölbten Flur, dessen einziger Schmuck ein Kreuzbild in Überlebensgröße war: ein schön geschnitzter Jünglingskörper, ohne Farbe, nur im warmen Braun des alten Holzes. Das sanfte Duldergesicht war nach der Tür gewendet, als möchte es jedem Eintretenden in die Seele blicken. Über eine ausgetretene Holztreppe ging's in den oberen Stock hinauf. Hier waren die Wände des Korridors mit Bücherschränken bedeckt. Beim Fenster stand ein Blumentisch mit blühenden Geranien. Aus einer Stube hörte Walter eine plaudernde Mädchenstimme. Er atmete auf, als hätte ihn etwas bedrückt und als wäre ihm plötzlich leichter ums Herz geworden. Die alte Frau pochte leis an die Tür. Der Pfarrer guckte heraus, im Haustalar und mit dem Käppl, die Flöte unter dem Arm. »Oooh?« Er schien sich vor Staunen kaum zu fassen. »Sie? Im Pfarrhof? Aber bitte, kommen Sie herein!«
Als Walter in die Stube trat, erhob sich Mathild von dem Sessel, der vor einem altmodischen Stutzflügel stand. Leichte Röte war ihr über die Wangen geglitten. Sie sah aus, als wäre sie ein bißchen erschrocken.
Walter begrüßte den Pfarrer. »Ich fürchte, Hochwürden, daß ich störe?«
»Nein, Herr Doktor! Wir sind gerade fertig geworden. Gelt, Thildele?«
»Ja, Hochwürden!« Sie schloß das Notenheft auf dem Pult des Flügels. Walter reichte ihr die Hand: »Das ist mir lieb, Fräulein, daß ich Sie hier finde. Da müssen Sie mir bei einer Bitte helfen.«
Der Pfarrer legte die Flöte fort, rückte für Walter einen Sessel vor den Tisch und setzte sich ihm gegenüber, während Mathild ihren Platz beim Flügel wieder einnahm. »Also? Schießen S' los, Herr Doktor!«
»Ich soll Ihre Zustimmung erwirken, daß eine Theatergesellschaft, die heut in Langental eingetroffen ist, Vorstellungen geben darf.«
Befremdet sah ihn Mathild an, während der Pfarrer erwiderte: »Da hab ich nichts zu erlauben und nichts zu verbieten. Wenn der Wirt ihnen den Saal gibt, und wenn die Leute ihre behördliche Konzession haben?«
»Die haben sie, Hochwürden.«
»Dann ist die Sache in Ordnung.«
»Doch nicht, Herr Pfarrer! Kaplan Innerebner hat den Versuch gemacht, die Leute aus dem Dorf zu weisen.«
»Mein Kaplan? Warum denn?«
»Aus Sorge um das Seelenheil der Pfarrkinder.«
»Ach Gott!« Der Pfarrer trommelte mit den Fingern auf den Tisch, als hätte er die Klappen seiner Flöte für ein Allegro unter den Händen.
Walter erzählte, was sich vor dem Wirtshaus abgespielt hatte. »Der Herr Kaplan hat das Feuer seines Zornes geschwungen, als hätte er mit dem Flammenschwert die Pforten des Paradieses zu verteidigen. Schließlich drohte er den Leuten mit der Gendarmerie.«
Der Hochwürdige rückte nervös das Käppl hin und her. »So ein Hitzköpfl, so ein unverbesserliches! Hundertmal hab ich ihm schon gesagt –« Er unterbrach sich und seufzte. »Der Innerebner meint es immer aufrichtig und hätte das Zeug zu einem guten Priester, wenn – no ja, wenn er sich halt das Leben ein bißl ruhiger anschauen möcht. Priester sein! Das heißt doch vor allem: Mensch sein! Aber da schicken sie uns die jungen Leut aus dem Seminar heraus, daß man nimmer weiß, wie man Menschen aus ihnen machen soll.«
Walter nickte. »Ja, Hochwürden! Mensch sein? Das lernt man nicht im Seminar.«
Der Pfarrer guckte ihn von der Seite an. »Freilich, da haben Sie ein bisserl Erfahrung, gelt?«
Walter stand auf. »Hochwürden wissen?«
In Unbehagen rückte der Pfarrer wieder das Käppl. »Wär gescheiter gewesen, ich hätt das unvorsichtige Wörtl für mich behalten. Na also! Gestern hab ich nicht kommen wollen, um jeder Kontroverse aus dem Weg zu gehen. Jetzt hab ich den Disput im eignen Haus.« Er erhob sich. Mathild trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf den Arm. »Nur ruhig, Thildele! Die Nasen werden wir uns nicht aus dem Gesicht reißen.« Der Pfarrer nahm die Flöte vom Tisch, als wäre sie da nicht mehr sicher, und legte sie in die Fensternische. »Natürlich weiß ich! Der Innerebner ist doch im Seminar Ihr Pultnachbar gewesen. Wie er Sie neulich vom Hohen Schein hat herkommen sehen, hat er mir die Neuigkeit brühwarm zugetragen.«
»Er hat mich gesehen? Ich dachte, er wäre so vertieft in sein Brevier –« Es zuckte um Walters Mund. »Eigentlich hätt ich mir das gestern schon denken müssen. Bei aller Freundlichkeit, mit der Sie zu mir sprachen, hatte ich doch das Gefühl: aus diesem Manne redet eine Scheu vor dir, ein unbehagliches Widerstreben.«
»Nein, Herr Doktor! Das heißt, ja, die Scheu ist dagewesen. Aber die Geschichte vom Moosjäger hat sie mir genommen. Die kenn ich auch. Und was ich gestern meinem Freund Ehrenreich gesagt habe, das kann ich Ihnen auch ins Gesicht sagen. Ich habe gesagt –«
»Hochwürden!« stammelte Mathild.
»Ich habe gesagt, daß ich nichts Schlechtes von Ihnen weiß, aber daß ich ein bisserl mißtrauisch bin gegen Menschen, die gar so leicht von einem ernsten Lebensweg abspringen.«
Walter war bleich geworden. »Sie werden mir das Recht nicht verwehren, daß ich mich verteidige.«
Mathild, in Erregung, hatte das Notenheft vom Pult genommen. »Ich muß nach Hause.«
»Fräulein, ich bitte Sie, zu bleiben!« Walter nahm ihre Hand. »Und bitte Sie, mitanzuhören, was ich dem Herrn Pfarrer zu sagen habe.«
Forschend betrachtete der Pfarrer Mathilds Gesicht. »Er hat recht, Thildele! Wenn du bleibst, werden wir leichter miteinander reden, wenigstens ruhiger.« Da fing die Zwölfuhrglocke zu läuten an.
»Um meine Ruhe, Hochwürden, brauchen Sie nicht besorgt zu sein.«
»Pardon, Herr Doktor, es läutet!« unterbrach der Pfarrer freundlich. »Ich bin Geistlicher, und das ist der Pfarrhof!« Er bekreuzte sich und nahm das Käppl ab. »Gott in seiner Liebe hat uns wieder einen schönen Tag gegeben. Dafür wollen wir ihm danken.«
Es war still in der Stube. Die Glockentöne pochten wie mit leisen Händen an die Fensterscheiben.
Erregt betrachtete Walter den greisen Pfarrer. Dann irrten seine Augen durch die bescheidene Stube hin, die außer dem Flügel und einem schön geschnitzten Notenpult nur das einfachste Gerät enthielt. An den bläulich getünchten Wänden hingen alte Kupferstiche nach Raffael, Fra Angelico und Carlo Dolci, in billigen, vor Alter glanzlos gewordenen Goldleisten. Über dem Tisch ein schwarzes Kruzifix mit welkenden Palmzweigen. Warm fiel die Sonne durch alle Fenster.
Die Glocke schwieg. Sich bekreuzend, setzte der Pfarrer das Käppl wieder auf. »Bitte, Herr Doktor, nehmen Sie Platz! Und du, Thildele, setz dich zu mir!«
Er rückte hinter dem Tisch in die Holzbank und zog das Mädchen an seine Seite. Ein paar Sekunden saßen die drei sich schweigend gegenüber. Walter schien nach dem ersten Wort zu suchen. »Hochwürden! Diese paar Tage, seit ich hier bin, haben mir wohlgetan. Was sie in mir geweckt haben, möcht ich mir nicht mehr nehmen lassen. Ich möchte Bleiben. Bei Menschen, in deren Nähe ich mich wohlfühle. Auch in Ihrer Nähe, Hochwürden! Deshalb sollen Sie mich nicht verkennen, sondern klar in mein Leben sehen. Nicht aus Leichtsinn hab ich den Weg verlassen, auf den ich seit meiner Kindheit gestellt war. Ich habe schwer gekämpft. Und habe keinen Treubruch begangen, sondern als ehrlicher Mensch gehandelt, als ich einen Beruf verließ, der sich mit meinen Anschauungen nicht mehr vertrug und zu dem ich gezwungen wurde.«
»Gezwungen?« Der Pfarrer hatte eine Furche auf der Stirn. »Durch einen Wunsch Ihrer Eltern?«
»Das weiß ich nicht. Mein Vater war schon tot, als es in mich hineingelegt wurde, daß ich fürs Leben keinen anderen Weg hätte. An meinen Vater, wie er als Lebender war, erinnere ich mich kaum. Er hatte ein Waldgut in Niederbayern und war schon ein Vierziger, als er eine junge, schöne Frau nahm. – Wenn andere Menschen an ihre Kindheit zurückdenken, sehen sie das Gesicht der Mutter. Ich sehe das Gesicht einer Magd. Die Mutter war immer, ich weiß nicht wo. Der Vater hatte den ganzen Tag zu tun. Am Abend kam er in meine Stube, ließ mich auf dem Knie reiten und schupste mich in die Luft, daß ich Angst hatte, mit dem Kopf an die Decke zu stoßen. Ich kann mich erinnern, daß er immer fragte: »Ist die Gnädige schon daheim?« Wenn die Magd den Kopf schüttelte, ging er auf der Stube und schlug die Tür zu. Oft in der Nacht hörte ich auf dem anstoßenden Zimmer seine zornige Stimme. Wenn am Morgen die Mutter zu mir in die Stube kam, war sie bleich, und ihre Augen hatten keinen guten Blick. Ich kann mich nicht erinnern, daß sie mich je in ihre Arme genommen oder mich geküßt hätte. Das hat nur die alte Magd getan.«
Mathild machte eine Bewegung, als möchte sie über den Tisch hinübergreifen, um Walters Hand zu fassen. Und der Pfarrer sagte bewegt: »Ihnen hat das Leben das Beste genommen, was es geben kann: eine frohe Kinderzeit.«
»Mit sieben Jahren schickte man mich in die Schule. Im Sommer einmal, als ich heimkam, war ein Haufe schreiender Leute in unserem Garten. Auf dem weißen Kiesweg lag mein Vater, den sie aus dem Wald gebracht hatten. Unter dem braunen Bart rann ihm das Blut über den Hals, eine Falte war auf seiner Stirn, und die Augen sahen starr zum Himmel hinauf. So seh ich meinen Vater seit zwanzig Jahren, wenn ich mich an ihn erinnere.«
Mathilds Gesicht war von Schreck verstört.
»Ein Unglück, hieß es. Ein Unglück auf der Jagd. Dann trug meine Mutter ein schwarzes Kleid. Jeden Morgen ging sie zur Kirche. Und jeden Nachmittag kam der Benefiziat in unser Haus. Er hatte einen Schritt. den man nicht hörte. Plötzlich stand er vor einem da. Und Augen hatte er, daß ich zittern mußte. Sooft er kam, legte er mir die Hand aufs Haar und sagte: Bete, mein Kind! Bete! Bete!«
Der Pfarrer wurde nervös.
»Im Herbst verreiste meine Mutter. Mich gab sie dem Benefiziaten ins Haus. Das lag in einem verwilderten Garten, ein unheimliches Gebäude, das vierzehn Zimmer hatte, von denen nur fünf zum Wohnen eingerichtet waren. Die anderen standen leer. Da hörte ich als kleiner Junge immer Gespenster in der Nacht. Es waren die Mäuse. Die Schule durfte ich nicht mehr besuchen, der Benefiziat unterrichtete mich. Er predigte mir einen Gott, dessen Bild mich in der Nacht nicht schlafen ließ. Immer stand es im Finstern vor meinem Bett, mit hartem Gesicht, mit Augen, die den gleichen Blick hatten wie die Augen des Benefiziaten.«
»Thildele«, sagte der Pfarrer, »da kann ich nimmer sitzenbleiben!« Er schob sich aus der Bank und wanderte durch die Stube. Mathild blieb stehen, mit dem Rücken gegen das Fenster, das Haar von dem Sonnenstrahl umleuchtet, der durch die Scheiben fiel. »Und Ihre Mutter?« fragte sie mit erloschener Stimme.
»Die war auf Reisen. Immer. Der Benefiziat sagte: auf der Wallfahrt, um Gott zu versöhnen! Als ich ein dreizehnjähriger Bub war, wußte ich schon, daß ich meiner Mutter helfen und Gott mein Leben opfern müßte. Warum? Das begriff ich nicht. Verschüchtert ließ ich alles mit mir geschehen. Und lernte. Um Gott zu versöhnen! Jeden Morgen und Abend, Sommer und Winter, durfte ich viermal um den großen Garten herumgehen. Hatte ich ein schlechtes Pensum gemacht, so wurde mir diese ›Ablenkung‹ entzogen, und ich wurde zur Strafe in ein leeres Zimmer gesperrt. Da stand ich am Fenster, in meinem Herzen immer die Frage: Wie weit ist Gott von mir? Wenn ich in der Nacht nicht schlafen konnte und stundenlang hinaufsah zu den Sternen, fing ich an, die Grillen der Welt zu kitzeln wie die Lies auf dem Hohen Schein. Niemand sagte mir ein Wort von den Wundern, die unser Leben umringen. Wenn ich mich mit einer scheuen Frage an meinen Lehrer wandte, schnauzte er mich an: Du dummer Bub, schau in den Katechismns, da steht alles drin.«
»Das ist nicht nur ein schlechter Mensch gewesen«, platzte der Pfarrer heraus, »sondern auch ein Esel! Im Katechismus steht gar nichts!« Da erschrak er über das eigene Wort. »Ich wollte sagen: das sind nur Buchstaben. Der Geist, der sie lebendig macht, muß in unseren Herzen erwachen.«
»In mir erwachte er nicht. Weil ihn niemand weckte. Zwölf Jahre bin ich in diesem Haus geblieben. Und habe fleißig im Katechismus gelesen, so lange, bis mein bohrender Knabenverstand die Löcher zwischen den Zeilen sah. Für den Beruf, zu dem ich erzogen wurde, war ich schon verloren, als ich das Hans des Benefiziaten verließ, um ins Seminar zu übersiedeln.«
»Das ist ja kein Wunder!« In Erregung ging der Pfarrer auf Walter zu und faßte ihn an den Schultern. »Was an Ihnen verbrochen wurde, hat nichts mit Gott zu tun, nichts mit der Kirche. Das geht nur auf Rechnung des dummen Menschen, in dessen Hände Sie gefallen sind.«
»Ja, Hochwürden! Das hab ich mir selbst gesagt, als ich von ihm erlöst war. Ich hatte den redlichen Willen, alles wieder aufzubauen, was er in mir zerschlagen hatte. Jeden Zweifel begann ich mit Gewalt zu ersticken, meine dürstende Seele brannte der Erkenntnis Gottes wie ein reines Opfer entgegen, und mit heißer Süßigkeit erwachte in mir der Traum: ein Priester zu werden, nach dem die Leidenden ihre zuckenden Hände strecken, ein Priester, der jedem Schmerz der Menschen die Liebe Gottes predigt.«
Der Pfarrer nickte. Seine Augen sahen ins Leere, wie die Erinnerung ins Vergangene blickt.
»Meine Begeisterung weckte den Spott der Alumnen, das Mißtrauen meiner Lehrer. Statt mich zu stützen, sahen sie eine Gefahr in mir. Meiner brennenden Sehnsucht stellten sie die kalte Formel gegenüber, und meine dürstende Begeisterung wollten sie zu dem verständigen Handwerk abdämpfen, das ich sie aus dem Glauben machen sah. Dagegen sträubte sich alles in mir –«
»Handwerk?« unterbrach der Pfarrer mit einem Seufzer. »Lieber, junger Freund! Jeder von uns, der es ehrlich meint, hat in seiner Jugend einmal den schönen Traum vom weißgeflügelten Priestertum gehabt. Aber schließlich kommt man zur Erkenntnis, daß es ganz ohne Handwerk mit dem besten Willen nicht abgeht. Ein galanter Stadtpfarrer, aaah, freilich! Wenn da die eleganten, seidenrauschigen Weiberln kommen! Je poetischer ein Wörtl ist, um so lieber schlucken sie's. Aber ein Landpfarrer und seine Bauern? Och, du lieber Herrgott! Da möcht man weit kommen mit der idealen Theosophie! Bei den Bauern muß der Herrgott den Blitz biegen, aufs Vieh schauen und den blauen Mantel unter die Hagelwolken halten. Sonst glauben s' net. Ja, fragen Sie nur das liebe Mädel da! Die hat mir schon hundertmal geholfen, als Pfarrer mein Handwerk treiben.«
»Hochwürden«, stammelte Mathild, »wie können Sie nur jetzt an mich denken?«
»Ja! Wie oft schon hab ich, wörtlich und bildlich gesprochen, von einem ungeduldigen Kranken ein Herrgottsackerment ums andere anhören müssen! Mach ich's aber wie du und komm mit dem Körbl voll Gotteslieb, die dem schwachen Krankenmagen schön wohltut, da heißt's nachher gleich: ›Herrgott, sei Lob und Dank!‹ Man muß den Leuten den Gott predigen, den ihre Herzen fassen können. Das versteh ich unter priesterlichem Handwerk. Schwitzt der Bauer in seiner Müh, so muß ich sagen: Gottes Lieb ist ein frischer Trunk. Wenn er friert, muß es heißen: Gottes Lieb ist ein warmer Pelz. Ob man das so oder so macht, das ist gleichgültig. Hauptsach ist, daß man den Menschen für jeden Kummer ein Tröpfl warmer Hoffnung in die Herzen gießt. Und was ich da unser Handwerk nenne, das ist auch für uns Geistliche selber eine gute Sache. Das hilft über zwecklose Skrupel hinüber. Ich bin ein gläubiger Priester. Aber wenn ich nur immer predigen dürft, was in mir zum unanfechtbaren Satz geworden ist? Och, du lieber Herrgott! Da käm ich manchmal schön in Verlegenheit. Ich glaub an Gott und dien ihm nach besten Kräften. Aber Gott begreifen wollen und das komplizierte Wunder seiner Schöpfung bis aufs Tipserl erklären?« Der Pfarrer schüttelte den grauen Kopf. »Vielleicht haben Sie schon bemerkt, daß ich große Stücke auf die Musik halte? Und wenn ich mit dem Thildele musizier, und es kommt da so ein Klang, der mir zutiefst hineinredet ins Herz? Hab ich da schon alles erklärt, wenn ich sag: das Thildele drückt mit den Fingern auf die Tasten hin und der alte Pfarrer Christian Schnerfer bläst sein bisserl Atem in das hölzerne Röhrl? Und wenn ich aus dem Konversationslexikon herauslese, wieviel Schwingungen der Ton in der Sekunde macht, sagt mir das etwas über seine lebendige Seele? Nein, Doktor! Aber wenn mir bei einer schönen Harmonie das Herz zittert, daß mir bei allen Sorgen meines alten Lebens leicht und wohl zumut ist, dann spür ich's in mir: das ist ein Klang auf Gottes großer Harfe! Und diese Erkenntnis meines Herzens macht mich dankbar, gläubig und fromm!«
Walter sah mit herzlichem Blick zu dem greisen Priester auf. »Hätte im Streit meiner traurigen Jugend nur ein einziger meiner Lehrer so zu mir geredet, so trüge ich heut den Priesterrock und würde ihm keine Unehr machen. Niemand erleichterte mir den Kampf, alle erschwerten ihn mir nur. Zu allem Streit meiner Seele kam noch ein anderer Kampf. Den auch das Seminar in mir weckte. Und der meine Natur empörte und mich halb von Sinnen brachte!« Er verstummte, mit einem scheuen Blick auf Mathild. Dann sagte er hart: »Sie verstehen wohl, Hochwürden? Das kann auch an Ihrer Jugend nicht mit verhülltem Gesicht vorübergegangen sein.« – Wortlos sah der Pfarrer durch das Fenster in den schönen Tag hinaus.
»Mir half darüber ein Gefühl hinweg, das die Nachricht vom Tod meiner Mutter in mir wachrief. Sie war auf der Reise gestorben, auf einer Wallfahrt nach Loretto. Ich hatte sie drei Jahre nicht mehr gesehen. Jenes letztemal stand sie vor mir in schwarzer Seide, eine fremde Dame, von der ich nicht begriff, warum ich Mutter zu ihr sagen sollte. Jetzt, da ich sie verloren hatte, verwandelte sich ihr Bild. Mit dürstender Sehnsucht nach Zärtlichkeit begann ich in ihr die Mutter zu lieben, die sie mir nie gewesen. Keine Nacht verging, in der ich nicht träumte, daß ihre schönen Augen in Liebe auf mir ruhten, und daß sie mich in ihre Arme nahm und küßte.« Walter schwieg eine Weile. »Da kam es, daß ich die erste Weihe empfangen sollte. In aller Ehrlichkeit meines gequälten Herzens bin ich zum Rektor gegangen und bat ihn, mir Zeit zu lassen. Ich wäre der Weihe noch nicht würdig.«
»Und der Rektor?«
»Der gab mir zur Antwort: daß die Schlange des abtrünnigen Geistes in mir groß gewachsen wäre, und daß er die Pflicht hätte, ihr den Kopf zu zertreten. Deshalb müßte er mir sagen, was man aus Barmherzigkeit bisher verschwiegen hätte: daß eine heilige Pflicht der Sühne auf mich gelegt wäre, um Gott den büßenden Seelen meiner Eltern gnädig zu stimmen. Der Tod meines Vaters wäre ein Selbstmord gewesen, zu dem die Untreue meiner Mutter ihn getrieben.«
»Hochwürden!« stammelte Mathild. »Darf es denn Menschen geben, die einem Kind das sagen können?«
Der Pfarrer wehrte: »Thildele, laß mich in Ruh!« Er machte mit rotem Kopf einen Marsch durch die Stube. »Sonst kommst du mir allweil mit deinem Goethe! In dem alles drinsteht! Also! Jetzt such dir so ein Sprüchl auf, das auf alle Katzensprüng im Leben paßt.« Ein wenig ruhiger geworden, blieb er vor Walter stehen. »Und Sie, Herr Doktor? Was haben Sie ihm gesagt?«
»Kein Wort. In der Nacht bin ich durch ein Fenster auf die Straße gesprungen. Alles leer in mir! Hilflos stand ich im Trubel einer Welt, die ich nie gesehen. Es trieb mich heim, zu dem Fleck Erde hin, aus dem mein Vater verblutet war. Haus und Gut war verkauft, alles zu Geld gemacht. Daß ich mit dem Benefiziaten, der mein Vormuud war, einen Prozeß um mein Erbe führen mußte, das gab mir halb die Ruhe wieder und stimmte mich seltsam heiter. An eine Zukunft dachte ich nicht. Nur wissen wollte ich, verstehen: die Menschen, das Leben, Gott, die Welt! Ich begann zu arbeiten. Die Jahre vergingen, ich weiß nicht wie. Die Religion hatte versagt, ich suchte Hilfe bei der Philosophie und fand nur das tanzende Wort, nur die Nomenklatur des Unerklärlichen. Seit Plato ist durch die Philosophie kein neuer Gedanke in die Menschheit gekommen, wenigstens kein tröstender. Als ich das erkannte, suchte ich Rettung bei den Naturwissenschaften. Die haben Fortschritte gemacht. Aber für die Lösung der letzten Fragen haben auch sie die Erkenntnissehnsucht der Menschen um keinen Schritt weitergebracht. Immer wieder die unübersteigliche Mauer, der undurchdringliche Schleier! Immer das gleiche Schweigen auf unsere schreienden Fragen: Gott, wo bist du? Was ist dein Wille? Wie wirkt deine Kraft? Was ist die Welt? Ist sie ein Totes, das ewig dauert? Oder ein Lebendiges, das geboren wurde und sterben muß? Und im Herzen dieses Riesen, wie ein rollendes Tröpflein Blut, unser kleines schleichendes Leben? Was ist das? Wie entstand es? Warum? Welchen Zweck hat unser Leben? Das erforschen und begreifen zu wollen? Nutzlose Mühe!«
»Und alles Wunder hinnehmen, wie es vom Schöpfer gegeben ist?« Dem Pfarrer zitterte die Stimme. »Und an einen großen und guten Gott glauben, der uns in Weisheit die Wege seines Willens verhüllt? Ist das nicht leichter?«
Walter schüttelte den Kopf. »Das ist so schwer wie das andere.«
»Aber tröstlicher! Und was wollen die Philosophen? Ihre Neugier still machen, die Ruhe fürs Leben finden, das Gleichgewicht für ihre Seele. Hat das einer schon erreicht? Steht da ein Mensch mit gläubigem Herzen, der ruhig in die Finsternis und froh in die Sonne schaut, nicht höher als der größte Philosoph?«
»Sie mögen recht haben!« sagte Walter mit bitterem Lächeln. »Aber die Kirche lehrt, daß der Glaube eine Gnade ist, die von oben kommt. Mir kam sie nicht. Und die Wege, die ich aus eigener Kraft gegangen, führten meinen Durst zu keiner Quelle, aus der sich's trinken ließ. Die Luft meiner vier Wände hat mir übel gemacht. Jetzt will ich Sonne haben, freie Luft und weite Wälder. Sonst nichts. Ich fühle, daß der Weg, den ich eingeschlagen habe, ein guter ist. Mehr als aus hundert Büchern hab ich heut von einer Mücke gelernt.« Er erhob sich und fand ein Lächeln. »Ich will nützen, wo ich es vermag, und will meinem kommenden Leben redlich entgegenwandern. Einer, der nie betrügt, kann nie betrogen werden. Und kann ich leben ohne Furcht, so ist mein Leben ohne Gefahr.«
Der Pfarrer legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich will nicht prophezeien, lieber Doktor! Aber der ringende Christ, der in Ihnen steckt, wird noch seine Kirche finden. Redlich sein, ist der sicherste Weg zu Gott. Und Sie sind ein redlicher Mensch. Ich bekenne gern, daß ich Ihnen Unrecht getan habe. Jetzt wollen wir uns als gute Freunde Grüßgott sagen! Gelt?«
»Ich danke Ihnen, Hochwürden!«
»Daß ich Ihnen die Bitte nicht abschlage, die Sie in mein Haus geführt hat, ist selbstverständlich. Wenn Sie eine Minute warten wollen, schreib ich an den Bürgermeister.« Der Pfarrer ging in das anstoßende Zimmer.
Nach ein paar schweigsamen Sekunden trat Mathild auf Walter zu und streckte ihm die Hände hin. Ihre Wangen brannten.
»Fräulein?« Es leuchtete wie frohe Dankbarkeit in seinem Blick.
»Was ich Ihnen aus mir selber sagen könnte, ist mir nicht genug. Ich will Ihnen etwas Besseres sagen, weil mich vorhin der Pfarrer an ihn erinnerte –«
»Goethe?«
Sie nickte. »In einem seiner Briefe ist eine Stelle, wörtlich weiß ich sie nicht, nur den Sinn: daß unser Leben den Sibyllinischen Büchern gleicht, es wird immer kostbarer, je weniger davon übrig bleibt.« Ihre Stimme war ruhig geworden. »Und noch ein anderes von seinen großen Worten, vielleicht sein größtes, wie Papa immer sagt –«
»Welches?«
»Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst.«
Er atmete tief. »Ein Wort wie eine Offenbarung! Es verrät mir erst, was Sie mit dem andern sagen wollten. Ich danke Ihnen!« Wieder, wie in der Nacht beim Brunnen, legte er ihre Hand an seine Wange. »Fräulein Mathild? Soll auch ich Ihnen sagen, was ich mir denke? Jetzt?«
Mathild schwieg.
»Ich denke mir, daß ich eine Schwester habe, eine liebe, gute, kluge Schwester.«
Da trat der Pfarrer in die Stube, mit einem Blatt, das er schwenkte, um die Schrift zu trocknen. »So, lieber Doktor, das brauchen die Schauspieler nur beim Sonnweber vorzuweisen. Ich bin zwar selber kein besonderer Freund von solchen Theatersachen. Aber um Ihnen gefällig zu sein – und schließlich glaub ich, daß eine besoffene Kirchweih die Bauern mehr verdirbt als ein Dutzend Theaterstücke, und wenn's auch keine guten wären.«
Walter nahm seinen Hut. »Die Leute haben mir versichert, daß sie es als ihre Aufgabe betrachten, im Volk den Sinn für das Schöne zu wecken. Für das Volk wäre ihnen das Beste gerade gut genug.«
»Das Beste?« fragte Mathild.
»Ich wett«, sagte der Pfarrer lächelnd, »das Thildele meint jetzt: dann müßten sie Goethe spielen. Aber der Faust und meine Bauern! Och, du lieber Herrgott! Das wär mir das Wahre! Und Ihren guten Glauben in Ehren, lieber Doktor, aber da haben Sie sich doch ein bisserl anplauschen lassen.«
»Die Leute machen einen guten Eindruck.«
»Also! Meintwegen! Mit dem Innerebner wird's freilich einen Krawall absetzen.« Der Pfarrer seufzte. »Den muß das Leben einmal fest bei der Nasen packen, daß im Kaplan der Mensch lebendig wird!« Er reichte Walter die Hand. »Adieu, mein lieber Herr Amtsbruder a. D.!«
Walter lachte. Auch der Hochwürdige lachte mit; doch als sich die Tür hinter Walter geschlossen hatte, wurde der Pfarrer ernst. »Das Leben! Und die Leut! Thildele, jetzt muß ich ein bisserl Musik hören. Hast du noch ein Viertelstündl Zeit für das Largo?«
»Ja, Hochwürden!« Sie ging zum Flügel.
Der Pfarrer holte seine Flöte und setzte sich vor das Pult. An den Klappen fingernd, sah er nachdenklich vor sich hin. »Das ist ein braver Mensch. Daß er durch eine solche Vergangenheit nicht verdorben wurde, ist ein starker Beweis für ihn. Freilich vor dem Leben steht er jetzt da, wie ein junger Dackel vor der ersten Suppenschüssel. Der wird sich den Schnabel schön verbrennen. Geb's Gott, daß er bald eine feste Hand findet, die ihn ans Bandl nimmt!« Aufatmend hob er die Flöte. »Also, Thildele! Das Tempo nur recht ruhig, gelt!« Die Saiten des altväterischen Flügels begannen zu schwirren, mit einem Klang, der an das Geflüster einer Äolsharfe erinnerte. Und zärtlich sang die Flöte, mit feinem Ton.