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Frau Rosl deckte im Obstgarten der Sägmühle den Kaffeetisch. Weil der Nachmittag so schwül war, hatte sie das beste Schattenplätzchen unter einem alten Nußbaum ausgewählt. Wie hübsch das war: im Grün die zinnoberroten Weidenstühle um den weiß gedeckten Tisch, und die goldgeblümten Tassen um den großen Gugelhupf, dem ein rotes Nelkenbüschel aus dem knusperigen Herzen wuchs. Auch Frau Rosl hatte sich schmuck gemacht. Dem Wetter schien sie nicht recht zu trauen und guckte immer wieder nach dem Himmel, an dem eine Kolonne weiß und grau geballter Wolken von Westen heraufmarschierte. Als sie wieder einmal nach dem Mantel des heiligen Petrus spähte, schlossen ihr zwei Hände die Augen. Lange zu raten brauchte sie nicht. Und geduldig ließ sie sich küssen. Dann schalt sie: »Geh, du Schweinbartl, machst mich ja voller Sägstaub!«
Bertl, der im Arbeitskleid aus der Mühle gekommen war, sagte lachend: »Hättst mich Inschenier werden lassen! Da tät dich der Sägstaub net plagen.«
Frau Rosl zog die Brauen zusammen. »Zieh dich an! Sie müssen bald kommen.«
»Ist der Bub schon fertig? Heut will ich Staat machen mit unserem Prinzen.«
Das Gesicht der Frau Rosl sonnte sich auf. »Ja, ja, du Affenpaperl! Daß der Bub bei dir allweil ausschauen muß wie ein Wurstel! Mir gfallt er um so besser, wie weniger als er anhat!«
»Natürlich, da merkst du halt, daß er dem ›Vatter‹ gleichschaut!« Lachend sprang der Sägmüller ins Haus hinüber, und Frau Rosl, ein bißchen rot geworden, sah ihm nach, mit dem glänzenden Blick eines bis zur Schwäche verliebten Weibchens.
Der Wind machte in den Kronen der Obstbäume die Blätter schwatzen. Dazu rauschte der Mühlbach, und das Brummen der Turbine mischte sich mit dem summenden Ton der Kreissäge. Vom Garten sah man die Sägmühle nicht. Das hübsche Wohnhaus verdeckte sie, und die Bäume halfen mit. Auch andere Häuser waren nicht zu sehen, nur die Waldgehänge der Berge. Der Besitz des Sägmüllers lag abseits vom Dorfe, in einem Seitental, durch das ein reichlich strömender Bergbach von den Schneekaren niederrauschte. Besser hätte ein Haus nicht liegen können, um den lachenden Frieden eines jungen Glückes zu beherbergen, ferne von allem Staub des Lebens.
Dunkel huschten die Wolkenschatten über den Garten hin. Dazwischen lachte wieder die Sonne. Nun erschienen die ersten Gäste: der Forstmeister in seinem Rollsessel und Mathild, die das gleiche Kleid trug wie am Sonntag. Frau Rosl kam gelaufen. »Wo is denn der Herr Dokter?«
Der Forstmeister lachte. »Auf dem Ohrwaschl liegt er.«
»Was? Am hellen Tag?«
»Er ist um drei in der Früh schon aufgestanden«, sagte Mathild, »ist mit dem Bonifaz mähen gegangen und hat bis ein Uhr mitgeheut. Da hab ich ihm geraten, er soll sich ein bißchen ausruhen.«
»Wenn er aber jetzt verschlaft?«
»Ich hab dem Walperl gesagt, sie soll ihn noch ein Stündl ruhen lassen und dann soll sie ihn wecken.«
»Thildele?« Frau Rosl machte verwunderte Augen. »Was ist denn mit dir?«
»Mit mir?«
»Ich weiß net, allweil anschaun muß ich dich.«
»Da hörst du's jetzt von der Rosl auch!« sagte der alte Herr, während Mathild aus der Ledertasche am Rollsessel die Zeitungen und das Zigarrenetui des Vaters herauskramte. »Meiner Seel, Geiß, ich hab dich im Verdacht, daß du heimlich einen Haupttreffer gemacht hast, mit dem du mich nächstens überraschen willst.«
Mathild war verlegen geworden. »Da müßten wir doch erst ein Los haben.«
Der Forstmeister lachte. »Bei dem Herrgott, an den du glaubst, ist alles möglich, auch ein Treffer ohne Los.«
»Aber Thildele«, rief die Sägmüllerin, »schau doch, da ist er ja schon!« Sie meinte Walter, der in seinem neuen, kleidsamen Berglerstaat durch den Garten kam. »Brav, Herr Dokter! Ich hab schon Angst ghabt, Sie verschlafen meinen guten Kaffee. Aber fein schauen S' aus! Heut gfallen S' mir.«
»Also hab ich Ihnen früher nicht gefallen?« fragte Walter lachend. Und die anderen lachten mit, nur der alte Herr nicht, der überrascht zu Mathild aufsah. Mit leuchtenden Augen stand sie vor Walter, der ihr die Hand gereicht hatte. »Ja, Fräulein, ich glaube wirklich, daß ich den ganzen Nachmittag verschlafen hätte. Aber das Walperl hat an die Tür getrommelt: Auf, Herr Dokter, oder Sie versäumen schon wieder die Kirch!«
»Die Kirche?«
Walter antwortete nicht gleich. Noch immer hielt er Mathilds Hand in der seinen. Dann sagte er lächelnd: »Die Kirche! Ja! Und jetzt weiß ich auch, was das Walperl gemeint hat.«
Von der Haustür klang die lustige Stimme des Sägmüllers. »Grüß Gott, Herr Doktor! Jetzt passen S' auf, was da kommt!« Er brachte auf seinen Armen was Buntes getragen, rot und blau und weiß. Das zappelte und hatte zwei kleine Hände, mit denen es vergnügt auf Bertls Nase lospatschte.
»Unser Bub!« sagte Frau Rosl mit allem Glanz ihres Mutterstolzes.
Ein prächtiges Kerlchen war's, mit rosigem Gesicht und gescheiten Augen, das apfelrunde Köpfl von glattgesträhltem Haar umschwankt, »zum Fressen lieb«, wie Bertl ohne Übertreibung behaupten konnte, aber ausgeputzt wie das Äfflein auf dem Dromedar. Erst drei Jährchen alt, doch eins von jenen Kindern, deren Klugheit dem Taufschein voraus ist, und denen man es anmerkt, daß sich das ganze Haus um ihr kleines Leben dreht.
»Also, Fritzele, jetzt zeig, daß du ein braves Bubi bist! Gib schön das Handerl! Das ist der liebe Herr Doktor!«
Fritzele wollte nicht zeigen, daß es ein braves Bubi wäre, nur beweisen, daß es Verstand hätte. Drum gab es kein Handerl, sondern sperrte das Mäulchen auf, streckte das rote Züngl heraus und sagte: »Aaaa!« Darüber großer Jubel bei Mutter und Vater. Bertl strahlte über diesen Geniestreich seines Jungen und hielt es für notwendig, das Kerlchen über sein geistreiches Mißverständnis aufzuklären. Fritzele aber hatte schon den Gugelhupf gewahrt und ließ sich erst nach längerem Zureden davon überzeugen, daß ein Doktor der Philosophie ein anderes Entgegenkommen verdiene als ein Doktor »fürs Halserl«. Dann begann der lustige Sägmüller, mit dem Buben auf dem Schoß, die Litanei von Fritzeles geflügelten Worten. Immer, wenn solch eine Geschichte zur Pointe kam, hieß es: »Also, Bubi, jetzt sag schön, wie hast du gesagt?« Und Fritzele, mit den Augen beim Gugelhupf, gab die Antwort wie der Star sein Liedl, das er schon hundertmal gepfiffen. Ungeduldig begann der alte Herr mit den grünen Fäustlingen auf den Lehnen des Rollsessels zu trommeln. und schließlich fuhr's ihm heraus: »Na hör, Bub, so erzieht man doch ein Kind nicht, so dressiert man einen Dackel!«
Bertl nahm die Sache von der fidelen Seite. Frau Rosl aber bekam feuchte Augen und führte den Buben zu einem jungen, kaum siebzehnjährigen Mädel, das aus dem Haus gekommen war, ohne daß man die Nähe des stillen Geschöpfes bemerkt hatte. »Da, Nannerl, nimm ihn!«
Fritzele bewies sofort, daß unter seine Sklaven auch das Nannerl zu rechnen war – von jenen verschüchterten Menschenkindern eines, die nirgends heimisch werden, auch nicht in dem Haus, in das sie gehören. Nannerl war mit der Sägmüllerin verwandt, wenn auch ein paarmal um die Ecke, und Frau Rosl hatte die Waise zu sich ins Haus genommen. Ein feines, zartes Ding war's, ein wenig bleichsüchtig, mager und unbeholfen, beinahe eckig, jene Art, von der die ländlichen Schönheitskenner zu sagen pflegen: »An der is nix dran!« Aber ein Auge, das sich aus den Reiz der Knospe versteht, mußte mit Wohlgefallen auf dem Nannerl ruhen, auf diesem stillen Liliengesicht, um das sich das streng gescheitelte Schwarzhaar wie ein Paar geschlossener Rabenflügel herumlegte. Dazu diese blassen Veilchenaugen mit jenem sehnsüchtig verträumten Blick, der immer Märchen sieht und an Märchen glaubt.
Während die anderen neben dem Tisch heiter plauderten, hatte das Nannerl immer zu flüstern: »Bubi, sei brav! Kindele, das darf man net tun!« Um diese Strenge zu dämpfen, rief ihr Bertl ein ums andre Mal zu: »Geh, laß ihn doch!« Dann faßte er Walter unter den Arm und zog ihn mit sich fort, um die technischen Neuerungen von ihm bewundern zu lassen, die der »Inschenier a. D.« in der alten Sägmühle eingeführt hatte. Kaum waren die beiden verschwunden, da gab's am Tisch eine Katastrophe. Bubi wollte einen Porzellantopf, der neben dem Gugelhupf thronte, wissenschaftlich auf seinen Inhalt prüfen. Der Topf, der auf schwachen Füßen stand, machte bei Bubis energischem Angriff einen Purzelbaum und verkleckste die schwarze Zwetschgenmarmelade nach allen Seiten. Mit einem Jammerschrei holte Frau Rosl das Fritzele vom Tisch – der Forstmeister sagte ärgerlich: »Na, Gott sei Lob und Dank, jetzt wirst du dem Buben doch wenigstens das scheckige Pinschergwandl herunterziehen!« – und Mathild stellte lachend den Gugelhupf und die Tassen ins Gras, um das Tischtuch abnehmen zu können. Dann liefen sie ins Haus: Frau Rosl mit dem gesprenkelten Bubi, Mathild mit dem Tischtuch und Nannerl mit den Tränen ihrer bleichen Zerknirschung.
Der alte Herr ließ die Zeitung sinken und sah seiner Tochter nach, mit einem Blick, dessen sorgenvoller Ausdruck in keinem Verhältnis zu dem kleinen Unglück stand, das da passiert war. »Mädel, Mädel!« flüsterte er vor sich hin. »Was fangst du denn an! Mit deinem kostbaren Herzl!« Da hörte er Schritte hinter den Sträuchern des Zaunes. »Hochwürden?« rief er, weil er meinte, es wäre der Pfarrer. In einer Lücke des Gesträuches tauchte der schöne Apostelkopf des Bürgermeisters auf. Der alte Herr machte erregt eine Bewegung. »Sonnweber!«
»Guten Abend, Herr Ehrenreich!« grüßte der Mann mit seiner herzlichen Stimme und wollte weitergehen.
Dem Forstmeister fuhr das Blut in die Stirne. »Franzl, was ist denn? Kommen Sie doch her zu mir!« Sonnweber schien sich zu besinnen. Dann kam er, in den schönen Augen die deutliche Sprache eines Kummers. »Aber Franzl! Eine Ewigkeit sind Sie nicht mehr bei uns gewesen. Und neulich am Sonntag hat's ja geradezu den Anschein gehabt, als ob Sie mir ausweichen? Sagen Sie mir doch, was da los ist!«
»Muß ich's halt sagen! 's Fräulen hat mir verboten, daß ich noch a Wörtl red. Und 's Fräulein hat recht. Lieber alles andre, sagt s', als daß ihrem Vater am Gsund a Schaden gschieht. So a Kind! Respekt!«
Der Forstmeister klammerte die grünen Fäustlinge um die Lehnen des Sessels.
»Und schauen S', Herr Ehrenreich! Sie wissen, was ich drum gäb, wann ich Ihnen was nutzen kunnt! Aber allweil dasitzen vor Ihnen und sehen müssen, wie S' fragen mit die Augen, und kein Wörtl nimmer sagen dürfen, dös Ihnen helfen kunnt? Na, Herr Ehrenreich! Da is's gscheiter, ich bleib fort aus der Villa. So hart's mich ankommt! Grad jetzt!«
Lang schwieg der alte Herr. Dann fragte er mit zerdrückter Stimme: »Grad jetzt? Sonnweber? Hätten Sie denn was zu sagen?«
Der Bürgermeister trat dicht an den Rollsessel hin. »Der Niedernacher baut!«
»Baut?« wiederholte der Forstmeister mit einem Blick der Enttäuschung.
»Sein lumpetes Hüttl baut er um und stellt a richtigs Haus hm.«
»In Gottes Namen! Ich vergönn es ihm. Aber was soll das mit mir zu tun haben?«
»'s Bauen kostet Geld. Wo soll er's denn herhaben?«
Ein Ausdruck quälenden Unbehagens zeigte sich im Gesicht des alten Herrn. »Nein, Sonnweber! Der Niedernacher und sein Weib sind brave, fleißige Leute. Die werden sich das Geld eben erspart haben.«
»Freilich! Weil man sich beim Tagwerken so leicht a Haus derspart. Vor sieben Jahr is er in die Sorgen dringsteckt bis übern Hals. Und is er als Holzknecht net allbot bei Ihnen in der Kanzlei gwesen? Also! Kann er net kommen sein, am selbigen Abend, wie S' Ihnen grad um Enker Frauerl gsorgt haben? Und da kommt er mit seiner Not am Buckel, geht eini, kein Mensch is in der Kanzlei, die Tausender liegen am Tisch, und da schießt ihm d' Schlechtigkeit ein. Auf 's Tuifels Zureden macht er an Griff. Und wie er an Schnaufer hört im Haus, reißt er 's Fenster auf und springt aussi in d' Nacht. So kunnt's gwesen sein – denk ich mir halt.«
Dem Forstmeister zitterten die lahmen Glieder. »So muß es gewesen sein! Aber der Niedernacher? Nein, Sonnweber! Für den leg ich die Hand ins Feuer.«
»Daß er baut, dös macht mich sinnieren. Denn der, Herr, der's gwesen is, hat 's Geld lang in der Gheim ghalten, bis er sich aussitraut hat.« Er verstummte.
Das frische Tischtuch über dem Arm, stand Mathild vor den beiden. »Papa!« Kummer und Vorwurf sprachen aus ihrem Blick. Als sie sah, wie tief dieses Wort auf den Vater wirkte, schlang sie den Arm um seinen Hals und küßte ihn. Dann richtete sie sich auf. Der Zorn machte ihre Stimme hart. »Sonnweber! Lassen Sie meinen Vater in Ruh!«
»Jesusmaria!« Der Bürgermeister schien bis in den innersten Winkel seines redlichen Herzens gekränkt. »Jetzt geht der Verdruß noch an mir auf!«
»Ruhig, Sonnweber!« Der alte Herr winkte mit der verkrüppelten Hand. »Und du, Geiß, reg dich nicht auf! Er hat mir gesagt, daß du ihm das Reden verboten hast. Und ganz recht hast du. Jetzt seh ich es selber ein. Diese ewige Rederei um den alten Dreck herum, das hat keinen Sinn. Mich wirft es von einer Enttäuschung in die andere, dir macht es immer wieder das Herz schwer, und den anhänglichen, guten Menschen da verführt es zu jedem unmöglichen Verdacht gegen die brävsten Leute. Schluß! Kein Wort mehr, Sonnweber!«
»Gut!« Der Bürgermeister faßte den grünen Fäustling. »Wie Sie's haben wollen, soll's gschehen. Aber d' Augen halt ich offen. Amal macht's unser Herrgott halt doch noch recht. Da verlaßt mich der Glauben net.« Freundlich grüßte er und ging, während vom Haus herüber das Lachen des lustigen Sägmüllers und Walters heitere Stimme klang. Mathild atmete auf und warf einen Blick zum Haus hinüber, so erlösungsfroh, wie nach trüber Nacht ein bangendes Herz den heiteren Morgen grüßt. Ihr Vater sah diesen Blick, und in seinem Gesichte gruben sich die Furchen noch tiefer. »Geiß!« Sie trat zu ihm. Da sagte er wie ein Kind, das Kummer hat und geschmeichelt sein will: »Nimm mich ein bißl um den Hals!« Sie umschlang ihn und schmiegte die Wange an seine Stirn. Tief atmend schloß er die Augen. Dann schob er die Tochter von sich. »Du mußt den Tisch noch richten. Er kommt.«
Mit erschrockenem Blick sah Mathild den Vater an. »Es kommen doch alle!« sagte sie verwirrt.
Der Vater nickte ihr mit halbem Lachen zu. »Natürlich! Alle! Und die Rosl fährt auch schon mit dem Heuwagen auf.« Er meinte die Jausenplatte, die gebracht wurde. Eine ganze Stadt von Kannen und Kännchen war da aufgebaut, von Dosen und Brotkörben, Butterschalen und Obsttellern. Während Frau Rosl der Magd alles abnahm und den Tisch befrachtete, schalt sie über die Verspätung des Pfarrers. »Alle Freundschaft in Ehren, aber wenn der Kaffee altbachen wird, da hört sich 's Warten auf!«
»Was er nur haben muß, daß er net kommt?« sagte Bertl. »Dem muß rein an seinem Blasröhrl eine Klappen brochen sein. Das wär a Unglück, das ihn zruckhalten könnt, wenn er weiß, daß er ein Stündl neben der Thilde sitzen kann!«
»Ja, Thildele«, fiel Rosl ein, während sie die Tassen füllte, »wenn 's Zölibat einmal aufghoben wird, da hast du ein' festen Verehrer. Der Hochwürdige laßt nimmer aus.« Das sagte sie so drollig, daß alle lachten. Und Walter, der sich den Platz neben Mathild gesichert hatte, erklärte: »Fräulein, dann werd ich doch noch Pfarrer! Nur um Ihnen und Ihrem Glück die Traurede halten zu dürfen.« Mit glänzenden Augen sah er zu ihr auf. »Wer sollte das Glück verdienen, wenn nicht Sie!«
Mathild schwieg, mit heißen Wangen. Der alte Herr aber, als hätte ihm Walters Blick und Wort alle nachdenkliche Stimmung verscheucht, wurde plötzlich so gesprächig, wie er selten war. Seine gute Laune belebte das Geplauder der anderen, und Walter taute zu so übermütiger Stimmung auf, als hätte er an diesem Nachmittag allen versäumten Frohsinn seiner Jugend nachzuholen. Seine Laune hatte was Merkwürdiges. Immer wieder warf er ein paar Worte hin, von denen die andern nicht wußten, wie sie zu nehmen waren. Und sahen sie ihn verwundert an, dann lachte er seelenvergnügt. »Herr Doktor«, sagte Bertl, »mir scheint, Sie haben was auf der Pfann? Das muß was Lustiges sein. Schauts nur, wie ihm die philosophischen Äugerln glänzen!«
Walter lehnte sich vor Mathild an den Tisch. »Wirklich? Glänzen sie so ausfallend?«
Sie sah ihn an und nickte.
»Sind Sie auch neugierig auf das Warum?«
Da sprang Frau Rosl vom Sessel aus. »Herr Jegerl! Was kommt denn da für einer?«
Der merkwürdige Bruder Laertes war in den Garten getreten, mit einem Bündel wehender Zettel in der Hand. Bertl erriet gleich, was der Besuch zu bedeuten hatte. »Der kommt einladen zum Theater!«
Lachend stand er auf. »Da müssen wir hin! Alle! Papa, du mußt auch mit!«
»Um Gottes willen!« Der alte Herr streckte abwehrend die grünen Fäustlinge. »Mich laßt in Ruh! Aber wenn's euch Spaß macht, geht nur hin! Du auch, Geiß! Ein bißl Unsinn sehen und lachen drüber, das ist dir ganz gesund.«
»Freilich, Thilde!« fiel Bertl ein. »Wirst uns doch den Spaß nicht verderben! Der Doktor muß auch mit. Gelt?«
Walter schwieg. Seine frohe Laune schien erloschen.
Bruder Laertes hatte eine tiefe Verbeugung gemacht und begann – halb klang es wie Ernst und halb wie Ulk – eine schwungvolle Rede über die Heiligkeit der Kunst, über die Erziehung des Volkes zum Schönen und den opferfreudigen Edelmut verehrungswürdiger Gönner. Bertl unterbrach ihn lachend: »Geh, reden S' net so verdreht daher! Machen wir's kurz. Haben S' Karten bei Ihnen?«
»Jawohl, mein Herr!« Bruder Laertes griff stilvoll in die Brusttasche. »Erster Platz eine Mark, zweiter Platz funfzig Fenniche, dritter Platz zwanzig Fenniche. Einen letzten Platz gibt es nicht bei uns.« Bertl guckte den Mimen von der Seite an: »Na, hören S', Sie tragischer Herr Nachbar, wenn Sie's auf'm Brettl net besser machen, werden S' net berühmt! In Gotts Namen, geben S' her! Vier erste Plätz!« Er wandte sich an Walter. »Sie erlauben schon, Herr Doktor, daß ich für Sie gleich mitnimm!« Während er das Geld für die Karten aus der Börse holte, hatte Frau Rosl eine Anwandlung von Barmherzigkeit. Sie schien die Rentabilität der heiligen Kunst nicht hoch einzuschätzen und erklärte sich die interessante Blässe des schönen Kunstjünglings durch einen leeren Magen. »Kommen S' her!« sagte sie und bot dem Schauspieler ihren eigenen Sessel an. »Ein Tasserl Kaffee und ein Trumm Schinkenbrot wird Ihnen schmecken.«
Bruder Laertes trat stolz zurück. »Was denken Sie, meine Dame! Ein Künstler wie ich lebt nur von Nektar und Ambrosia!« Die Empörung flammte in seinen Augen. »Schinkenbrot!« Er blickte zum Himmel. »Vergib ihr, Apoll!«
Frau Rosl erschrak. Die anderen lachten. Bruder Laertes verteilte vier Zettel über den Tisch und nahm das Geld in Empfang, mit einem Blick schmerzvoller Verachtung, als würde ihm Feuer auf die Hand gelegt. Dann verbeugte er sich und ging. »Ein verrücktes Huhn!« sagte der Sägmüller.
Auf dem Wege zum Zauntürchen begegnete Bruder Laertes dem Pfarrer, der in zappelnder Eile den Garten betreten hatte. »Hochwürden!« rief ihm Bertl entgegen. »Wollen S' mit ins Theater?«
»Ich? Gott soll mich beschützen!« Der Pfarrer machte grüßend die Runde, und die verdrießliche Miene, die er mitgebracht hatte, heiterte sich auf, während er Mathilds Hand in der seinen hielt. Als er saß, war es sein erstes Wort: »Jetzt bin ich fertig mit der Beethovenschen Sonate. Wirst sehen, Thildele, ganz ordentlich blas ich's! Freilich, ein bisserl sehr viel Zugeständnisse hat mir der große Meister machen müssen.« Weil Frau Rosl über den kalt gewordenen Kaffee jammerte, sagte er: »Ich hab nicht früher kommen können. Mein Herr Kaplan is krank.«
»Innerebner?« fiel Walter ein. »Was fehlt ihm?«
»Recht kenn ich mich selber nicht aus. Schon am Sonntag hat er ausgeschaut, daß ich erschrocken bin. Ich hab ihm angeboten, die Christenlehr für ihn zu halten. Aber natürlich, der Herr Kaplan und seine eiserne Priesterpflicht! Da gibt's keine Zugeständnisse. Gestern hat er liegen müssen. Und wie ich ihn heut besuchen will, hat er sich eingesperrt und hat mich klopfen lassen. Mir scheint, es is ein bisserl Trutz dabei. Vielleicht auch ein bisserl Verstand. Da hab ich nichts dagegen, daß er liegenbleibt, bis der erste Theaterabend vorüber ist. Wenn er den Komödianten einen Spektakel gemacht hätt, daß die liberalen Zeitungen wieder die schönsten Artikel über Fanatismus und Hetzkaplän hätten schreiben können, das wär mir nicht angenehm gewesen. Wann spielen s' denn zum erstenmal?«
»Heut, glaub ich!« Bertl griff nach einem Zettel. »Nein, morgen! Da steht's mit Blaustift: Mittwoch, den 3. Juli.« Plötzlich brach er in Gelächter aus. »O du heiliger Strohsack! Thilde! Hast du denn schon gelesen, was sie spielen?« Er hielt ihr den Zettel hin.
Auch Mathild lachte. »Papa! Rat doch einmal, was da ausgeführt wird?«
»Kasperl auf Reisen, oder die Haberfeldtreiber, oder Wurst wider Wurst?«
»Nein, Papa! Goethes Iphigenie auf Tauris.«
Der Pfarrer schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Och du lieber Herrgott! Goethe und meine Langentaler Krautsköpf! Jetzt bin ich froh, daß mein Kaplan im Bett liegt. Der! Und eine mangelhaft bekleidete Griechin! Das hätt ein schöner Spektakel werden können.«
Der lustige Sägmüller war ganz närrisch vor Vergnügen und versprach sich von dem Theaterabend eine »großartige Hetz«. Er hätte in München als Student einmal in Binders Volkstheater den »Faust« gesehen und wäre den ganzen Abend nicht aus dem Lachen herausgekommen. Der alte Binder hätte damals den Mephisto gespielt und kein Wort seiner Rolle gewußt. Vom Parkett aus hätten ihm die Studenten die ganze Rolle souffliert und allen erdenklichen Unsinn dazu. Als Mephisto mit dem Schmuck in Gretchens Stube gekommen wäre, hätte er schon auf der Schwelle die Ohren gespitzt. »Da schreit ihm einer vom Parkett durch die hohlen Händ hinauf: Ich wittre Menschenfleisch! Das ganze Haus brüllt natürlich gleich los. Der gute Binder läßt sich nicht irrmachen, schneidet ein richtiges Teufelsgesicht, drückt die Faust auf den Magen und stöhnt: Das bittere Menschenfleisch!« Eine ähnliche »Gaudi« erwartete Bertl von der Aufführung der »Iphigenie«. In dieser lustigen Hoffnung bestärkte ihn noch der Wortlaut des Theaterzettels. Den Ausrufer einer Bude nachahmend, begann er zu lesen:
»Mittwoch, den 3. Juli, im Jahre des Heils
und im Gasthaus Zum Roten Hirschen
bei festlich beleuchtetem Hause
Große Glanz und Gala-Eröffnungsvorstellung:
Iphigenie auf Tauris
oder
Menschenopfer und Liebe
oder
Ende gut, alles gut
Grandioses Historien- Liebes und Spektakelstück
aus dem klassischen Altertum
von
weiland Seiner Exzellenz dem Weimaraner Staatsminister
Johann Wolfgang von Goethe,
gebürtig auf der berühmten Heimat der Frankfurter
Würstln,
Ritter hoher, höchster und allerhöchster Orden.
Dramatis personae:
Iphigenie, | eine mit Dampf entführte Prinzessin, das herrlichste der Griechenmädchen | Mamsell Aurelia; |
Thoas, | König von Tauris, ein edler Mann und ein blutdürstiger Herrscher über wilde Völker | Laertes; |
Orest, | ein wahnsinniger Prinz und Muttermörder, sonst aber ein liebenswürdiger Jüngling | Mamsell Mariane |
Pylades, | Freund des wahnsinnigen Prinzen, aber treu und bei gesundem Verstand | Willy Meister; |
Arkas, | wirklicher geheimer Hofrat Seiner Majestät des Königs von Tauris | Direktor Jarno. |
Schauplatz:
Ein griechischer Obstgarten vor dem Tempel
der heidnischen Götzin Diana.
Dem Stück voran geht ein
Prolog,
auf deutsch: nähere Erklärung,
im Gewande der heiteren Göttin der Kunst und
in lustigen Schnaderhüpfeln gesprochen
von
Mamsell Philine.
Anfang präzis 8 Uhr,
Ende, wenn's gar ist.«
Lachend schüttelte Bertl den Kopf. Und der Hochwürdige stupste Mathild mit dem Finger an den Arm : »No also, jetzt hast du ihn, deinen Goethe!« Ein Windstoß fuhr über den Garten hin und bauschte das Tischtuch auf. Dann war's gleich wieder still in den Lüften. Doch die Sonne war weg. Mathild schien nicht recht zu wissen, ob sie lachen oder über diese Verunglimpfung eines geliebten Kunstwerkes sich ärgern sollte. »Und die Namen der Schauspieler! Papa? Ist dir das nicht aufgefallen? Philine, Jarno, Mariane, Laertes, Aurelia, alle Namen aus dem ›Wilhelm Meister‹!«
Walter schien eine Frage an Mathild richten zu wollen. Doch er schwieg und sah mit wenig freundlichen Augen den Zettel an. Wieder sauste ein Windstoß durch den Garten. Das Rauschen in den Bäumen wollte sich nicht mehr beruhigen, und der alte Herr drängte zum Aufbruch. »Komm ich mit meiner lahmen Maschine in Wind und Regen hinein, so zappelt sich die Geiß vor Sorge das Herz aus dem Leib. Das erspar' ich ihr lieber. Auf und heim!« Man machte flinken Abschied. Bertl begleitete seine Gäste bis auf die Straße. Noch immer schwatzte er von der »fidelen Hetz«, die ihm die »klassische Komödi« in sichere Aussicht stellte. »Den wahnsinnigen Prinzen spielt doch ein Frauenzimmer. Da bin ich neugierig, wie ihr das griechische Jankerl sitzt. Schad, daß der Kaplan krank ist! Der möcht nobel die Augen rollen, wenn die fleischfarbenen Trikots aufmarschieren. Vielleicht kommt er doch! Und laßt er die Raketen seiner moralischen Empörung steigen, das gibt erst die richtige Hetz!«
»Um Gottes willen!« Der Pfarrer tat einen Blick zum Himmel.
»Also, Herr Doktor, morgen in der Komödi!« Bertl streckte Walter die Hand hin. »Und gelt, nett war's bei uns! Der Vater hat schon recht: ich kann zufrieden sein. Wenn's auch manchmal ein bisserl aufwurlt in mir, das macht nix. Ich hab ausgesorgt fürs Leben und sitz drin im Glück.«
Walter sah, daß Mathild auf der rauh geschotterten Straße mit dem Rollsessel ein beschwerliches Schieben hatte. Als er sie einholen wollte, faßte ihn der Pfarrer am Joppenzipfel: »Sie gehen doch morgen ins Theater? 's Thildele geht doch auch. Und wär das kein zureichender Grund, so tun Sie's mir zu Gefallen! Vor Ihnen, glaub ich, wird sich der Innerebner ein bisserl zruckhalten. Einstweilen hab ich freilich noch den unchristlichen Wunsch, daß er morgen noch mit Bauchweh oder sonst was Ungefährlichem das Bett hüten muß.«
»Ich glaube nicht an diese Krankheit.«
Der Pfarrer blickte betroffen auf. »Was denn?«
»Ich glaube, daß ihm der Ärger über den Strich, den ich durch seine fromme Rechnung machte, ein paar gereizte Tage verursacht.«
»Och du lieber Herrgott! Was war denn los?«
Walter erzählte, was sich im Scheidhof abgespielt hatte.
»Recht haben S' ghabt!« Dem Pfarrer brannte das Gesicht vor Erregung. »Ganz gsund is ihm das! Was ich mich schon grauft hab mit ihm wegen dieser unglückseligen Kirchenidee! Soll doch der alte Fuchs in seiner spöttischen Bauernschlauheit machen, was er will. Der ist wie ein bockbeiniges Kind, das nach der hilfreichen Medizin schlägt. Wie ich das letztemal bei ihm war, ist er so saugrob gegen mich geworden, daß ich mir gedacht hab: Nein! Jetzt kann ich mit meinem Seelentrost warten, bis er ihn brauchen wird. Und Ihnen, lieber Doktor, geb ich den Rat: seien Sie mit dem Scheidhofer ein bißl vorsichtig. Sonst machen S' eine Erfahrung, die Ihnen weh tut. Aber jetzt schauen S', daß Sie zum Thildele kommen! Ich merk eh schon, daß Sie ihr helfen möchten.«
Als Walter hinter dem Rollsessel an Mathilds Seite trat, wandte der alte Herr das Gesicht und nickte lächelnd zu den beiden hinauf. Behaglich lehnte er sich zurück, als hätte er seine Freude an der gedoppelten jungen Kraft, die sein lahmes Alter so hurtig heimwärts führte.
Die Spitzen aller Berge waren schon in kaltes Grau gewickelt. Am dichtesten hingen die Nebel um den Hohen Schein. Den suchten Walters Augen an diesem Abend nicht. Der Heimweg, Schulter an Schulter mit Mathild, hatte alle Mißlaune verscheucht, die beim Erscheinen des merkwürdigen Bruders Laertes über ihn gekommen war. Und wie munter der alte Herr wurde, als er die beiden hinter dem Rollsessel so schwatzen hörte! Drei frohe, glückliche Menschen. Da überholte sie auf der Straße zum Scheidhof ein alter Bauer, ein langer, zaundürrer Mensch mit tiefliegenden Augen in einem Gesicht, das nur aus Haut und Knochen bestand. Er trug eine Sense auf der Schulter. Ohne zu grüßen, sagte er mit zahnlosem Mund: »Ös seids aber lustig!«
»Wohin denn?« fragte der Forstmeister. »Wirst doch nicht mähen heut? Schlecht Wetter kommt.«
Der Schnitter kicherte. »Kann gut auch wieder werden. Keiner weiß was Sicheres. Alles kommt, wie's muß. Ich schlag amal nieder, was dasteht!« Vor dem Rollsessel vorüber stelzte er mit seiner blinkenden Sense zu einer blühenden Wiese und begann die Klinge zu wetzen.
Nachdenklich sah ihm der Forstmeister zu. »Wär man abergläubisch, so könnt man sich allerlei denken!« Er hob den Kopf und lauschte. »Geiß, hör doch! Was ist denn da los?«
Vom Tor des Scheidhofes klang eine zornschrillende Mädchenstimme.
»Das Walperl!« sagte Walter erschrocken. Er begann zu laufen, als gält' es ein bedrohtes Leben zu retten. Seine Sorge verwandelte sich in Gelächter, als er das Walperl beim Zauntor in ein Gefecht verwickelt sah, in dem das tapfere Mädel augenscheinlich der sieghafte Teil war. In ihrem Gegner erkannte Walter den lustigen Weißkopf, der ihm beim Niederstieg vom Hohen Schein doziert hatte, daß es das beste am Leben wäre, Geld für eine Maß Bier zu haben, namentlich im Zustand des Durstes. In diesem Zustand schien der Philosoph sich augenblicklich nicht zu befinden. Er stand wacklig auf den Beinen. Sein Rausch war für das schneidige Walperl ein hilfreicher Bundesgenosse bei dem Gefecht, das sich lustig ansah und doch einen gewissen Ernst nicht verleugnen konnte. Dem Mädel brannte vor Zorn das hübsche Gesicht, während es den Feind an der Brust gefaßt hielt und mit einem roten Regenschirm auf seinen Weißkopf losdrosch, daß es klatschte und knackste. Walter wollte sich als Friedensstifter dazwischen drängen. Walperl kreischte: »Bleiben S' davon, Herr Dokter! Für so an Krippenreiter brauch ich kein' Helfer.« Mit verdoppelten Kräften schwang sie das rote Schwert. Der Betrunkene hob zum Schutz gegen die rasselnden Hiebe den einen Arm über den Kopf, tappte mit der andern Hand nach Walters Joppe und lallte: »Sie, Herr, Ihnen muß ich ebbes sagen! 's beste auf der Welt –«
»Da hast es!« Walperl führte einen sausenden Streich. »Dös is 's beste für so ein', wie du bist!«
»Ja, Himmelsakra!« Der Weißkopf wurde wütend, und da kam es nun doch zu einer diplomatischen Intervention. Bonifaz, der mit dem Heuwagen die Straße daherfuhr, ließ sich, als er das Walperl im Gefecht erblickte, flink vom Fuder heruntergleiten, faßte den Betrunkenen am Kragen und wirbelte ihn hinter den Heuwagen. Dann fragte er ruhig: »Was hat's denn geben?«
»Unverschämt is er gwesen.«
»Hast es ihm heimzahlt?« Bonifaz betrachtete mit Stolz das brennende Gesicht des Mädels. »Recht hast ghabt!« Lachend nahm er die Zügel und lenkte den Heuwagen gegen das Tor.
»Jesses!« rief das Walperl, sprang vor die Pferde hin und packte zwei Regenschirme, die auf der Straße lagen.
»Aber Mädel?« fragte Walter. »Was war denn?«
Ohne zu antworten, nahm Walperl die zwei schwarzen Schirme unter den Arm und probierte, ob sich der rote noch aufspannen ließe. Das Gestell war verbogen, der rote Bezug von den Spangen losgerissen und zerfetzt. Mit aufatmender Genugtuung betrachtete Walperl den übel zugerichteten Schirm. »Dem hab ich's gesagt! Da kauf ich mir jetzt gern a neus Paradachl.«
Rauschend streifte das Heufuder durch den Torbogen. Da erreichte auch Mathild mit dem Rollsessel die Kampfstätte. »Aber Walperl!« Und der alte Herr brummte: »Bist du denn verrückt? Auf der Straße raufen! Schämst du dich nicht?«
»Gott bewahr! Der Bonifaz hat gsagt, daß ich recht hab.«
»Was war denn los?«
»Daheim sag ich's Ihnen schon.« Walperl legte dem alten Herrn die drei Schirme über den Schoß und trat hinter den Rollsessel. »Lassen S' mich schieben, Fräulen! Da geht's bergauf.« Während das Mädel hinter dem Sessel antauchte, grölte über die Straße her die Stimme des Betrunkenen: »Spitzbubenköchin! Diebskameradin! Wahr is's! Gstohlen hat er!«
Ein Zornblick funkelte in den Augen des Forstmeisters. Aus Mathilds Wangen war alle Farbe gewichen. Erschrocken sah ihr Walter in das erblaßte Gesicht. »Fräulein?« Ohne ein Wort zu sagen, hielt sie die verkrüppelte Hand des Vaters an ihre Brust gedrückt, während Walperl den Rollsessel so hastig über den Kiesweg hinaufschob, als bräche schon das Wetter los, das grau am Himmel stand. Sie kamen zur Veranda, und das Walperl sagte: »Herr Dokter, daß ich net vergiß, der Scheidhofer hat schon viermal ummi gschickt, ob S' net daheim sind.« Und da kam auch der Bonifaz gelaufen: »Bitt schön, Herr Dokter, kommen S' zum Bauern ummi! Ganz narret tut er nach Ihnen.«
Walter zögerte. Er wollte helfen, den alten Herrn aus dem Sessel zu heben. Mathild sagte: »Ich danke, Herr Doktor! Papa ist unsere Hand gewöhnt.« Über die Stufen der Veranda mußte man den Lahmen hinaufheben. Dann begann er sich mit stoßenden Schultern vorwärts zu schrauben, Schritt um Schritt, bis ins Haus. Als er in der Stube, in der es schon dunkelte, auf dem Sofa saß, schob er die grünen Fäustlinge über den Tisch. Er saß gebeugt, wie mit einer schweren Last auf dem Rücken. Mathild setzte sich zu ihm und wollte den Arm um seinen Hals legen. Der alte Herr entzog sich dieser Zärtlichkeit. Und während das Walperl die Lampe anzündete, sagte er müd: »Das kommt immer wieder. Da kann man seine Lebensstub ausweißen, daß kein Fleckl an der Wand ist! Was hilft's? Auf der Straße greifen sie nach dem Dreck und schmeißen ihn durch die blanken Fenster.« Er hob das Gesicht. »Walperl? Wie ist denn das zugegangen?«
»D' Schirm hab ich Ihnen entgegentragen wollen, daß der Herr net naß wird, wann's ebba regnet. Und da kommt der bsoffene Lackl daher und will zum Herrn Dokter. Im Wirtshaus hat er's derfragt, daß der Herr Dokter bei uns loschiert. Was er denn will, frag ich. Ja, meinet er, dem Herrn Dokter möcht er ebbes sagen. Was? frag ich. Was 's allerbest is auf der Welt, sagt er. Und wie ich sag, er soll machen, daß er weiterkommt, wird er unverschämt und fragt, ob's net ebba ich wissen möcht, was 's allerbest wär auf der Welt? Dös weiß ich schon, sag ich. Daß d' Leut an Anständigkeit haben, dös is 's allerbest! Da wird er grob und schimpft: mit so einer, wie ich bin, die bei so einer Herrschaft dient, da kann man sich schon ebbes verlauben. Da bin ich ihm kommen mit der Richtung!« Dem Walperl funkelten die Augen, und sie machte eine Haudbewegung, als möchte sie neuerdings das rote Paradachl schwingen.
»Ich danke dir, Walperl! Die Thilde wird dir einen neuen Regenschirm kaufen. Einen seidenen.«
»Jesusmaria!«
»Aber ein andermal laß so einen Kerl sagen, was er will. Es ist nicht der Mühe wert, daß man dreinschlägt.«
Damit schien das Walperl nicht einverstanden. »Gradso schlag ich wieder drein! Der Bonifaz hat gsagt, daß ich recht ghabt hab.« Nach diesem ausdrucksvollen Schlußwort ging sie zur Tür hinaus.
In der Stube blieb's eine Weile still. Dann atmete der alte Herr schwer auf. »Jetzt schau einmal her, Geiß! Ein Mensch, dem ich nie was zuleid getan hab. Der beschimpft mich. Warum? Das weiß ich selber nicht. Hat ein paar überflüssige Groschen im Sack, kauft sich einen Rausch, und da macht das Tier in seinem Gehirn einen Purzelbaum und wirft mir den Unrat ins Gesicht. Eigentlich ist das so dumm, daß man drüber lachen müßte. Aber wie mir da die Bosheit im kleinen mitgespielt hat, so macht es der Irrsinn des Schicksals im großen, wenn es zerschlägt, was blüht. Manchmal möchte man wirklich am Leben verzweifeln. Wenn man's nur nicht so lieb hätte! Das ist schließlich das einzige Mittel, um mit allem fertig zu werden. Liebe! Die alle Schwächen übersieht und alles Gute mit dem Brennglas des Herzens vergrößert! Solche Liebe ist die einzige Lösung aller letzten Fragen.« Er lächelte ein bißchen. »Schade, daß der Doktor nicht da ist! Das wäre was für eine philosophische Debatte.« Mit einem raschen Blick sah er in Mathilds Augen. »Lachen? Für mich allein könnt ich es. Aber der Judenfleck, den mir die Bosheit des Lebens auf den Namen genäht hat, wird auch mein Kind noch drücken.« Er nahm ihre Hand zwischen die grünen Fäustlinge. »Daß es mich nur deinetwegen quält? Hast du das noch nie gefühlt?«
»Nein, Papa! Nein, nein, nein! Weißt du nicht, was du bist für uns? Du und Mama! Daß wir eure Kinder sind und euren Namen tragen – so reich und stolz wie wir ist kein Mensch in der Welt. Weil ein paar dumme und schlechte Menschen nicht wissen, wer du bist? Soll das etwas für uns bedeuten?«
»Für euch? Ich rede nur von dir. Bertl? Der wird leicht damit fertig. Wenn ihm einer ein unbeschaffenes Wort über seinen Vater sagt, macht er's wie das Walperl und haut ihm eins hinter die Ohren. Damit ist die Sache für ihn erledigt. Aber du? Daß der halbe Schimpf, unter dem ich zu leiden habe, dein Herz nicht bedrückt, das weiß ich. Aber ein Gewicht für dein Leben wird er sein, vielleicht ein Stein auf deinem Weg zum Glück.«
Die Tränen schossen ihr in die Augen. »Wie kannst du mir nur so weh tun?«
»Einmal muß es gesagt sein. Das wird und darf nicht ausbleiben, daß ein Mann deine Hand von mir verlangt, dein Herz, deinen Leib und dein Leben. Ich weiß, was ich ihm gebe mit dir. Auch er wird es wissen und nicht fragen, ob du sonst noch was mitbekommst. Aber an die Reinheit deines Namens und an die Ehrenhaftigkeit deines Vaters muß er glauben können. Es wird am besten sein, wenn ich mir morgen den Doktor für ein Stündl vornehme und ihm alles sage. Besser, er hört es von mir, als daß es ihm ein Lump auf der Straße ins Gesicht schreit.«
Mathild wollte sprechen und brachte keinen Laut heraus. Glut und Blässe wechselten auf ihrem Gesicht, und ein hilfloser Blick war in ihren Augen.
Er zog sie an seine Seite. »Ich hab's doch schon gemerkt, daß du ihn lieb hast.«
Sie warf sich an seinen Hals und drängte sich zuckend an ihn, als möchte sie das Gesicht hineinwühlen in das Herz des Vaters. »Ich bin schlecht, Papa! Ich bin ein schlechtes Kind!«
Fest umschloß er sie. »Du? Und schlecht?«
»Weil in meinem Herzen noch etwas anderes sein kann als du! Und das ist so tief in mir, daß ich nicht mehr leben könnte ohne ihn.«
»Das soll schlecht sein?« Er lachte leis. »Das ist reine, schöne Natur. Ist das Beste, was wir Menschen haben. Laß dein Herz und Blut nur brennen! Ich hoffe, aus diesem Feuer wächst dein Glück. Und kommt es so, dann mach ich einmal, wenn es sein muß, lachend die Augen zu. Es muß so kommen. Er ist nicht blind. Und ist ein Mensch, dem ich dich von Herzen gönne. Redlich und gut. Was er dir für ein Leben schaffen kann, das weiß ich nicht. Das ist auch Nebensache. Wenn's sein muß, wirst du dich auch mit ihm durch ein Leben voll Sorgen schlagen, gelt?«
Mathild hob das Gesicht.
Da nahm er ihren Kopf zwischen die Hände. »Wenn man so einen Blick sieht, wie er jetzt in deinen Augen ist, kann man dem Leben wieder alles verzeihen. Und jetzt sei ruhig! Ich glaub an dein Glück. Glaub du nur auch! Aber den Abend heut, da bleiben wir zwei miteinander allein. Wenn ich meine Pfeife rauche, holst du die ›Iphigenie‹ und liest mir vor. Ich will auch mein Theater haben. Es wird das bessere sein als die Schauerkomödie, die morgen auf euch wartet.« Lachend streichelte er Mathilds Hand. »Und morgen red ich mit ihm.«
Sie sprach die Sorge nicht aus, die beklommen in ihr zitterte.
Er las sie in ihren Augen. »Von dir und deinem verdrehten Herzl morgen kein Wort. Das ist doch selbstverständlich. Ich erzähl ihm nur, was er wissen muß, und hoffe, daß er mir die Hand nicht weniger gläubig hinstrecken wird, als es der Sonnweber getan hat, damals, wie die hohe Regierung mich absägte – der einzige, der ehrlich zu mir hielt, während das ganze Dorf über mich klatschte.«
»Papa?« Sie sah ihm in die Augen. »Wenn er das rechte Wort so findet, so gläubig und herzlich, wie du es hoffst von ihm? Wirst du dir dann Ruh vergönnen? Und über die Dummheit der anderen lachen?«
»Ja, Kind! Das versprech ich dir.«
Sie küßte ihn mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit. »Dann wirst du lachen! Ich weiß doch, wie er denkt von dir.« Jetzt war sie plötzlich in heißem Schreck wie versteinert. Sie hatte draußen in der Veranda Walters Schritt gehört.
»Geiß? Hat dein Herzl ein schlechtes Gewissen?«
Zitternd preßte sie sich gegen die Tür, als möchte sie dem Manne, den sie liebte, den Weg über diese Schwelle verwehren.
Walter stürmte an der Tür vorüber. Und rief in die Küche: »Walperl! Die Lampe! Schnell!« Mit langen Sprüngen die Treppe hinauf. Als ihm das Mädel die Lampe brachte, saß er schon am Schreibtisch und legte einen Bogen Papier zurecht. »Wenn du mir den Tee bringst«, sagte er. »dann sei so gut und richte mir gleich auch ein bißchen was zum Mitnehmen für morgen früh! Ich steh um vier Uhr auf und geh mit dem Bonifaz fort.«
»Morgen wird schlecht Wetter.«
»Wetter hin oder her, ich schau mir die Wälder an, die zum Scheidhof gehören.«
»Da kunnten S' aber doch an guten Tag abwarten?«
»Nein! Das pressiert!« Er begann zu schreiben.
Walperl hätte die Unterhaltung gerne fortgesetzt. Weil sie sah, wie eifrig Walter bei der Arbeit war, ging sie auf den Zehen zur Tür. Da fiel ihr eine wichtige Sache ein. Das mußte gesagt werden. »Herr Dokter! Heut hab ich zwei Kirschen gesehen, die haben schon an roten Anflug.« Er hörte nicht. Seufzend verließ das Mädel die Stube und schüttelte mißbilligend den Kopf darüber, daß man eine so wichtige Naturerscheinung mit solcher Gleichgültigkeit aufnehmen konnte.
Walter schrieb und schrieb. Die dritte Seite des Bogens ging fast zu Ende, als er die Feder fortwarf und aufsprang. Er überlas das Geschriebene, nickte zufrieden vor sich hin und eilte mit dem gefalteten Bogen aus der Stube, die Treppe hinunter, ins Freie. Es war schon so dämmerig, daß Walter den Menschen nicht gleich erkannte, der mit schwerem Schritt über den Kiesweg tappte und jetzt in den Lichtschein der Stube trat.
»Mertl!«
Der Moosjäger drehte den Hut in den Händen.
»Was führt Sie heut noch zu mir?«
Mamertus stand wie ein Stock.
»Mensch! So sagen Sie doch ein Wort! Wollen Sie was von mir?«
Der Moosjäger nickte.
»Dann warten Sie einen Augenblick! Ich muß zum Scheidhofer hinüber.« Walter sprang durch die Dämmerung davon. Geduldig wartete der Moosjäger, immer auf der gleichen Stelle. Es dauerte lang, bis Walter zurückkehrte. »So, Mertl! Kommen Sie mit mir!«
Droben in der Stube war auf dem Tisch der Tee gerichtet, und die Lampe stand dabei. Walter setzte sich auf das Sofa und füllte die Tasse. »Nehmen Sie einen Sessel, Mertl! Und trinken Sie die Schale Tee da! Hier ist Brot und Fleisch.« Der Moosjäger blieb stehen. »So kommen Sie doch und –« Walter sprang erschrocken auf, als er bei der Lampenhelle einen Blick auf das Gesicht des Mamertus Troll geworfen hatte. »Mertl! Was ist mit Ihnen?«
Dem Moosjäger stand der Schweiß mit glitzernden Tropfen auf dem erschöpften Gesicht, seine Augen waren weit aufgerissen, und die breite Brust arbeitete – das Bild eines Menschen, der sein Urteil erwartet: Tod oder Leben!
»So reden Sie doch! Ist ein Unglück geschehen?«
»An Unglück?« Das Gesicht des Moosjägers verzog sich, als sollte das ein Lachen werden. »Müssen wir halt abwarten, wie sich die Sach auswachst. Kunnt gradso a Glück sein. Und –« Mertl schluckte. »Jetzt tät ich halt an Anliegen haben.«
»An mich?«
»Wen hab ich denn sonst? An andrer tät mich aussi schmeißen.«
»Also? Was wollen Sie?«
»Sie fragen wie gschmirbt. Jetzt werden S' aber gleich schön derschrecken!« Dem Mamertus Troll wurden die Augen noch größer. »Dreihundert Mark sollen S' mir leihen.«
Walter zog die Brauen zusammen.
»Gelt ja?« Ganz kleinlaut wurde der Moosjäger. »Jetzt is der Schrecken da! Dreihundert Mark! Is a Haufen Geld! Hin und her gerechnet hab ich die ganze Nacht. Billiger kann ich's net machen.«
»Wozu brauchen Sie das Geld?«
Mertl beugte das Gesicht. »Dös kann ich net sagen.«
»Warum nicht?«
»Weil –« Es beutelte dem Moosjäger den Kopf, als hätte er einen Krampf im Nacken. »Sö kunnten mir abraten. Aber jetzt tu ich's amal!« Seine Stimme wuchs zu gewalttätigem Eigensinn. »Ich tu's! Und ich tu's!« Mertl erschrak, als hätte ihm ein Gedanke gesagt, daß hier nicht der Platz wäre für solch einen Ton. »Herr Dokter!« Seine Augen bettelten. »Ich bitt Ihnen gottstausendmal, geben S' mir dös Geld! Bei Herrgott und Teufel –« Er hob die Faust, als wäre das ein Eid, viel kräftiger als der übliche Schwur mit den drei gespreizten Fingern. »Ich zahl's Ihnen wieder zruck, und wann ich mir bei der Arbeit d' Nägel abkratzen müßt.« Langsam ließ er den Arm sinken und tat einen mühseligen Atemzug. »Kunnt sein, daß ich Ihnen den ganzen Schmarren morgen in der Fruh schon wieder zruckbring! Wann's net mag, mag's halt net.«
»Sie sprechen in Andeutungen, die ich nicht verstehe. Daß ich an Ihre Ehrlichkeit glaube, das wissen Sie. Aber dreihundert Mark, das ist ein Betrag, bei dem man sich das Ja überlegen muß. Bevor ich Ihnen Antwort gebe, müssen Sie offen mit mir sprechen. Wozu brauchen Sie das Geld?«
Dem Moosjäger kam wieder jenes Beuteln über den Nacken. »Ich bring's net aussi!«
»Wenn Sie kein Vertrauen zu mir haben, wie soll ich Ihnen vertrauen? Es tut mir leid. Mertl! Das Geld kann ich Ihnen nicht geben.«
Einer ist über das Moor gegangen und hat sich gedacht: Es wird mich schon tragen! Plötzlich bricht alles unter ihm ein, immer tiefer sinkt er, wird immer kleiner. – So schrumpfte der lange Mensch zusammen. »Halbert hab ich mir's eh schon denkt. Aber wie gröber 's Wetter is, wie lieber glaubst an d' Sonn!« Seine Stimme war völlig verändert. »In Gotts Namen! Schon viel, was schön hätt sein können, hat z'Grund gehn müssen. Kommt's auf dös bißl in mir drin auch nimmer an! – Dreihundert Mark! Ich kann's Ihnen net verdenken. Und tragen S' mir halt nix nach! Pfüe Gott!« Den Hut zerknüllend, wandte er sich langsam zur Tür, das Gesicht von einem Zucken überronnen, in den Augen einen Blick der Trauer.
Da streckte Walter erschrocken die Hände. »Moosjäger! Bleiben Sie!« Er rannte zum Schreibtisch und riß eine Lade auf. »Ich will nichts wissen. Das Geld sollen Sie haben!« Mit drei Hundertmarkscheinen kam er zum Tisch und legte die Noten vor die Lampe hin. »Nehmen Sie!«
Der Moosjäger packte die Scheine, wie ein Dieb zugreift, wenn er Schritte hört. Mit einem Lachen, das nichts Menschliches hatte, eher dem Gebell eines hungernden Raubtiers ähnelte, sprang er zur Tür. Da besann er sich. »Jesses! An Schuldschein muß ich schreiben!«
»Nein, Mertl! Gehen Sie nur!«
Ohne Gruß, ohne Dank, ohne ein Wort zu sagen, rannte Mamertus Troll aus der Stube. Drunten in der dunklen Veranda nahm er die drei Banknoten zwischen die Zähne. Auf dem Tische nestelte er mit zitternden Händen sein Taschentuch auseinander. Die Scheine faltete er ganz klein zusammen und drückte sie in das Tuch, an das er einen Hals hindrehte wie an einem Tabaksbeutel. Während er die Zipfel übereinanderknüpfte, klang aus dem offenen Fenster die Stimme Mathilds, die dem Vater vorlas:
»Du hast Wolken, gnädige Retterin, Einzuhüllen unschuldig Verfolgte, Und auf Winden dem ehernen Geschick sie Aus den Armen, über das Meer, Über der Erde weiteste Strecken Und wohin es dir gut dünkt zu tragen. Weise bist du und siehest das Künftige; Nicht vorüber ist dir das Vergangene, Und dein Blick ruht über den Deinen, Wie dein Licht, das Leben der Nächte, Über der Erde ruhet und waltet.« |
Der Moosjäger hörte nicht. Was war ihm Goethe? Er hätte nicht aufgehorcht, auch wenn man da drinnen in der Stube das packendste Kapitel aus dem »Schinderhannes« oder dem »Bayrischen Hiesel« gelesen hätte. Er dachte jetzt nur an eines: die Zipfel des Tuches fest zu binden, jedes Zipfelpaar mit drei Knöpfen übereinander. Seinen Taschen traute er nicht. Auch das Versteck unter dem Hemd, obwohl die Hose einen festen Bund hatte, war ihm nicht geheuer. Schließlich nahm er den Tuchknäuel in die linke Faust, und die rechte hielt er bereit, um einen, der ihn etwa anpacken möchte, gleich niederschlagen zu können.
»So! Jetzt bin ich gstellt!«
Er schritt hinaus in die finstere Nacht, in das feine Geriesel, mit dem der Regen begonnen hatte. Aus dem Fenster klang Mathilds Stimme, in leiser Erregung zitternd:
»Die Unsterblichen lieben der Menschen Weit verbreitete gute Geschlechter, Und sie fristen das flüchtige Leben Gerne dem Sterblichen, wollen ihm gerne Ihres eigenen, ewigen Himmels Mitgenießendes fröhliches Anschaun Eine Weile gönnen und lassen.« |